Über Schönheit und eine „Relativitätstheorie der Wahrnehmung“ (2004)
veröffentlicht in "positionen"/ Aug. 2005
H. Johannes Wallmann: Über Schönheit und eine „Relativitätstheorie der Wahrnehmung“
Es
war im Frühjahr 1980, als ich James Joyce´ “Porträt des Künstlers als
junger Mann” in die Hand bekam. Bis dahin hatte ich mich für Schönheit
nur mehr oder minder unbewusst interessiert. Nun aber zeigte Joyce mir
- durch die Dispute, die er seinen Stephen Daedalus in diesem Buch
führen ließ - die unglaublich interessanten philosophischen
Implikationen dieses Begriffes. Zunehmend wurde mir klar, dass Joyce
(zeitnah zu Einstein) hier den Ansatz für eine „Relativitätstheorie der
Wahrnehmung“ gelegt hat. Und zwar indem er - mittels der Phasen der
künstlerischen Wahrnehmung - eine stringente Beziehung zwischen
Schönheit und Wahrheit herstellte und zugleich auf deren Relativität
verwies. Da Schönheit eine Frage der Wahrnehmung ist, kommen wir nicht
umhin, uns mit dieser „Relativitätstheorie der Wahrnehmung“ zu
befassen. Denn erst durch sie wird es möglich, die grundsätzliche
Funktion von Schönheit für die Bewältigung der evolutiv neuen
Situation, in der sich die Menschheit gegenwärtig befindet (s.u.), zu
erkennen.
Das Nachdenken über die „Relativitätstheorie der
Wahrnehmung“ sowie über damit zusammenhängende Fragen war für mich wie
durch ein Brennglas zu schauen, das zunehmend größere Zusammenhänge zu
erkennen gibt (was zwar höchst faszinierend, aber eine sehr einsame -
weil kaum zu vermittelnde - Sache ist). Indem ich aber – entsprechend
einer Überlegung des Malers/Grafikers Kurt W. Streubel - Theorie als
höchstkomprimierte Form möglicher Praxis zu betreiben begann, wurde
mir die praktische Relevanz dieser Fragen deutlich und so entwickelte
ich bis etwa Mitte der 80er Jahre das Integral-Art-Konzept, das zur
Grundlage meines gesamten künstlerischen Arbeitens wurde. D.h., dass
Joyce´ Ansatz einer „Relativitätstheorie der Wahrnehmung“ grundlegenden
Einfluss auf meine gesamte künstlerische Praxis und ihre umfangreichen
Klangprojekte (einzusehen unter www.integral-art.de) genommen hat.
Dynamische Prozesse
Beginnen
wir zunächst mit der Feststellung aus der Chaostheorie, dass alles
dynamischer Prozess ist - auch Menschen, Steine, Galaxien - und dass
alle dynamischen Prozesse sich gegenseitig beeinflussen. Entsprechend
sind - neben dem Wahrnehmungsprozess selbst - auch der Wahrnehmende
sowie der Wahrnehmungsgegenstand als dynamische Prozesse zu verstehen,
die in bestimmten Geschwindigkeiten verlaufen. Im Wechselspiel der
Wahrnehmung zwischen Teil und Ganzem ist dabei in der Regel davon
auszugehen, dass die Wahrnehmung der Teile mit höheren
Geschwindigkeiten verbunden ist als die Wahrnehmung eines Ganzen.
(Allerdings bleibt es immer nur eine Frage der Perspektive, ob der
jeweilige Wahrnehmungsgegenstand als ein Ganzes oder als ein Teil zu
betrachten ist. Entsprechend ist ein Bild sowohl ein Ganzes als auch
Teil einer Ausstellung, eine Ausstellung ein Ganzes, aber auch Teil
eines Museumsprogramms, ein Museum ein Ganzes, aber auch Teil einer
Kulturstruktur.) Aufgrund der unterschiedlichen Geschwindigkeiten und
Eigenschaften von Wahrnehmungsgegenständen und Wahrnehmungsperspektiven
bekommen wir es beim Wahrnehmungsprozess - neben der Einstein´schen
Relativitätstheorie (und der an zwei Blitzen sowie an einem Beobachter
am Bahndamm vorbeirauschenden Beobachter in einem Zug1)) - auch mit der
Heisenberg´schen Unschärferelation zu tun. Sie besagt, „dass man
niemals gleichzeitig genau wissen kann, wo etwas ist und wie schnell es
sich bewegt“2). Aus der Unschärferelation folgt u.a., dass sich
Beobachtetes durch Beobachtungssituationen verändert. Es zeigt sich an
ihr aber auch, dass das Empfinden dem Verstehen und Wissen offenbar in
gewisser Hinsicht überlegen ist. Denn z.B. mit den Ohren kann man
durchaus gleichzeitig wahrnehmen, wo in etwa etwas ist und wie schnell
es sich in etwa bewegt, wodurch ein bestimmter Zusammenhang evident
wird. Ebenso z.B. der Klang einer Stimme am Telefon, durch den
zahlreiche unbesprochene Informationen übermittelt werden. D.h., dass
über die Empfindung und über die synthesische Wahrnehmung Informationen
und Erkenntnisse zugänglich werden, für die das Verstehen und die
analytische Wahrnehmung eher blind sind.
Teil und Ganzes in den Phasen der Wahrnehmung
Zum
Verhältnis von Synthese und Analyse sowie von Teil und Ganzem lässt
Joyce seinen Stephen Daedalus nun folgendes äußern: „... Die erste
Phase der Wahrnehmung ist eine Grenzlinie, die um den wahrzunehmenden
Gegenstand gezogen wird ... das ästhetische Bild wird zuerst leuchtend
wahrgenommen als etwas sich selbst Umgrenzendes, in sich selber
Ruhendes vor dem unermesslichen Hintergrund von Raum oder Zeit, welcher
nicht es ist. Du nimmst es als eins wahr. Du siehst es als ein Ganzes.
Du nimmst seine Ganzheit wahr. ... Dann, sagte Stephen, gehst Du weiter
von Punkt zu Punkt, geführt von den Linien seiner Form; du nimmst es
wahr als ausgewogenes Verhältnis seiner Teile zueinander innerhalb
seiner Grenzen; du fühlst den Rhythmus seiner Struktur. Mit anderen
Worten, auf die Synthese der unmittelbaren Perzeption folgt die Analyse
der Apperzeption.” 3) Kurz zusammengefasst: Die eine Phase besteht in
der synthesischen und empfindungsmäßigen Wahrnehmung des Ganzen (im
idealen Falle von Schönheit), die andere in der analytischen und
verstandesmäßigen Wahrnehmung der Teile (im idealen Falle von
Wahrheit). Beide Phasen bedingen sich gegenseitig und können als die
zwei unterschiedlichen Aspekte ein und derselben Sache gelten (was
letztlich den Wechselwirkungen zwischen unseren beiden
Gehirnhemisphären entspricht; der einen, die mehr für synthesische
Funktion – sowie für das Empfinden für´s Ganze - und der anderen, die
mehr für analytische Funktionen – sowie für das Verstehen der Teile -
ausgelegt ist).
Relationen des Verstandesmäßigen und Empfindungsmäßigen
Entsprechend
lässt Joyce seinen Stephen Daedalus sagen: „Plato, glaube ich, sagte,
die Schönheit sei der Glanz der Wahrheit. Ich denke nicht, dass das
einen Sinn hat, aber das Wahre und das Schöne sind verwandt. Die
Wahrheit schaut der Verstand, der sich nur durch die befriedigendesten
Relationen des Verstandesmäßigen genügen lässt: Die Schönheit schaut
die Imagination, die sich nur durch die befriedigendesten Relationen
des Sensiblen genügen lässt.“4) Indem Joyce hier den Begriff der
Relationen des Verstandesmäßigen einführt, formuliert er zugleich einen
brauchbaren Ansatz, um den Bereich des Verstandes von dem des
Empfindens zu unterscheiden. Denn so, wie die Relationen des
Verstandesmäßigen die Frage nahe legen „was ist nur verstehbar?“, so
legen die Relationen des Sensiblen die Frage nahe „was ist nur
empfindbar?“. Abgesehen davon, dass die Beantwortung dieser Fragen
individuellen und soziellen Faktoren unterliegt, führt das Wechselspiel
zwischen den jeweiligen befriedigendesten Relationen des
Verstandesmäßigen und den befriedigendesten Relationen des
Empfindungsmäßigen aber auch zu der Herausforderung, die beiden
Bereiche unserer Gehirntätigkeit möglichst optimal miteinander in
Interaktion zu bringen, so dass sie sich gegenseitig potenzieren,
wodurch sie Synergien erzeugen und Energien freisetzen.
individuell-soziell-universell
Doch
die Erzeugung dieser Synergien ist ein ziemlich komplexer Vorgang. Denn
die für den Wahrnehmungsprozess – und den Informationsaustausch
zwischen dem Wahrnehmenden und seinem Wahrnehmungsgegenstand -
maßgeblichen Relationen des Empfindungsmäßigen und Verstandesmäßigen
werden ihrerseits durch das Zusammenwirken von drei Faktoren bestimmt:
den individuellen, den soziellen, den universellen. Zum individuellen
Faktor zählen die individuellen Begabungen, Vorlieben, Anlagen,
Ansichten, Kenntnisse, Fähigkeiten, Aktivitäten. Zum soziellen Faktor
zählen die allgemeinen kulturellen, sozialen und technologischen
Standards, das allgemeine Bildungsniveau, die Verhaltensmuster in
Familie und Gesellschaft, aber auch Vorurteile sowie die jeweils
herrschenden Ideologien und politischen Machtverhältnisse. Auch die
Medien selbst spielen bei diesem Faktor eine maßgebliche Rolle. Zum
universellen Faktor gehören die vom Menschen unabhängigen Naturgesetze,
gehören Logik, Mathematik, Abstraktion und Konkretion,
Zahlenverhältnisse, Energien, allgemeine organismische Qualitäten der
Lebensgrundlagen, aber auch z.B. allgemeine Beschaffenheiten von
Pflanzen, Steinen oder des menschlichen Körpers.
Die drei Faktoren
beeinflussen nicht nur die Gestaltung der Wahrnehmungsgegenstände,
sondern auch die Konfiguration der Resonatoren und Wahrnehmungsfilter
der Wahrnehmenden selbst. Weil diese Beeinflussungen in
hochrückgekoppelten Wechselwirkungen verlaufen (entsprechend werden
Fernsehprogramme nach Einschaltquoten gestrickt), ist prinzipiell davon
auszugehen, dass die Resonatoren und Wahrnehmungsfilter jedes
Individuums und auch der Gesellschaft insgesamt durch eine quantitativ
„gemeinsame“ Vorstellung oder gar einen Konsens dessen geprägt sind,
was wahrgenommen werden soll. Da es aber – wie wir aus der Geschichte
der Menschheit wissen - sowohl auf der individuellen als auch auf der
soziellen Ebene zu erheblichen Fehlentwicklungen kommen kann, ist es
notwendig, die individuellen und soziellen Beeinflussungsfaktoren auf
der Grundlage universeller Faktoren zu hinterfragen und abzugleichen.
Denn das Universelle bildet – gerade weil es so allgemein und so
abstrakt ist, dass es erst mittels des Individuellen und Soziellen zu
konkretem Leben erweckt werden kann – die Basis, um zu einem Ausgleich
zwischen den drei Faktoren zu gelangen.
Schönheit – Synthese - Erkenntnis
Da
auch die individuellen und soziellen Idealvorstellungen von dem, was
als schön anzuerkennen ist, weit auseinander gehen können, gilt es nach
den universellen Aspekte von Schönheit zu fragen. Joyce sagt deshalb:
„dass, obschon ein und derselbe Gegenstand nicht allen Menschen schön
erscheinen mag, dennoch alle Menschen, die einen schönen Gegenstand
bewundern, in ihm bestimmte Relationen finden, die befriedigen und mit
den verschiedenen Stadien jeglicher ästhetischer Wahrnehmung selber
zusammenfallen. Diese Relationen des Sensiblen, die für dich in der
Form und für mich in der sichtbar sind, müssen darum die notwendigen
Eigenschaften der Schönheit sein.“ Und er sagt weiter: “...was ich über
die Schönheit sagen wollte, so müssen also die befriedigendesten
Relationen des Sensiblen den notwendigen Phasen der künstlerischen
Wahrnehmung korrespondieren.“ 5) Deshalb sind nach Joyce sowohl die
Relationen des Sensiblen als auch die beiden Phasen der künstlerischen
Wahrnehmung als universelle Aspekte von Schönheit zu betrachten.
Was
die universelle Gesamtfunktion von Schönheit angeht, so geht meine
These noch etwas darüber hinaus. Sie besteht darin, dass Schönheit –
aufgrund eines ausgewogenen Wechselspiels zwischen Teil und Ganzem -
die emotional berührende Erfahrung einer idealen Synthese ist. Als
Erfahrung einer idealen Synthese spielt Schönheit für die Entwicklung
der menschlichen Intelligenz eine ganz grundlegende Rolle. So schrieb
Immanuel Kant bereits „... allein die Synthesis ist doch dasjenige, was
eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammelt und zu einem gewissen
Inhalte vereinigt; sie ist also das erste, worauf wir acht zu geben
haben, wenn wir über den ersten Ursprung unserer Erkenntnis urteilen
wollen“6).
Als die andere Seite emotional erfahrener Synthese kann
rational erworbene Analyse gelten, wobei in dem Maße „Wahrheit“ zutage
tritt, wie diese Analyse durch die Verknüpfung von Wissensquanten zu
Erkenntnis vorankommt. Weil Erkenntnis aus der Erleuchtung von
Zusammenhang (und damit auch aus der Erleuchtung eines Ganzen und
seiner Synthese) resultiert, kann ästhetische Wahrnehmung letztlich
nicht nur als Suche nach einer emotional berührenden Synthese sondern
als Suche nach integraler Erkenntnis überhaupt gelten. In ihr ergänzen
sich Rationales und Emotionales gegenseitig zu einer Ganzheit, die
mehr als die Summe ihrer Teile ist. D.h., dass in befriedigendesten
Relationen des Empfindungsmäßigen erfahrene Schönheit und in
befriedigendesten Relationen des Verstandesmäßigen zutage tretende
Wahrheit in entsprechend avancierter Kunst auf ideale Weise
verschmelzen und integrale Intelligenzenergie bilden können. Und diese
ist als eine unabdingbare Voraussetzung zur Bewältigung der anfangs
genannten evolutiv vollkommen neuen Situation zu sehen.
Eine evolutiv vollkommen neue Situation
Sowohl
im Hinblick auf Schönheit als auch im Hinblick auf Wahrheit spielt das
von Joyce angesprochene Befriedigendeste eine maßgebliche Rolle.
Eingedenk der evolutiv vollkommen neuen Situation möchte ich es durch
zwei evolutionstheoretische Begriffe definieren: teleonomisch
fittest7), d.h., dem Erfolg des biologischen Projektes Menschheit
angesichts der evolutiven Situation am besten dienlich.
Die
evolutiv vollkommen neue Situation, in der sich die Menschheit
gegenwärtig befindet, ergibt sich aufgrund der innerhalb eines extrem
kurzen Zeitraumes ihrer Evolution sprunghaft angestiegenen Entwicklung
modernster Technologien. Indem diese Technologien tiefe Eingriffe in
kleinste Teilchen und damit große und langfristige Lebenszusammenhänge
ermöglichen, stellen sie eine geradezu wahnwitzige Herausforderung an
die menschliche Intelligenz und ihr Synthesevermögen dar. Denn die
technologisch machbaren Manipulationen an kleinsten Teilchen – wie z.B.
an den Problematiken der Genmanipulation oder der Ozonschicht zu sehen
– betreffen die Welt als Ganzes sowie die Zukunft menschlichen Lebens
überhaupt. Ohne ein teleonomisch fittestes Synthesevermögen werden sich
- angesichts der mit der evolutiv neuen Situation einhergehenden
Wissens- und Technologienexplosion - die unterschiedlichen Wissens- und
Technologienquanten zu unkontrollierbaren Eigendynamiken aufschaukeln
und damit die allgemeinen Lebensgrundlagen der Menschheit zum Kippen
bringen. Aus diesem Grund kommt der emotionalen Erfahrung teleonomisch
fittester Synthesebildungen eine ganz eminente Funktion bei der
Entwicklung der Intelligenz des Menschen zu.
Als
Erfahrung von Synthese ist Schönheit zugleich Erfahrung von Ganzheit,
Harmonie und Ausstrahlung. Joyce: „Der Aquinate sagt: ad pulcritudinem
tria requiruntur, integritas, consonantia, claritas. Ich übersetze das
so: Dreierlei ist der Schönheit wesentlich, Ganzheit, Harmonie und
Ausstrahlung.“ 8) Zumal Ganzheit als Synthese und ausgewogenes
Verhältnis der Teile untereinander bereits besprochen ist, sollen nun –
auch unter dem Blickwinkel der evolutiv neuen Situation – einige
Überlegungen zum Begriff Harmonie hinzutreten.
Nicht nur, weil wir
unsere Welt mit organismisch unverträglichen Technologien vollstopfen,
sondern auch, weil sich der Mensch gegenüber dem Organismus der Natur
ignorant verhält, ist längst deutlich, dass das “Ganze” nicht auf einer
„prästabilierten Harmonie“ beruht, die dem Menschen für alle Zeiten in
der Evolution einen sicheren Platz einräumt. Das “Eigendasein und die
abgesonderte Freiheit der einzelnen Teile, die sich in einem hoch
spannungsvollen Verhältnis zum Ganzen verhalten” 9), werden sich daher
daran messen lassen müssen, wie sie dazu beitragen, den organismischen
Zusammenhang zwischen den Teilen und ihrem Ganzen als Grundlage des
Überlebens der Menschheit zu bewahren. Was die Angst mancher Künstler
und Wissenschaftler vor dem Begriff der Harmonie betrifft, so ist diese
insbesonders durch die Klischees der vergangenen zweihundertfünfzig
Jahre sowie aufgrund des kulturtraditionalistischen Kitsches
verständlich. Denkt man jedoch über Klischees und Kitsch hinaus, so
muss die Suche nach Harmonie als eine eminente gedankliche und
kulturelle Leistung gelten, die mit Klischees und Kitsch nichts zu tun
hat. Denn die Suche nach Harmonie ist immer eine Suche danach, wie
unterschiedliche dynamische Prozesse (und ihre Schwingungen) in einen
ausgewogenen Zusammenhang gebracht werden können, der wahr und schön
zugleich ist. Die Suche nach Harmonie ist – wie die nach Schönheit -
deshalb immer dann teleonomisch fittest, wenn sie eine Suche nach einer
neuen (großen) Synthese ist. Harmonie schlägt jedoch immer dann in
Kitsch um, wenn es ihr an der Suche nach der neuen großen Synthese
sowie an entsprechenden gedanklichen Leistungen mangelt.
Man
sollte aber auch nicht jenem Irrtum erliegen, schon das, was garantiert
kein Kitsch ist, als gedankliche Leistung anzuerkennen. Denn andauernde
Disharmonie ist kaum wirklich besser als Kitsch; auf Dauer ist sie
frustrierend und lähmend, denn ihr fehlt die emotionale erfahrbare
Synthese und damit die durch Synergie entstehende Ausstrahlung. Dennoch
sollten wir die wichtige Funktion von Disharmonie nicht verkennen,
wirkt sie doch als Herausforderung neuer Harmonie.
Ausstrahlung
Wahrnehmungsgegenstände,
die in teleonomisch fittestem Sinne zugleich als schön und wahr gelten
können, strahlen in verschiedene Dimensionen aus: sowohl in Richtung
Wahrheit, als auch in Richtung Schönheit, sowohl in Richtung Synthese
als auch in Richtung Analyse, sowohl in Richtung des Ganzen als auch in
Richtung der Teile, sowohl in Richtung des Individuellen und Soziellen
als auch in Richtung des Universellen. Entsprechend integrieren sich
die unterschiedlichen Dimensionen zu einem komplexen Schwingungsmuster.
Dessen Energie-Ausstrahlung ist umso intensiver, je besser es Synergien
zwischen den unterschiedlichen Dimensionen erzeugt, so dass diese sich
gegenseitig zu einem Ganzen integrieren und durch entsprechende
synergetische Effekte Energien freisetzen. Die Energie-Ausstrahlung
kann dabei so stark werden, dass in unserem Gehirn selbst synergetische
Effekte entstehen. Die Neuronen, die aus den unterschiedlichen
Gehirnhemisphären abgefeuert werden, verbinden sich dann zu einem
gemeinsamen Energiestrahl, der ebenso starke rationale wie emotionale
Erkenntnisse und Wirkungen hervorzurufen vermag und als ein Ausdruck
der integralen Optionen unserer Intelligenz gelten kann. Im
schöpferischen Prozess kann dabei „... ein geistiger Zustand“ erreicht
werden, „der jener Herzverfassung sehr ähnlich ist, die der
italienische Physiolog Luigi Galvani,... die Entrückung des Herzens
genannt hat.“ 10)
Ästhetischer Zweck und avancierte Kunst
Von
wahrer Schönheit zu sprechen - das betrifft daher kaum nur die äußere
Form oder irgendwelchen Perfektionismus; wahre Schönheit strahlt von
innen auf die äußere Form und über diese hinaus. Ebenso betrifft die
Schönheit von Wahrheit nicht nur die analysierbare Ordnung der
dynamischen Prozesse, sondern auch deren Anmut, Klang und Rhythmus. In
diese Richtung zielt auch Joyce, wenn er seinen Daedalus sagen lässt:
„Kunst ist das dem Menschen eigene Arrangement sensibler oder
intelligibler Materie, auf einen ästhetischen Zweck hin
ausgerichtet.“11) Allerdings kommt es darauf an, das „oder“ durch ein
„und“ zu ersetzen. Denn genau darin, dass Kunst die Relationen des
Empfindungsmäßigen und des Verstandesmäßigen in sich auf ideale Weise
zu vereinen vermag, liegt ihr Wert und die nur ihr eigene Möglichkeit
zur Produktion von Synthese, Synergie und integraler – also rational
und emotional ausgewogener - Intelligenz. Letztlich besteht genau darin
der ästhetische Zweck. Wenn aber der ästhetische Zweck in der
Produktion von Synergie, Synthese und integraler Intelligenz zu sehen
ist, dann muss Kunst auf eine optimale Rückkopplung zwischen den
teleonomisch fittesten Relationen des Empfindungsmäßigen und des
Verstandesmäßigen zielen. Denn der ästhetische Zweck eines Kunstwerkes
kann weder allein in der Wahrnehmung von Schönheit noch allein in der
Wahrnehmung von Wahrheit bestehen sondern nur darin, dass sich beide
gegenseitig potenzieren. Und so, wie aus Einsteins Relativitätstheorie
zu lernen ist, dass die unterschiedlichen dynamischen Prozesse in
bestimmten Geschwindigkeiten verlaufen und dabei Raum greifen (wodurch
Zeit und Raum ihre Absolutheit verlieren und sich als Verlaufsparameter
dynamischer Prozesse erweisen), so ähnlich haben auch Wahrheit und
Schönheit keine Absolutheit und sind als Analyse- und Syntheseparameter
dynamischer Prozesse zu verstehen.
Entsprechend sollte avancierte
Kunst im Hinblick auf die evolutiv neue Situation dazu beitragen, das
Synthesevermögen und das Empfinden für´s Ganze gesamtgesellschaftlich
so teleonomisch fittest aufzuladen, dass es sich mit einem teleonomisch
fittesten Analysevermögen und Verstehen der Teile nachhaltig zu
potenzieren vermag. Durch den nur ihr möglichen integralen
Intelligenzenergietransfer, durch die nur ihr mögliche Ganzheit,
Harmonie und Ausstrahlung ist avancierte Kunst als eine notwendige
Voraussetzung für die integrale Entwicklung der menschlichen
Intelligenz zu betrachten. Sie wäre in der Lage, in unseren
zerspaltenen Wirklichkeiten ein - vielleicht noch utopisch
erscheinendes - Moment der integralen Einheit von Schönheit und
Wahrheit aufscheinen zu lassen und damit zur Bewältigung der evolutiv
neuen Situation beizutragen.
Um nicht zu scheitern
Angesichts
dessen heißt es sich jedoch des schmalen Grates bewusst zu werden, auf
dem sich dies erreichen lässt. Denn Vorsicht, da gibt es noch etwas,
das nicht übersehen werden darf: die Wirklichkeit. In ihr wirken sich –
hier folge ich einem Gedanken des Bildhauers und Grafikers Hans Georg
Anniès - die unterschiedlichen dynamischen Prozesse (die verlogenen und
hässlichen ebenso wie die wahren und die schönen) aufeinander aus.
Wirklichkeit zu ignorieren, hieße, die Auswirkungen dynamischer
Prozesse und der ihnen zugrunde liegenden Strukturen zu ignorieren und
sich ihnen damit auszuliefern. Genau das gilt es zu vermeiden, um an
der evolutiv neuen Situation nicht zu scheitern. Sie ist so gesehen
auch die Herausforderung, Kultur als Intelligenzenergie-Generator sowie
als Werte- und Intelligenzübertragungssystem zu entwickeln. Denn nur so
werden wir künstlerisch teleonomisch fitteste Synthesen bilden und
Schönheit in die Tiefe der Gesellschaft kommunizieren können.
Berlin, 30.6.2005
1) Albert Einstein „Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie“, Akademie-Verlag , Berlin 1979, S.24 ff.
2) Manfred Eigen/Ruth Winkler „Das Spiel“, Pieper & Co. Verlag München, 1983, S. 36
3) James Joyce „Porträt des Künstlers als junger Mann”, Verlag Volk und Welt, Berlin 1979, S. 236 ff.
4) Joyce ebd. S. 238
5) Joyce ebd. S. 239
6) Immanuel Kant „Kritik der reinen Vernunft“, Reclam-Verlag, Leipzig 1979, S. 148
7) nach Eigen/Winkler „Das Spiel“, s.o., S. 380/387 / Jaques Monod „Zufall und Notwendigkeit“, dtv 1975
8) Joyce ebd. S. 242
9) zitiert nach Mathias Spahlinger aus seinem Vortrag vom 15.6.1991 während des Klangzeit-Symposiums Wuppertal
10) Joyce ebd. S. 244
11) Joyce ebd. S. 237