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Wozu Musik? (Stadt und Landschaft als Klangraum, Bozen 2001)

Vortrag anläßlich des Symposiums „Wozu Musik“ am 9. 6. 2001 in Bozen

Johannes Wallmann

Stadt und Landschaft als Klangraum
Vortrag anläßlich des Symposiums „Wozu Musik“ am 9. 6. 2001 in Bozen

Wozu Musik? Obwohl Musik generell als ein multifunktionaler dynamischer Prozess zu betrachten ist, möchte ich die Frage zunächst eingrenzen: wozu Neue Musik? Als Komponist Neuer Musik musste ich mir diese Frage schon frühzeitig vorlegen. Nachdem ich mit meiner Musik auf allen wichtigen Neue-Musik-Festivals, die es in der ehemaligen DDR gab - aus der ich komme und aus der ich 1988 raus bin, weil ich andere musikalische Wege einschlagen wollte – gewesen war, schien mir diese Frage umso dringlicher. Ich musste mir diese Frage vorlegen, weil ich damals schon meinte, dass Neue Musik immer auch ein Weiterdenken, ein Kontinuum-Bilden zwischen Vergangenem und Zukünftigen sein sollte. Denn das, was als musikalische Tradition und das, was als musikalische Innovation bezeichnet werden könnte, gehört im Grunde zusammen. Das eine ist Erinnerung/Vergewisserung, das andere ist Neuproduktion akustischer Intelligenzkommunikation. Intelligenzkommunikation und Intelligenzbildung sind absolut interessante Themen. Wenn ich Ihnen diese hier auch nicht differenziert auseinandernehmen kann und will, so will ich doch versuchen, die Frage „wozu Neue Musik“ konzeptionell zu beantworten, zumal in ihr auch die Frage liegt, was avancierte Kunst innerhalb einer Gesellschaft überhaupt zu leisten vermag.

Anfang bis Mitte der achtziger Jahre entwickelte ich das Grundkonzept meines kompositorischen Arbeitens, das ich als "Integral-Art" bezeichne. In diesem Begriff liegt ein wichtiger Aspekt: Kunst im Allgemeinen und Musik im Speziellen - können etwas leisten, was kein anderes Medium so leisten kann: die funktionale Vereinigung und gegenseitige Potenzierung der sogenannten linken und der sogenannten rechten Gehirnhemisphäre. Sie wissen vielleicht, dass die Gehirnphysiologen immer wieder von diesen Hemisphären gesprochen haben (sie sind sich nicht einig, was rechts, was links zu orten ist; aber das steht hier nicht zur Diskussion). Mit Kunst und Musik – so meine These – geht es um die Verbindung und gegenseitige Potenzierung der mehr emotionalen und der mehr rationalen, der mehr analytischen und der mehr synthesischen Bereiche unserer Geistestätigkeit (die nicht für sich allein steht, sondern unsere sinnlichen und körperlichen Erfahrungen und Erweiterungen sehr weitgehend mitbestimmt). Die Wahrnehmung erlaubt es, sowohl von der analytischen, als auch von der synthesichen Seite her einzusteigen. Und beide Seiten – die analytische und die synthesische – könne sich gerade in der Musik auf phänomenale Weise gegenseitig ergänzen. Das Analytische und Synthesische, das Rationale und das Emotionale, das Körperliche und das Geistige können erfahren werden als die unterschiedlichen Aspekte einer Mitte, eines Gesamtzusammenhanges,  eines Zusammenspiels unterschiedlicher Teile zu einem Ganzen. Und genau das meint der Begriff „integral“.

Was nun könnten konkrete und allgemeine Ideen sein, Gesamtzusammenhang und das Zusammenspiel unterschiedliche Teile zu einem Ganzen musikalisch wahrnehmbar werden zu lassen? Solcherart Ideen habe ich mit "Integral-Art" in sieben Domänen formuliert, die ich Ihnen folgend kurz skizzieren möchte.
Domäne I - "Musik im Raum" - meint Kompositionen, die für Räume gemacht sind, wo der Hörende sich inmitten von Musik befindet - was ein ganz wichtiges Moment meines musikalischen Denkens ist. Es geht damit nicht mehr um das Vorführen von Musik, sondern um das Erleben von Musik, um ein Mittendrin-Sein in dynamischen Prozessen, die um den Hörer herum stattfinden, so dass sich dieser selbst als Teil (und vielleicht sogar im Zentrum) dieser dynamischen Prozesse erfährt.
Die Domäne II - "Akustik-Optik-Konkret" - meint das Zusammenspiel zwischen akustischem und optischem Erleben, die Wahrnehmbarmachung eines integralen Punktes, der gar nicht selbst direkt zur Sprache kommt, sich aber sowohl im Optischen als auch im Akustischen konkretisiert.
Auf Domäne III - "Zeitklang-Klangzeit in Landschaft und Architektur" - komme ich später ausführlich zu sprechen.
Deshalb zu Domäne IV: "Rhythmen-Riten-Tanz" ist die Domäne, zu der ich bisher noch keine konkreten Projekte realisiert habe. Sie meint, dass avancierte Kunst sich auch mit der Frage der Rhythmen und Kardinalpunkte menschlichen Lebens (Geburt, Fruchtbarkeit, Tod) beschäftigen sollte, anstatt dies nur kulturellen Traditionen zu überlassen.
Die Domäne V - "Musik pur -Musik als Raum" meint Musik als Raum. Raum wird mit dieser Domäne als die Kombination unterschiedlicher Schnittpunkte dynamischer Prozesse definiert, die untereinander einen gespannten Zusammenhang bilden. Es geht mit dieser Domäne darum, dass die dynamischen Prozesse, aus denen sich Musik selbst heraus konstituiert, Räume bilden, in denen man sozusagen musikalisch leben und wohnen kann.
"Alea-Musik" – Domäne VI - umfasst einen wichtigen Teil meines kompositorischen Arbeitens und geht auf die Frage der Selbstorganisationsprozesse zurück. Hier wird von der These ausgegangen, dass wir Menschen uns in einem permanenten Selbstorganisationsprozess befinden. Wir schaffen uns Denkmodelle, wir schaffen uns Erlebnismodelle, wir schaffen uns Handlungstrategien, um diesen Selbstorganisationsprozess mitzugestalten und unsere eigenen Interpretationen von ihm, unsere eigenen Vorstellungen in ihm zu realiseren. Zu dieser Domäne habe ich zahlreiche „Alea-Musiken“ entworfen, die als Selbstorganisationssysteme funktionieren. Es sind musikalische Kombinationsspiele, in denen musikalische Denkmodelle und Handlungsstrategien formuliert sind, auf deren Grundlage von den Musikern - im Spiel von Grundmaterial, Regel und Zufall – eine hörgeleitete  organismische Musik entsteht, die zugleich eine relativ ideale Verbindung von stringenter Komposition und gezielter Spontanität ermöglicht. Die Kompositionen, die ich zu dieser Domäne rechne, sind zwar relativ schwer zu machen, aber führen in eine ganz neue Art des Musizierens und der musikalischen Kommunikation.
Die letzte Domäne (VII) - "Kosmos des Spiels" – geht noch einen Schritt darüber hinaus: Die Idee, die Hermann Hesse im "Glasperlenspiel", die Buckminster Fuller in seinen "world games" formulierte, findet sich hier in einer sozusagen kulturübergreifenden, transkulturellen Option. Diese Domäne sucht Antworten auf die Frage, wie – utopisch in die Zukunft gedacht – vorstellbar werden kann, aus den unterschiedlichen Kulturen heraus ästhetische Erlebnisfelder zu schaffen, die mittels Laut und Form und Farbe transkulturelle Gemeinsamkeiten kommunizieren. Mir geht es um den Versuch einer transkulturellen künstlerischen Kommunikation, die sich nicht bei den ermüdenden Klischees der Unterhaltungsindustrie aufhält, sondern im Spiel von Regel und Zufall den Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Kulturen nachspürt. Mit diesen Spielen soll es nicht um Spektakelei, sondern um Stille - als das Ziel von Klang – gehen. Klang, den es als das Zusammenschwingen unterschiedlicher Teile zu einem Ganzen, in das Leben einzubeziehen gilt.

Soweit, um nun konkreter auf Domäne III zurückzukommen, die mich die vergangenen 12 Jahre beschäftigt hat. Das kam so: 1988 hatten wir das Glück, nach unserem kulturpolitisch begründeten Ausreiseantrag doch noch die Ausreise aus der DDR zu bekommen. Wr kamen nach Wuppertal. Ein zweites Glück: der damalige Generalmusikdirektor führte ein Orchesterstück von mir auf. Ein drittes Glück: Danach sprach mich eine Dame vom Kulturamt an: "Toll, was haben Sie für die Zukunft vor?" Ich antwortete, dass ich eigentlich nicht in den Westen gekommen sei, um Orchesterstücke aufzuführen, sondern um andere Ideen – Integral-Art-Ideen - zu realisieren. "Haben Sie ein Konzept?"  "Ja, hab´ ich." Etwas später gab es einen Termin und ich bin mit dem Konzept der Domäne III in das Kulturamt von Wuppertal gegangen, Offenbar hat es überzeugt, denn einige Zeit später konnte tatsächlich das KLANGZEIT-Projekt starten.
Das Thema der Integral-Art-Domäne III - Zeitklang/Klangzeit in Landschaft und Architektur - meint ganz speziell auf archtektonische und landschaftliche Zusammenhänge hin entwickelte Klang- und Kunstprojekte. Es geht mit dieser Domäne nicht um Musikprojekte, die mal dort, mal dort und auch mal dort gespielt werden können, sondern um musikalische/künstlerische Projekte, die speziell für bestimmte akustische architektonische und landschaftliche Gegebenheiten zu entwickeln sind. Verrückterweise hat das Konzept tatsächlich funktioniert.
Ich habe mit dem Projekt in Wuppertal ausser dem Konzept der Domäne III aber noch eine darüber hinausgehende Einsicht verbunden: Es sind Strukturen notwendig, um solche Utopien, solche Visionen, wie sie z.B. im Integral-Art-Konzept formuliert sind, umsetzen zu  können. Denn diese Strukturen fehlen völlig. Es gibt zwar Theater, Orchester, Kinos, Fernsehanstalten, Rundfunkanstalten, aber es gibt keine Strukturen, kein einziges Haus, das gewährleistet, das solche Projekte tatsächlich realisiert werden können. So lag in der Logik, in Wuppertal eine kleine Institution zu gründen: die Bauhütte Klangzeit Wuppertal. Sie sollte die Chance erhöhen, beweisen zu können, daß solche Visionen auch als Projekte funktionieren können. Sie wissen, der Begriff der Bauhütte geht ins 12. Jahrhundert zurück. Aber auch Walter Gropius hat mit dem Weimarer Bauhaus an der Idee der alten Bauhütten, der Idee des integralen Zusammenwirkens der Künste, angeknüpft. Und diese Idee des integralen Zusammenwirkens der Künste ist noch immer hochaktuell und kann in einer komplexer werdenden Welt geradezu als eine permanente Aufgabenstellung   gelten.                      
Die Bauhütte Klangzeit Wuppertal hat dann 2 Jahre gearbeitet und Projekte speziell für die landschaftlichen und architektonischen Gegebenheiten von Wuppertal entwickelt. Wichtig war mir im Zusammenhang der Bauhütte, auch die tatsächlich akuten theoretischen Fragen aufzuwerfen und zu reflektieren. Also Fragen zu behandeln: was ist Klang? Was ist Zeit? So war z.B. auch Albert Mayr, der mir einzige bekannte Zeittheoretiker der Neuen Musik, da und hat zum Thema Zeit sehr bemerkenswerte Überlegungen eingebracht. Natürlich war für die Aufgabenstellungen der Bauhütte auch die Frage zu stellen: Wie kann Landschaft und Architektur akustisch und künstlerisch begegnet werden? Welche Relationen haben wir - wenn wir mit Klang und Zeit und Landschaft und Architektur umgehen - zu reflektieren? Aber es ging noch ein bißchen weiter; ich habe Ansätze für eine künstlerische kulturelle Grundlagenforschung zu formulieren gesucht, bis hinein in Fragestellungen der Chaosforschung. Wir haben Naturwissenschaftler eingeladen, wir haben Philosophen eingeladen, wir haben die Zusammenarbeit  von Komponisten und Bildenden Künstlern organisiert. Es war eine äusserst lebendige und konstruktive Atmosphäre mit aufregenden Diskussionen. Bei der Konzeption der Themen habe ich stets versucht, These und Antithese einander gegenüber zu stellen. Also jemandem, der eine sehr provokante These, z.B. über die alten Maßsysteme mitbrachte, dem habe ich einen Astronomen gegenüber gestellt, der damit sehr kritisch umgegangen ist. Wir haben uns aber auch mit Hans Oesch und Christian Kaden gefragt, was „Musik“ überhaupt sei und sind mit den Referenten dieser Frage durch unterschiedliche Kulturen hindurch nachgegangen. Wir haben uns aber auch der Frage gestellt, wie geht man damit um, wenn man hinausgeht aus dem Konzertsälen: Wird das Spektakelei oder was passiert da? Es war eine wunderbare Atmosphäre, sich all diesen Fragen wirklich zu stellen. Für das Klangzeit-Festival entwickelte sich ein landschaftliches Gesamtkonzept von Klangprojekten, dessen drei Aspekte ich kurz nennen möchte: die Tallinie, die Drei-Berge-Linie und als Drittes ein freie Berg- und Tal-Anordnung der Projekte. Und wir haben es tatsächlich geschafft, dass das Festival zu einem ziemlichen – auch international reflektierten – Erfolg wurde. Doch das Projekt ging leider nur zwei Jahre, war dann aus vielerlei Gründen nicht weiterzuführen: der Kulturamtsleiter wechselte, die Finanzen wurden immer knapper - es gab große Probleme, so dass die Sache dort nicht weiterzuführen war. Ich möchte Ihnen hier einen Videoausschnitt zeigen. Wichtig ist mir zu erwähnen, dass diese Idee nicht allein auf meinem Mist gewachsen ist, sondern sie einen weiten Bezug hinein in einen musikgeschichtlichen Hintergrund hat, zu dem Überlegungen von Debussy, Satie, Ives, Cage und Murray Schafer ebenso gehören, wie bestimmte Überlegungen, die mit Schönberg und Webern ihren Anfang nahmen.

Nun möchte ich Ihnen ein paar von meinen realisierten Integral-Art-Projekten vorstellen, die in verschiedenen Stadt- und Landschaftsräumen stattfanden. Zunächst eines, das ich in Wuppertal innerhalb des Klangzeit-Festivals realisieren konnte. Die Idee stammt aus meiner Berliner Zeit. Wir wohnten vor unserer Ausreise an der U2, an der U-Bahn in Pankow. Ich bin oft mit der U-Bahn gefahren, konnte die Augen schließen und doch durch die Geräusche klar definieren, wo sich die Bahn befand. Ich fuhr von Geräusch zu Geräusch, von Klang zu Klang. Daraus ist das Projekt "Von Klang zu Klang mit einer Wuppertaler Schwebebahn" entstanden. Als ich das erste Mal in die Wuppertaler Schwebebahn einstieg - das war fantastisch, das war nicht das unter der Erde langkriechen der U-Bahn, sondern tatsächlich eine über-dem-Wasser-, über-der-Erde-schweben. Für die Schwebebahn, die ca. 17 km durch die Stadt verläuft, dann dieses Projekt, das 1991 im Herbst 5 Tage lang im normalen Fahrverkehr stattfand. Es war sehr schwierig, dieses Projekt durchzusetzen: eine Bahn mußte eine ganze Woche lang stillgelegt werden, um die Technik einbauen zu können. Die Idee war, nicht vorproduzierte Klänge zu verwenden, die per Band ablaufen, sondern die Klänge in der Bahn live durch einen Computer generieren zu lassen. Zudem war ein Mikrophon am Fahrgestell angeschlossen; diese Geräusche wurden nach einem Zufallsprinzip gesteuert und kamen zu den in der Bahn generierten Klängen hinzu. Per Computersteuerung wurden die verschiedenen Wellen- und Schwingungsformen sowie kleinere Intervallmotive nach einem Tageszeitenmodus miteinander kombiniert. Die Wellenformen waren akustisch zu hören und so kam - die Bahn schwingt sich in Linien über dem Fluß durch die Stadt – ein eigenartig faszinierendes Zusammenschwingen zwischen dem Schwingen der Bahn und den Schwüngen der Klänge zustande. ... Die Bahn fuhr im normalen Fahrverkehr und das bedeutete, dass ungefähr 25 - 30.000 Leute mit den Klängen in Berührung kamen. D.h. man mußte sich darüber klar werden: was man hier eigentlich macht. Bei den Fahrgästen war im Ergebnis von absoluter Begeisterung bis zu härtestem Widerspruch beides vorhanden; eine sehr interessante Situation. Es gelang aber offenbar, die Waage zu halten. Das zeigte eine Umfrage, über die ich unglaublich erstaunt und erfreut war. Sie zeigte, dass - trotz der manchmal auch laut geäußerten Ablehnung - etwa 75% der Aussagen als Akzeptanz und Tolerierung des Projektes zu werten sind. Das war unglaublich, damit hatte ich nicht gerechnet. Auch da hatte sich meine These bestätigt, daß die Hörer nicht so unklug und intolerant sind, wie es manche gern hätten.

1995 habe ich ein anderes Projekt realisieren können, sozusagen eines aus meiner Kindheit. Ich bin in Dresden aufgewachsen und an einem frühen Ostermorgen habe ich als etwa 10-Jähriger auf einer Anhöhe hoch oben über der Stadt gestanden und das Ostergeläut vieler Dresdner Glocken gehört. Luftfeuchtigkeit überträgt Klänge, wie Sie wissen (deshalb auch die Nebelhörner am Meer). Und das war an diesem frühen Ostermorgen der Fall. Dazu gab es einen ganz leichten Wind, der die Klänge gegeneinander verschob: mal war mehr jenes Glockengeläut, mal mehr dieses zu hören, dann kam dieses etwas mehr hervor, dann wieder ein anderes, usw. Ich weiß nicht, wer von Ihnen schon einmal unter vergleichbaren landschaftlichen und metereologischen Voraussetzungen Glocken gehört hat; es ist wirklich faszinierend.  Als ich etwa 10 Jahre älter war, hörte ich Lutoslawski´s 2. Sinfonie, und es erinnerte mich schlagartig an diese Klangsituationen, wie ich sie von diesem Ostermorgen in meinem Gedächtnis gespeichert hatte. Von da an stand für mich fest, daß ich irgendwann  versuchen würde, eine Komposition für Glocken zu realisieren.
Nun, wie Sie wissen, Glocken gelten für die Kirchen nicht als Musikinstrumente. Die schroffeste Ablehnung kam deshalb auch bei dem ersten Versuch der Umsetzung dieser Idee in Wuppertal von der Evangelischen Kirchenleitung: Glocken als gottesdienstliche Instrumente durften für eine Komposition nicht zur Verfügung gestellt werden. Die gleiche Schwierigkeit zeigte sich in Dresden. Aber dadurch, dass ich in Dresden aufgewachsen bin und naturgemäß mit einem Datum, dem 13. Februar - dem Tag der Totalzerstörung Dresdens 1945, an dem Zigtausende umgekommen waren - sehr verbunden bin, zeigte sich für 1995 am 50. Jahrestag des Bombardements, ein ernstzunehmender Anlass für die Realisierung des Glocken-Projektes. Und so haben wir einen neuen Anlauf genommen und bekamen eine Einladung nach Dresden, um das Projekt vorzustellen. Auch dort war es so, dass die Leitung der Evangelischen Landeskirche zunächst eine ganz klare Ablehnung erteilte: auch ausnahmsweise und zu diesem Datum könne einem solchen Projekt nicht zugestimmt werden. Verrückterweise spielten aber damals die Medien mit; es kamen Meldungen durch`s Fernsehen, durch die Zeitungen, durch den Rundfunk. Die Ablehnung wurde zurückgenommen, nachdem sich viele Menschen - und auch fast die gesamte Pfarrerschaft von Dresden - hinter das Projekt gestellt hatten. Dann begann die Recherchearbeit. Denn eine Bedingung dessen, ein solch grosses Projekt in Angriff nehmen zu können, ist es, wirklich genau zu wissen, womit man es zu tun hat. Ich lege Ihnen hier mal eine Seite von drei Recherche-Seiten  auf: wir haben jede einzelne Glocke ganz genau recherchiert. Wir haben nicht nur nach dem Schlagton gefragt, nach dem Halbton, dem Gewicht, dem Alter usw., sondern wir haben auch alle normale technischen Daten aufgenommen; von den Einschwing- und Ausschwingzeiten, den Anschlagfrequenzen bis hin zur Mikrofonaufstellung und dem nächstliegenden Stromanschluss, dem Licht im Läuteraum usw.. Die Idee war folgende: diese 129 Glocken von Dresden miteinander zu connecten, so dass man sie verbunden und zusammen hören konnte; übers Radio, über Walkman-Kopfhörer, über aufgestellte Lautsprecherboxen  und vor allem: live in der Stadt.
Die Komposition des Werkes war vielschichtig. Neben der Komposition der einzelnen Requiemteile, der Struktur der Tonhöhen und Dauern sowie der Radiofassung gab es die Landschaftsklang-Komposition der Klangverläufe innerhalb der Stadt. Z.B. habe ich am Beginn eine Tonhöhe von Norden nach Süden von Geläut zu Geläut die Stadt durchziehen lassen. (Da, wo sie nicht vorhanden war, habe ich immer die nächstgelegene Tonhöhe genommen.) Ein anderes Prinzip: ich habe die benachbarten Geläute zueinander ins Spiel gebracht. Noch ein anderes Prinzip: eine 12-Ton-Reihe aufzubauen, zunächst As, dann alle D´s, dann alle G´s läuten lassen, dann alle Cis´, dann alle Fis´ usw. - bis alle 12 Töne erklungen waren. Wegen der Liveübertragung der Rundfunkfassung war noch ein Problem zu lösen: 129 Glocken - oder auch nur die Hälfte - mittels Mikrofone über den Sender zu bringen, das geht gar nicht; man hätte einen einzigen ständigen Klangbrei. Wenn ich aber andererseits eine Komposition gemacht hätte, in der die Glocken nur so selten erklingen, wie sie über den Sender gehen können, wäre es für das normale Klangerlebnis in der Stadt einfach unrelevant geblieben. Denn dann wäre manche Glocke z.B. nur aller 5 Minuten zu hören gewesen, das Läuten der Geläute vor Ort wäre möglicherweise als ein Versehen erschienen. Also habe ich mich für eine drei-dimensionale Komposition entschieden: die Radiokomposition, die Komposition der Liveklänge in der Stadt (die einzelnen Geläute waren sozusagen die Mosaiksteinchen dieser Livekomposition) und eben die Kompositon der landschaftlichen Klangverläufe. Hier eine Partiturseite der 1,20 m langen und 332 Seiten umfassenden Partitur. Links die Zeilennummerierung: das sind die  Zeilen 001-199 mit den Angaben der Gewichte und den wichtigsten Tonhöhen. Die Zeitfelder sind in 2-Sekunden-Schritte unterteilt: mehr an die linke Seite geschrieben die erste Sekunde, mehr auf der rechten Seite die 2.. So konnte ich sekundengenau komponieren und die Partitur sekundengenau notieren. In der untersten Zeile eines jeden Geläutes befindet sich die "Mikrofonzeile", in der notiert ist, zu welchen Zeitpunkten das Geläut über den Rundfunk geht. Umgesetzt wurde die Partitur von 96 Läutern, die die Glocken entsprechend der Partitur und nach Funkuhrweckern ein- und ausschalteten. Wir schauen uns mal kurz ein Video dazu an.
Zwischen 30- und 60.000 Leute sollen allein an der Dresdner Frauenkirche gewesen sein, wo die Rundfunkfassung über große Lautsprecheraufbauten ausgestrahlt wurde. Sehr viele Leute sollen auch auf den Elbwiesen und auf den Höhen der Stadt gewesen oder durch die Stadt gelaufen sein, um die Klangverläufe zu hören. Wir haben mit einem Faltblatt Hörempfehlungen herausgegeben. Eine der Hörempfehlungen bestand darin, mit einem Walk-man durch die Stadt zu gehen, die Kopfhörer aufzusetzen und abzunehmen, das Ganze über´s Radio zu hören, oder die Teilaspekte des Ganzen da live zu hören, wo man sich gerade befindet. Danach habe ich viele Briefe, Anrufe und Informationen bekommen, dass viele Leute das tatsächlich auch gemacht haben. Und als ich hinterher gesagt bekam: "Es war still, es war einfach still, die Leute hörten" – so empfand ich das als das Wunderschönste, was mir diesbezüglich passieren konnte. Ich glaube, dazu ist Musik da; die Ohren durch solche Erfahrungen ein Stückchen mehr aufzumachen, als es jene Erfahrungen vermögen, an die man ohnenhin schon gewöhnt ist. Das GLOCKENREQUIEM wurde damals von DeutschlandRadio, MDR und BBC live übertragen. Verantwortliche von DeutschlandRadio sagten damals zu mir: "Das geht nie! Die Telekom kriegt ja manchmal kaum eine Stereoleitung zustande, wie sollen jetzt 49 zustande gebracht werden ?" Aber tatsächlich: die Techniker der Telekom waren so hochmotiviert und engagiert – das alles fantastisch funktoniert hat. Auch hatte ich Glück mit meinem Technischen Leiter, so das technisch alles wirklich außerordentlich gut gelaufen ist, auch dank des gesamten technischen Teams, das mitgearbeitet hat. So war es für mich einer der wunderbarsten Erfolge, dass das Konzept künstlerisch und technisch aufging, trotz aller Unkenrufe und Anfeindungen, die fast die Oberhand behalten hätten. Dass das GLOCKENREQIEM gegen alle Widerstände tatsächlich aufgeführt werden konnte, war schon an sich ein Wunder und nur durch die vielen Menschen möglich, die damals dafür eingetreten sind.

Als Kontrapunkt zu diesem Großprojekt nun ein kleiner Diskurs. Hier die Noten einer meiner kleinsten und kürzesten Kompositionen, der letzte Satz aus MIT ACHT TÖNEN für Klavier solo. Neben großen Klangmassen, die ich in meinem Arbeiten bewältigt habe - wie die Glocken im GLOCKENREQIEM (mehr Masse hatte ich bisher nicht und möchte ich auch nicht auf die Waage bringen) arbeite ich kompositorisch sehr differenziert, auch für althergebrachte Instrumente. Sehen Sie hier: bis hin zum dreifachen Pianissimo, zum genau gesetzten Pedal, die Farben, feinste kleine Bögen ... Es ist mir sehr wichtig, neben der grossen Arbeit, die Arbeit im Detail also genauso elementar  zu verstehen.

Ein anderes Projekt – mit dem ich das Glück hatte, es realisieren zu können - war KLANG FELSEN HELGOLAND: 1996 wurde es in Zusammenarbeit mit NDR 3 und den Helgoländer Initiatoren und Helfern an der Steilküste der Insel Helgoland Wirklichkeit. Als ich das erste Mal auf die Insel kam, hörte ich durch die Schreie der kreisenden Möven, wie fanstastisch die Klippen der Steilküste klingen. Und so wurde auch gleich die Idee geboren, Klänge näher kommen und sich entfernen zu hören. Nach den notwendigen Vorklärungen schrieb ich die Komposition. Um sie umzusetzen wurden an 850 Metern der Küste sechs große Boxenaufbauten postiert, die von einem Computer so angesteuert wurden, dass sich die Klänge zwischen den sechs Boxenaufbauten in verschiedenen Bewegungsformen hin und her bewegten. Klänge von dem einzigen großen Instrument, das auf Helgoland vorhanden ist: der Orgel in der Evangelischen Kirche. An dieser Orgel habe ich die Klänge in drei Schichten unterschieden: ein Mikrofon im Schwellwerk, eines vor den großen Bassorgelpfeiffen, eines im Kirchenschiff. So hatte ich drei Klangschichten, die - vom Computer gesteuert - an der Küste unterschiedliche Bewegungsformen annahmen.
Bei diesem Projekt waren 1000-2000 Leute da; sie standen oben auf der Steilküste oder sind mit den Booten rausgefahren auf´s Meer und konnten verfolgen, wie sich die Klänge an der - bis dahin wohl einmalig beleuchteten – Felsenküste entlangbewegten. Obwohl technisch nicht alles zu meiner vollsten Zufriedenheit geklappt hat (da die Stromversorgung nicht nach unserem Konzept realisiert wurde und somit für die Feuchtigkeit Angriffsflächen bot), ist diese Komposition wohl eine meiner schönsten Raum- und Landschafts-Kompositionen. Auf CD und im Rundfunk ist sie allerdings nicht annähernd ad äquat widerzugeben, weshalb ich die gegenwärtige CD-Fassung auch nicht mehr herausgebe. Hier aber eine kleiner Ausschnitt, wie es geklungen hat.

1995 sind wir nach Berlin zurückgekehrt. Seitdem habe ich mit meiner Frau für INNENKLANG-AUßENKLANG gearbeitet. (Übrigens ist es immer wieder ihr zu verdanken, daß die Projekte überhaupt zustande kommen. Denn wenn man nicht den richtigen Partner hat, sind solche großen Projekte kaum durchzuhalten, erfordern sie doch einen wirklich elementaren Kraftaufwand, den man auch durch alle Durststrecken - die zwangsläufig mit solch großen Projekten verbunden sind - aufbringen muss.) INNENKLANG-AUßENKLANG beruht auf der Idee, artifiziell erzeugte Innenklänge mit natürlich oder zivilisatorisch vorhandenen Außenklängen zu verbinden. Damit wird genau an jenen Ideen angeknüpft, die Anfang des 20. Jahrhunderts von Claude Debussy, von Eric Satie, von Charles Ives bereits angedacht wurden. Die Überlegung war also, einen Zusammenschluss zu bringen zwischen artifiziell erzeugten Klängen und Klängen, die zivilisatorisch oder natürlich vorhanden sind. Da die Zeit aber jetzt zu kurz ist, kann ich Ihnen von diesem Projekt, das– live übertragen von DeutschlandRadio - 1997 mit der Uraufführung von „INNENKLANG – Musik im Raum für vier Orchestergruppen und Soprane“ durch das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin im Berliner Dom einen vielversprechenden Anfang nahm, nicht ausführlich berichten. Wir haben vier Jahre lang für dieses Projekt gekämpft . Noch kurz bevor es losgehen sollte wurde uns gesagt: "Das Geld kommt, Wallmann, nehmen Sie Kredite auf, Sie können sicher sein, haben Sie Vertrauen, diesmal besorge ich persönlich die Mäuse“. Aber die Berliner Kultursituation - ich weiß nicht, ob das bis Tirol dringt - ist außerordentlich schwierig und da will ich mich jetzt nicht weiter verbreiten. Doch noch ein paar wenige Worte zu diesem Projekt. Neben der bereits erwähnten Überlegung war noch eine andere Überlegung zentral: Das, was außen vor sich geht, was außen klingt, ist auch ein Produkt dessen ist, was in uns vorgeht. So ging es mit INNENKLANG-AUßENKLANG darum, eine akustische Erfahrung der Verbindung von Innen und Außen zu ermöglichen; von Ganz-Innen immer weiter nach aussen zu gehen und dabei einzubeziehen, dass das Ganz-Außen Punkte hat, die selbst ein Innen sind und von sich aus selbst in das Außen gehen. Das „Krönchen“ dieses Projektes war eine Konstellation, mit der Soundscapes und Soprane von sieben Kontinenten einbezogen werden sollten; um mit den Ohren zugleich an unterschiedlichen Orten der Erde zu sein, die Erde sozusagen mit den Ohren zu umarmen. So wäre es möglich geworden, durch weltweites Hören für ein paar Stunden ein transkulturelles Bewusstsein wachzurufen. Ich glaube, dass das gerade heute, wo die vielen unterschiedlichen Partikularinteressen sich gegenseitig zuwiderlaufen und sich gegenseitig das Wasser und den Boden abgraben, etwas ganz wichtiges ist. Deshalb werden wir dieses „Krönchen“ des Gesamtprojektes nicht so schnell aufgeben. Wir hoffen, dass es gelingt, eine ausreichende Unterstützung zu finden und die Realisierung noch in diesem Jahrzehnt zu erreichen.

Nun komme ich zum Schluß und wieder zum Anfang. Nach dem gezogenen Bogen will ich die Frage „wozu Musik“ nun wieder  von der Begrenzung auf „neue“ Musik lösen und versuchen, sie in einen weiten Zusammenhang zu stellen. Ich glaube, dass Musik in der Zukunft nicht mehr allein eine Frage der Konzertsäle, der Diskotheken oder ähnlicher Foren sein kann, sondern dass sie eine Frage der akustischen Gestaltung der menschlichen Lebenswelten überhaupt ist. Die Frage nach den Energien und Informationen, die über unsere Ohren in unser Gehirn vordringen und damit die Entwicklung unserer Intelligenz elementar beeinflussen, wird ganz neu aufgeworfen werden müssen. Denn eines dürfte klar sein: das, was in unsere Köpfe hinein kommt, das macht etwas mit uns. Das führt u.a. zu der Frage, welche dummen oder intelligenten Klänge, welche dummen oder intelligenten Rhythmen wir uns zumuten, aber auch, welche Strukturen zu entwickeln wären, um intelligente Musik zu fördern.  Zwar erlauben die hochkomplexen Vorgange der Wahrnehmung und der geistigen Verarbeitung von musikalischen bzw. akustischen Energien und Informationen keine eindeutigen Rückschlüsse (auch deshalb, weil die Wahrnehmungsfilter der Menschen auch individuell konfiguriert sind), doch sind sie selbst Ausdruck einer bestimmten geistig-kulturellen Qualität . Und Kultur – als Strukturgebung und Kommunikation eines jeweiligen soziell verankerten Verständnisses von der Welt als Ganzes - konfiguriert die Gemüter.
Wenn den eingangs geäusserten Überlegungen zu folgen, Intelligenz nicht allein über den Intellekt zu definieren ist, dann ist auch zu verstehen, dass die menschliche Intelligenz ihre volle Potenz erst durch das integrale Zusammenwirken von Rationalem und Emotionalem, von Anlytischem und Synthesischem, von Körperlichem und Geistigem entfalten kann. Insofern können wir die Bedeutung von einer entsprechend integral avancierten Musik für die kulturelle Qualität – und damit für die Intelligenzentwicklung - der Gesellschaft kaum hoch genug veranschlagen. So gesehen gilt es auch Städte und Landschaften als Klangräume zu verstehen (Klang ist im Integral-Art-Konzept als das Zusammenschwingen unterschiedlicher Teile zu einem Ganzen definiert). Klangräume, die es für eine integral optionierte künstlerische Intelligenzkommunikation zu nutzen gilt, anstatt sie mehr oder minder zu akustischen Abfallhalden verkommen zu lassen. So wir Musik in ihrer grundsätzlichen Funktion als Intelligenzkommunikation und als Frage der akustischen Gestaltung der menschlichen Lebenswelten neu begreifen und integral entwickeln, wird sie auf Dauer bewusst werden als ein Elixier, das einen großen Reichtum darstellt und für die Zukunftsftauglichkeit menschlicher Intelligenz unverzichtbar ist. Im Hinblick auf die Zukunftsftauglichkeit menschlicher Intelligenz tragen insofern alle, die Musik kommunizieren oder dafür die grundlegenden Strukturen zu sichern haben, eine große Verantwortung.

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