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Antwort auf einen ZEIT-Artikel 2021

btr. DIE ZEIT Nr. 12 vom 18.3.2021 - Grundsätzliches zum Artikel „Echtzeit! Langsamkeit! Aura!“/ Frau Lemke-Matwey (DIE ZEIT) im Gespräch mit dem Bariton Matthias Goerne und dem Intendanten der Staatsoper Berlin, Matthias Schulz || Integral-Art-Kunstaktion 2021/3

Sehr geehrte Frau Lemke-Matwey, sehr geehrter Herr Goerne, sehr geehrter Herr Schulz,

vielen Dank, Frau Lemke-Matwey, für Ihre bedenkenswerten Fragen/Einwände in diesem Gespräch! Bevor ich mir dazu einige weitere Anmerkungen erlaube, möchte ich als Kulturphilosoph/Komponist im Hinblick auf Moderne und Anthropozän zunächst zwei wichtige Differenzierungen vornehmen, die in diesem Gespräch zu kurz kamen: a) zwischen Kultur und Kunst; b) zwischen Interpretations- und Kreationskünsten.

a) Was Kultur angeht, so bezeichne ich sie in meinen Schriften als „Werte- und Intelligenzübertragungssystem“ (wobei es immer neuer gesellschaftlicher Debatten darüber bedarf, was Werte und Intelligenz im Kern bedeuten). Die Künste, die bekanntermaßen höchst unterschiedliche Gestalt annehmen können, sehe ich dagegen als „Freiheits- und Intelligenz-Energien“. Intelligenz - aus dem konkreten rationalen-emotionalen Wechselspiel unserer Gehirnregionen erwachsend - bedeutet, sich der Aufgabe zu stellen, sowohl als Individuen als auch als Menschheit nicht „zu dumm zum Überleben“ zu sein. Intelligenz heißt, Zusammenhänge zu erkennen und angemessen mitzugestalten. In diesem geistigen Bereich haben auch Kultur und Künste ihren Platz. So gesehen geht es - wir Menschen sind Teilhaber des großen organismischen Selbstorganisationssystems, das Leben heißt! - sowohl mit Kultur als auch mit den Künsten um zentrale Fragen des Menschseins und des Weiterbestehens moderner Demokratie.

b) Dafür ist die Unterscheidung zwischen Interpretationskünsten und Kreationskünsten von Bedeutung. Der „Arbeitsauftrag“ der Interpretationskünste liegt in einer angemessenen Interpretation der Kreationskünste, zu denen im Bereich der Musik an erster Stelle Kompositionen gehören. Einer der wesentlichen „Arbeitsaufträge“ von Kreationskünsten im Bereich der Musik besteht in zeitgemäßer musikalischer Vergegenwärtigung zukunftstragfähigen Geistes. Denn der Geist – ob positiv oder negativ – geht der Wirklichkeit voran. Angesichts des ungeheuerlichen Katastrophenpotentials von Moderne/Anthropozän (von Corona-Krise bis Klimakrise und modernem Totalitarismus) liegt darin eine enorm große Aufgabenstellung. Die Musik der Vergangenheit kann diese Aufgabe keinesfalls hinreichend lösen. Insofern benötigten gerade die E-Komponisten der Gegenwart jegliche Solidarität und Unterstützung. Doch sind sie derzeit quasi das allerletzte Rad am Wagen dessen, was gegenwärtig „Kultur“ genannt wird.

Der Grund dafür dürfte nicht zuletzt darin liegen, dass die gegenwärtige Kultur noch immer zutiefst von kulturellen Strukturen, Methoden und Intentionen geprägt ist, die insbesonders aus Kolonialismus, Nationalsozialismus und Realsozialismus herrühren. Während dieser Totalitarismen wurden Kultur und Künste mit der Verschleierung, Vertuschung, Verhübschung großer Menschheitsverbrechen „beauftragt“ und missbraucht. Entsprechende Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Traditionalismen, „Virtuosen- und Interpretenhimmel“ (K.W.Streubel) sowie die übergroße Dominanz der Ablenkungs- und Unterhaltungsindustrie sind noch immer an der Tagesordnung. D.h., die gegenwärtige Kultur hat – sowohl inhaltlich als auch strukturell - ein ernsthaftes Problem. Denn in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit ist sie weder wirklich willens noch in der Lage, zeitgenössische kreationskünstlerische Antwortsuchen auf die großen Menschheitsfragen zu evozieren und gesellschaftlich angemessen zu kommunizieren. Ist diese Kultur zu dement, zu eitel, zu totalitarismus-affin? Ein „Schutzraum“ für Missbrauch bzw. rückständiges Denken? Wäre es dann nicht nahezu zwangsläufig und sogar begrüßenswert, wenn niemand mehr für sie „opponiert“ und ihr (wie den Kirchen) die Menschen weglaufen?

Sehr geehrter Herr Schulz, wir haben Sie und Ihren Vorgänger mehrfach kontaktiert* bzgl. der dringend notwendigen angemessenen Aufarbeitung der Totalitarismus-Verstrickungen Ihres Hauses. Sie engagierten dafür u.a. ausgerechnet die Nachkommen der Weimarer DDR-Musikforschung (die sich in alter Manier nachweislich der Verschleierung, Vertuschung und Verhübschung des totalitären SED-Kulturalismus bediente und auch die kulturelle Eliminierung z.B. meines Schaffens betrieb). So war es wohl kein Wunder, dass auch für Aufführungen meiner kompositorischen Werke in den Programmen Ihres Hauses „natürlich“ kein Platz war. Zumal ich 2014 der hohen Ehrung von Hans-Pischner (der ein ehem. Nazi-Musiker, dann einer der höchstrangigen SED-Kulturfunktionäre und ehem. Staatsopern-Intendant war und die Freiheit der Kunst mit Füßen trat) widersprochen hatte, schließt sich für Sie eine Zusammenarbeit offenbar von vornherein aus. Ihr diesbzgl. umgängliches Schreiben ändert daran nichts.

Sehr geehrter Herr Goerne, Sie möchte ich fragen, ob sich Ihre (und die von Ihnen eingeforderte) gesellschaftliche Solidarität für Kunst und Kultur auch auf zeitgenössische KomponistInnen erstreckt. Leider hatten Sie es nicht nötig, auf die mehrfache Anfrage* bzgl. meines Reiner-Kunze-Zyklus (UA 2009 in Kooperation mit Deutschlandfunk im KMS der Berliner Philharmonie) zu antworten. Wir hatten versucht, Sie zu kontaktieren, weil wir Ihre Interpretationskunst hoch zu schätzen wissen. Wahrscheinlich werden Sie als Weimarer einen ehemals Weimarer Komponisten wie mich nicht kennen. Und möglicherweise interessiert Sie meine Musik ebenso wenig wie hochkarätige Kunst von anderen ehemals ddr-oppositionellen Künstlern - z.B. Reiner Kunze, Jürgen Fuchs oder des großen Malerpoeten Kurt W. Streubel, der nach dem 2.Weltkrieg unmittelbar an den Ideen des Weimarer Bauhauses anknüpfte. Mit seiner Kunst war Streubel in Thüringen einst der Auslöser der "Formalismusdebatte" und wurde daher in der DDR jahrzehntelang als "Formalist" verfemt und Stasi-Zersetzungsmaßnahmen ausgesetzt. Was das an – dauerhaft unbezahltem - künstlerischem Idealismus, an Mut und Durchhaltevermögen bedeutet hat! Heute ist seine Kunst noch immer kulturell eliminiert – auch dies ist ein unglaubliches Negativ-Indiz für den Zustand unserer Kultur. Sie stellten die Frage „Was ist uns Kultur wirklich wert?“ Darf ich Sie zurückfragen, was Ihnen Kultur wirklich wert ist (außer den - auch von mir verehrten - großen Komponisten der Vergangenheit sowie dem damit verbundenen „Virtuosen- und Interpretenhimmel“)?

Ja: Die demokratische Gesellschaft braucht ein „Aufstehen“ und „ein starkes gesamtgesellschaftliches Bekenntnis“ zu Kultur und zur Freiheit der Kunst. Denn Kultur konfiguriert die Gemüter und ist eine der wesentlichen geistigen Einflusssphären, die der menschlichen Gesellschaft zur Verfügung stehen. Als aufgeklärt-modernes „Werte- und Intelligenzübertragungssystem“ kann sie sogar als eine grundlegende Bedingung von Demokratie verstanden werden („Kultur um der Freiheit willen“ - Christian Meier). Genau deshalb kann sie aber keineswegs länger vor allem die Kunst vergangener Jahrhunderte und die Unterhaltungsindustrie meinen, denn dies würde früher oder später das Ende von Demokratie bedeuten. Und die gegenwärtige Kultur trägt hinreichend (bisher weitgehend unterdrückte) kreative Intelligenz mit sich, um auch mit Corona-Krisen umgehen zu können und große Katastrophen vielleicht sogar von vornherein zu vermeiden.

Während meine Kultur-Konzeption Interpretationskünste grundsätzlich mitdenkt, werden in Ihrer Kultur-Konzeption Kreationskünste wie die von Streubel, Jürgen Fuchs, Reiner Kunze oder auch meiner Wenigkeit offenbar weitestgehend ausgeblendet. Diese „versuchte kulturelle Eliminierung“ kann auf Dauer nicht gut gehen. „Die Pandemie gilt gemeinhin als Brandbeschleuniger“ sagten Sie, Frau Lemke-Matwey, und stellten die Frage: „Nimmt durch Corona auch die latente Legitimations- und Sinnkrise der Kultur stärker Fahrt auf?“

Ich selbst hoffe, dass diese „Sinnkrise der Kultur“ zunehmend als solche erkannt und damit begonnen wird, sie tatsächlich zu lösen, anstatt in ein „weiter und wieder so“ zu verfallen. Dafür habe ich seit Jahren eine Reihe von Überlegungen (bis hin zu integral-games.net) angestellt. Zumal ein „weiter so“ verheerend wäre, kommt es auch auf Sie, sehr geehrte Herren, und Ihre Institutionen an: Ob Sie dazu beitragen wollen, diese Institutionen angesichts von Moderne und Anthropozän so aufzustellen, dass sie Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit zu kommunizieren vermögen und somit Bestand haben, oder ob sie früher oder später in einem neuen Totalitarismus inklusive digitaler Totalüberwachung landen (s.a. China, Ungarn, Polen, Russland …). Sieht man mal von Corona ab, dürften Sie sich in einem neuen Totalitarismus möglicherweise „weiter so wie bisher“ verhalten … Wollen Sie das wirklich? Sollten Sie stattdessen die Corona-Krise nicht nutzen, um sich zu besinnen und auch persönlich den wirklich großen Fragen unserer Kultur und ihrer Zukunft zu stellen und Ihre eminenten persönlichen Begabungen dafür einzusetzen?

In diesem Sinne mit freundlichen Grüßen,

H.Johannes Wallmann

integrale-moderne.de

D-13158 Berlin, am 23.3. 2021

Tel.: 030-20004365


*Bei Interesse senden wir Ihnen eine Zusammenstellung dieser Dokumente gern zu.
Zu Hans Pischner - Offener Brief von H.Johannes Wallmann 2014: https://www.integralart.de/content/integrale-moderne-buch/offener-brief-an-d.-barenboim?searchterm=pischner

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