OFFENER BRIEF zum Kulturforum der Sozialdemokratie 2001
--- KUNSTAKTION INTEGRAL-ART 2001 ---
H. Johannes Wallmann, 17.5. 2001
An den Vorsitzenden des Kulturforums der Sozialdemokratie
Herrn Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse
und an den stellv. Vorsitzenden des Kulturforums der Sozialdemokratie
Herrn Staatsminister Julian Nida-Rümelin
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, sehr geehrter Herr Staatsminister,
mit
Interesse verfolge ich seit einiger Zeit, dass die SPD sich verstärkt
der kulturellen Fragestellung annimmt. Aus diesem Grunde bin ich am 15.
Mai ins Willy-Brandt-Haus gekommen, um Ihren Disput zu hören. Da
entgegen der Ankündigung die Fragestellung kultureller Innovation nicht
nur unangesprochen blieb, sondern auch bei Ihren Erörterungen zu
kultureller Identität keinerlei Rolle spielte, sehe ich mich nun
veranlaßt, diesen offenen Brief zu schreiben. Ich setze mich mit ihm
dafür ein, kulturelle Identität keinesfalls vor allem "konservativ",
sondern durch schlüssige Beantwortungen der Fragen woher kommen wir, wer sind wir, wohin gehen wir zu
definieren. Denn kulturelle Identität – wie Sie sich einig zu sein
schienen - allein an der Vergangenheit festmachen zu wollen, würde
bedeuten, das wohin gehen wir und damit Zukunft zu
unterschlagen. Um zukunftsfähig zu sein und nicht "als untauglich
ausgelöscht zu werden" (Buckminster Fuller), sollte kulturelle Identität
nicht nur "Senkblei" (wie Sie es nannten) sein, sondern mindestens
ebenso befähigen, Segel zu setzen.
Da die Bildung kultureller
Identität und kulturellen Bewusstseins als ein dynamischer Prozess zu
sehen ist, der entscheidend von der jeweiligen Qualität der kulturellen
Strukturen abhängt, ist es unabdingbar, dass kulturelle Strukturen (als
Hardware zu den Softwares Kunst und Wissenschaft) innovationsoffen sind.
Kulturelle Strukturen, die nicht innovationsoffen sind und nicht darauf
hinwirken, Kultur zu einem effektiv funktionierenden universellen
Intelligenzübertragungs- und Wertekommunikationssystem werden zu
lassen, werden dem Sturm der Entwicklungen auf Dauer nicht standhalten
und den unterschiedlichsten Partikularinteressen und Eitelkeiten zum
Opfer fallen. Sie verhindern sowohl die Entwicklung einer
zukunftsfähigen kulturellen Identität, wie auch die Entwicklung von
integraler Intelligenz, in der sich Rationales und Emotionales
synergetisch potenzieren. Sie betrügen die Gesellschaft damit um ihren
eigentlichen Reichtum, der - als organismisch verträgliche
Ressourcennutzung - aus dem Zusammenwirken von kulturellem und
technologischem Know how resultiert. Und sie verhindern, dass der Mensch
sich als verantwortlich steuernder Teil des regenerativ- organismischen
Selbstorganisationssystems, dem er angehört, begreifen kann.
Wenn
die Gesellschaft nicht weiter in sich gegenseitig zerstörende
Partikularinteressen zerfallen soll, bedarf es eines entsprechenden
kulturellen Bewusstseins, das sich als Verknüpfungsleistung der
unterschiedlichen Daseinsebenen des Menschseins erweist und in der
Integration von Tradition und Innovation, von Individuellem, Soziellem
und Universellem über das Regionale bis hin zum Kosmopolitischen reicht.
Da die großen Probleme globaler Natur sind, muss es nicht zuletzt um
die Ausprägung eines transkulturellen Bewusstseins gehen, wenn dieses
auch gegenwärtig für viele noch als reine Utopie erscheinen mag. Doch um
die kulturellen Probleme zu lösen, reicht weder Ichstärke noch
Kollektivbewusstsein aus; es bedarf struktureller Voraussetzungen zur
Bildung und Nutzung kulturell und künstlerisch zukunftsfähigen Know
hows.
In Deutschland wurden in den vergangenen Jahrzehnten viele
Milliarden für die Ausbildung der "kulturellen Intelligenz" ausgegeben.
Doch es wurde unterlassen, kulturelle Strukturen zu entwickeln, um die
Innovationskraft dieses Potentials gesellschaftlich relevant zu nutzen.
So verbreiten auch die öffentlich-rechtlichen Medien überwiegend
Kulturkonservatismus oder Unterhaltungs-Oberflächlichkeit, anstatt
Sprachrohre einer - auf geistig-kultureller Qualität aufbauenden -
Demokratie zu sein. Anstatt ihrer kulturellen Verantwortung für die
Zukunft gerecht zu werden und bewusst Alternativen zu den privaten
Sendeanstalten zu entwickeln (z.B. auf interessant aufbereitete Weise
kulturell innovatives Denken, Empfinden und Gestalten zu kommunizieren),
sehen sie sich allzu oft veranlasst, auf das Pferd "postmodern
kapitalistischer Konsumkultur" (wie es in der Einladung zu Ihrem Disput
hiess) aufzuspringen. Anstatt das Publikum voranzubringen, rennen sie
ihm meistens hinterher. Eine fatale Entwicklung für die Demokratie, die
leider immer wieder mit wohlfeilem Angebotsverhalten verwechselt wird,
anstatt sie als geduldige gemeinsame Suche nach den richtigen Lösungen
für ein langfristiges Überleben, für eine gute Lebensqualität und für
das umfassende integrale Intelligenterwerden der Menschheit zu
vermitteln.
Neben den kommerziellen dominieren die
traditionellen Kulturstrukturen durch die Finanzknappheit derart, dass
sie inzwischen auch den Großteil zusätzlicher Finanzierungsmöglichkeiten
(wie hier in Berlin z.B. der Lottomittel) schlucken. Das, was sich
nicht in die traditionellen Schemata der Kulturinstitutionen einordnen
lässt, hat kaum eine wirkliche Chance (wer hat schon die Millionen wie
die Christos im Rücken). Die Mittel z.B. für die »freien Gruppen«, die
ohnedies lächerlich gering sind, werden nicht nur ständig immer weiter
gekürzt, sondern auch so kurzfristig gewährt, dass eine seriöse
schöpferisch-künstlerische Arbeit kaum wirklich möglich ist. Zur
Finanzierung und Realisierung von grossformatigen avancierten
künstlerischen Projekten, die über die traditionellen Institutionen
hinausgehen, gibt es überhaupt keine strukturelle Grundlagen. Auch für
die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Künstlern oder gar
zwischen Künstlern und Natur- und Geisteswissenschaftlern sind keinerlei
Strukturen vorhanden. (Jeder, der sich mit der Sache befasst, weiss
jedoch, wie notwendig einerseits und hochkomplex andererseits
interdisziplinäres Denken und Arbeiten ist und dass es ohne
entsprechende strukturelle Grundlagen nicht im ausreichenden Maße
geleistet, geschweige denn kulturell innovativ wirksam werden kann). Es
fehlt gegenwärtig jegliche strukturelle Grundlage, avanciertes
künstlerisches Schaffen dauerhaft finanziell abzusichern. Aufwendige
Antragsstellungen, die in den allermeisten Fällen negativ beantwortet
werden, sowie ein gewaltiger Organisationsaufwand, um nur das
Allergeringste zu erreichen, verhindern den effektiven Einsatz von
avanciertem künstlerischen Know how. Zahlreiche Künstler und
Geisteswissenschaftler sind an den Rändern oder auf den Abstellhalden
der Gesellschaft gelandet und auf Zahlungen des Arbeits- oder
Sozialamtes angewiesen, um ihrem Beruf überhaupt treu bleiben zu können.
Viele haben sich aus Frustration ganz zurückgezogen. Wieso lässt eine
Gesellschaft dieses Potential derart verkümmern? Wie geht eine
Gesellschaft mit jenen Menschen um, von denen sie – wie die SPD es jetzt
endlich glücklicherweise thematisiert - die Ideen und Innovationsschübe
für die Zukunft erwarten könnte? Der gegenwärtige Umgang ist ein
Ressourcen- und Motivationsverschleiss ohnegleichen.
Ein
kultureller Innovationsschub, nach dem Sie in der Einladung zu Ihrem
Disput fragten, kann auf solcher Basis nicht entstehen. Und wenn
kulturelle Identität mehr sein soll als nur der Neuaufguss von nicht
mehr zutreffenden Prämissen der Vergangenheit oder deren modern
aufgemachten Klischees, wenn sie eine schlüssige Beantwortung der Frage
des wohin gehen wir sein soll, wenn Demokratie nicht an die Interessen
"postmoderner Konsumkultur" und deren Medienmogule ausverkauft werden
soll, dann besteht dringender Handlungsbedarf. Denn Kultur konfiguriert
die Gemüter. Ihre Strukturen bestimmen über die geistig-kulturelle
Qualität, das Denken und Empfinden und damit über die Zukunft einer
Gesellschaft.
Ein Innovationsschub setzt
angemessene Rahmenbedingungen voraus, für schöpferisch-künstlerische
Tätigkeit, für die öffentlich-rechtlichen Medien, oder auch z.B. für die
GEMA, damit künstlerisch-innovative Entwicklungen gefördert werden,
anstatt Künstler – wie die GEMA es mit ihren Abrechnungskategorien tut –
finanziell zu zwingen, sich auf traditionelle Formen auszurichten. Es
braucht interdisziplinärer Denkfabriken sowie kultureller/künstlerischer
Projektrealisierungszentren, es braucht neuer "Bauhäuser" (ich meine
hiermit nicht Stil und Methoden, sondern die kulturelle Erneuerungsidee
und das integrale Zusammenwirken der Künste), die aus den Fehlern der
Vergangenheit Schlüsse ziehen. Und es braucht nicht zuletzt der
Neufassung der kulturellen Aufgabenstellungen als Intelligenz- und
Wertekommunikation. Erst unter angemessenen Rahmenbedingungen wird sich
die kulturell-innovative Intelligenz wieder sammeln, ihre Sprache
zurückgewinnen und ihr Know how effektiv in die Gesellschaft einbringen
können. Es wird dann z.B. auch gelingen, für eine grosse Öffentlichkeit
neue sensible/intelligible Formen avancierter - z.B. landschafts- und
architekturbezogener - Kunst zu entwickeln und diese gesellschaftlich
relevant zu kommunizieren. (Dafür, dass solch Projekte auch vor einem in
Tausenden und Millionen zählenden Publikum bestehen können, trat ich
mit meinen Projekten in den neunziger Jahren präzedenzfallartig den
Beweis an. Dokumentationen davon - z.B. auf Video und CD - habe ich
wiederholt bei Vorträgen vorgestellt.)
Es gilt zu erkennen, dass
eine innovative geistig-kulturelle Qualität, die einem ausgewogenen
Verhältnis von Tradition und Innovation entspringt, der
Intelligenzgenerator einer Gesellschaft ist. Dieser Intelligenzgenerator
und die Entwicklung und Sicherung von Demokratie bedingen sich
gegenseitig. Kommt der eine nicht in Schwung, geht die andere
allmählich zugrunde. (Hitler hat sehr wohl gewusst, weshalb er die
Bücherverbrennungen und die Ausstellungen "Entarteter" Kunst und Musik
veranstaltete. Er gab damit der De-Sensibilisierung und Brutalisierung
von Millionen Deutschen jenen "kulturellen" Ausdruck, der in Auschwitz
seinen furchtbaren Gipfel erreichte.) Auch wenn heute avancierte Kunst
in gewissem Maß gefördert wird, so ist sie aus der Stigmatisierung (mit
der sie sich vielleicht auch schon selbst zu sehr abgefunden hat) nicht
wirklich heraus. Hier gilt es strukturell anzusetzen. Denn
rückwärtsgewandte Kulturstrukturen, das Versinken in Konsum- und
Unterhaltungs-Oberflächlichkeit, in Fussballkultur und
Nationalkonservativismus leisten dem Ausverkauf der Demokratie und einem
erneuten Voranschleichen rechtsradikaler Geisteshaltungen einen
eminenten Vorschub. Das sollte niemals übersehen werden. Zugleich gilt
es sich bewusst zu werden, dass es nur mit einer innovationsoffenen
geistig-kulturellen Qualität gelingen wird, den technologischen
Fortschritt zu einem humanen Fortschritt werden zu lassen.
Sehr
geehrter Herr Bundestagspräsident, sehr geehrter Herr Staatsminister,
ich frage Sie daher, was Sie in Ihren politischen Ämtern und als
Verantwortliche des Kulturforums der Sozialdemokratie konkret bewirken
wollen, können und werden, um die gegenwärtige Situation so zu ändern,
dass ein kultureller Innovationsschub ausgelöst werden kann und der
kulturelle Intelligenzgenerator tatsächlich in Schwung kommt.
Mit freundlichen Grüssen
Johannes Wallmann
www.integral-art.de