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Gespräch zum Glocken Requiem Dresden

Gespräch zum "Glocken Requiem Dresden" (1995)

Susanne Maasz (S.M.) im Gespräch mit Johannes Wallmann (J.W.)

S.M.: Das Requiem setzt sich aus sieben großen Teilen zusammen, die mehr oder minder ineinander übergehen, aber jeweils ganz eigene musikalische Formen vollziehen.
J.W.: Im Introitus - dem Anfangsgesang - geht es um das doppelchörige Zusammenspiel der Himmelsrichtungen. Die Himmelsrichtungen kreuzen sich, wechseln sich ab, erklingen zusammen.
S.M.: Himmelsrichtungen sind allgemeiner Natur.
J.W.: Ihr Gebrauch kann vielleicht als Hinweis darauf gelten, daß es mit dem Glocken Requiem nicht allein um Dresden, sondern um das Geschehen in allen Himmelsrichtungen geht.
S.M.: Dem schnellen Wechsel und landschaftlichen Verlauf der Klänge im Introitus folgt das Kyrie (= Herr erbarme Dich) mit dem statisch lang läutenden tiefen E der Kreuzkirche als durchgehendem Grundton. Wie ist das Kyrie aufgebaut?
J.W.: Es besteht aus fünf Teilen. Der erste, dritte und fünfte mit den je 3x3 Einzelschlägen, kombiniert mit Klängen um den Ton A. Dazwischen zwei Teile mit Variationen über dem E der Kreuzkirche. Während die Fünfteiligkeit des Kyrie auf den Tod, die Verwundbarkeit und die Endlichkeit des Menschen verweist, erzeugen die 3x3x3 Einzelschläge (die auch als Bittrufe gelten können) durch ihre Statik und Symmetrie eine fast konstruktive Formenarchitektur.
S.M.: An das Kyrie schließt unmittelbar das Graduale an.
J.W.: Graduale kommt von "gradus" - Stufe. Eigentlich bezog sich das Graduale auf den Ort, wo es gesungen wurde, nämlich von den Stufen des Ambo aus. Ich habe "gradus" wörtlich genommen. Im stufenweisen Feldverlauf wandern die Klänge (die aus dem Klang einzelner oder mehrerer Glocken resultieren) landschaftlich gesehen allmählich von Süd nach Nord. Im Wechsel zwischen Glockenchören und Einzelgeläuten, zwischen hohen und tiefen Glocken kristallisieren sich die Töne B und Des heraus, Stadtgeräusche spielen hinein. Zum Ende des Graduale verdichten sich die tiefen Töne und Klänge. Der Klang sammelt sich in der Tiefe. Aus der Tiefe kommt das Leben, in der Tiefe fließen die Wasser zusammen.
S.M.: Der Tractus (= langgezogener Gesang) wird aus der Tiefe des Graduale geboren.
J.W.: Im Tractus singen alle Geläute ihr eigenes Lied von Klang und Stille und sind doch miteinander verzahnt. Beginnend mit einem 2-minütigen Doppelgesang werden relativ kurze Läutepulse mit nachschwingenden Klängen kombiniert. Das bildet den musikalischen Grundgedanken der gesamten Tractus-Struktur. Die zu hörenden Anläutegeräuschen sind die materialen Voraussetzungen des Klingens und wurden durch Mikrofone am Glockenstuhl hörbar gemacht.
S.M.: Das Geborenwerden aus der Tiefe, die vertrackten Verzahnungen der Einzeltöne, das langgezogene Band aus Läutepulsen und nachschwingenden Klängen, das Wechselspiel von Klang und Stille - ist das nicht alles ein Sinnbild des Lebens?
J.W.: Wenn Sie so wollen. Die musikalische Struktur ist vielleicht ähnlich vertrackt und verzahnt wie die Lebensstrukturen.
S.M.: Der Tractus ist der vierte von den sieben Teilen des Requiems, steht also in der Mitte. D.h., in der Mitte der Komposition steht der Gedanke des Lebens?
J.W.: So kann man es sehen. Allerdings geht es dabei um den Pendelschlag (Glocke) zwischen Leben und Tod. Beide, Leben und Tod, bedingen sich. Und wir sind als Menschen sehr wesentlich daran beteiligt, wie sich das Wechselspiel zwischen Leben und Tod gestaltet. Darauf zielt die Widmung "Kindern als Trägern der Zukunft" und auch die Textauswahl, die ich zu dem Requiem getroffen habe.
S.M.: Ist in den Texten nicht eher auf einen Deus ex machina, der alles richten und zum Guten wenden wird, abgehoben?
J.W.: Ich glaube, daß der Mensch sich heute darüber klar werden muß, daß er selbst ganz wesentlich an der Gestaltung des Lebens und an der Entstehung von Katastrophen beteiligt ist und daß er dafür die entsprechende Verantwortung trägt. D.h. aber auch, daß er Chancen hat, Katastrophen zu vermeiden. Das allerdings kann ihm nur gelingen, wenn er an diese Chance glaubt.
S.M.: Verbinden sich für Sie mit einem dieser ausgewählten Texte vielleicht auch ganz persönliche Gefühle oder Erinnerungen?
J.W.: Ja. "Als der Herr unser Schicksal wandte und uns freiließ, da waren wir wie die Träumenden". In der Übersetzung von Luther habe ich diesen Text schon als kleiner Junge auf dem Grabstein meiner Mutter gelesen. Er beschäftigt mich also schon lange.
S.M.: Warum führen Sie eigentlich im ersten Teil der Texte ausschließlich alttestamentarische Texte an? Glocken sind doch christliche Instrumente.
J.W.: Glocken gab es - soviel ich weiß - in vielen Naturvölkern; sie sind nicht unbedingt auf die christliche Kultur zurückzuführen, auch wenn Glocken meist Glocken christlicher Kirchen sind. Glocken hatten die Bedeutung, Übel abzuwehren und wurden dafür zum Klingen gebracht.Ihre Frage nach den alttestamentarischen Texten trifft aber einen Kern der Überlegungen zur Textauswahl. Die alttestamentarischen Texte wählte ich, weil das deutsche Drama und auch die Zerstörung Dresdens nicht unabhängig von Auschwitz, von dem durch die Deutschen verursachten Völkermord am jüdischen Volk (natürlich auch nicht von dem Unglück, das die Deutschen im 2.Weltkrieg über andere Völker brachten) zu sehen ist. Die Wahl der Texte will sagen: trotz aller Schuld und allem Leid kommt es auf die gemeinsamen Bezugspunkte an, auf die sich alle Menschen immer wieder besinnen sollten. Zwischen der jüdischen und der christlichen Kultur ist das Alte Testament sicherlich ein solcher Bezugspunkt.
S.M.: Was verbindet Sie eigentlich mit Dresden?
J.W.: Ich bin in Dresden aufgewachsen und habe als Junge unseren Besuch durch die Innenstadt geführt, das waren damals noch zum großen Teil Ruinen. Auch die Idee zum Glocken Requiem hatte ihren Ursprung in meiner Dresdner Kindheit. Als etwa Zehnjähriger hörte ich an einem frühen Ostermorgen von den Höhen beim Dresdner Wilder Mann zum ersten Mal die Weite des Landschaftsklanges vieler Dresdner Glocken. Dieses Erlebnis von Weite, Klang und Landschaft war das Initialerlebnis für viele meiner Projekte.
S.M.: Kommen wir zurück auf dieses Requiem. Auf den Tractus folgt die Sequenz. Wie baut sich diese auf?
J.W.: Sequenz kommt von sequi = folgen. Sie setzt sich aus zwei grundlegenden Verläufen zusammen. Zunächst beginnend mit der Gegenüberstellung von tiefen und hohen Glocken verläuft die Sequenz einerseits im antiphonen Wechselspiel zwischen benachbarten Geläuten, andererseits wird der Gesamtklang (im Gegensatz zum Graduale, das auf die tiefen Töne hinausläuft) im Verlauf der Sequenz immer höher. Kurz vor 22 Uhr waren die höchsten Glocken erreicht und es folgen die Zehn-Uhr-Schläge. Danach nochmals ein antiphones Wechselspiel zwischen zwei Chören aus hohen Glocken.
S.M.: Wie könnte die Ansammlung und das Wechselspiel der hohen Glocken gedeutet werden?
J.W.: Friedhofsglocken sind meist hohe Glocken. Am Ende der Sequenz sind - außer den Uhr-Zeitschlägen ausschließlich hohe Glocken aktiv. Die unterschiedlichen Uhr-Zeitschläge unterstreichen diese Situation noch.
S.M.: Allen schlägt die Zeit?
J.W.: Allen schlägt die Zeit, alle sind vom Tod betroffen. Wenn hohe Glocken in Chören erklingen, dann liegt darin außerdem eine ganz besondere Dramatik.
S.M.: Gegen diese Chöre von hohen Glocken setzen Sie im Offertorium zwölf Einzeltöne.
J.W.: Die einzelnen zwölf Töne einer Zwölftonreihe. Jeder einzelne Ton ist da von höchster Wichtigkeit, seine Tonhöhe, Klangfarbe, Klangcharakteristik, seine Dauer und die Art seiner Mikrophonierung.
S.M.: Der erste Ton des Offertoriums setzt bereits auf den letzten Tönen der Sequenz ein. Werden die Chöre von hohen Glocken durch den Einzelton überwunden oder laufen sie auf den Einzelton hinaus?
J.W.: Beides. Wobei der Gedanke des Darbringens und Opferns (Offertorium kommt von offerre = darbringen) ausschlaggebend ist. Massenhafter grauenvoller Tod kann überwunden werden, wenn jeder Einzelne sich seiner Verantwortung und seines Wertes für das Leben insgesamt bewußt bleibt, sich dafür darzubringen bereit ist und es zugleich versteht, seinen individuellen Lebenssinn damit zu verbinden und danach einzurichten.
S.M.: Warum gerade zwölf Töne?
J.W.: In der Überlieferung gilt die Zahl zwölf immer auch als eine kosmische Zahl, als ein Symbol der Vollständigkeit, als Symbol der Schöpfung und des Schöpferischen, aber auch als Ziel der Zeit ...
S.M.: Mensch bedenk die Ewigkeit?
J.W.: Ja, aber auch das Leben und die Endlichkeit. So könnte man sagen, wenn wir schon Analogien ziehen.
S.M.: Setzt sich Ihre Zwölf nun aus 3 x 4 oder 2 x 6 zusammen?
J.W.: Das ist eine nicht ganz unwichtige Frage. Die Zwölf in diesem Offertorium setzt sich aus 2 x 6 zusammen.
S.M.: Was bedeutet 2 x 6?
J.W.: Die Zahl 6 gilt in der Überlieferung als eine ambivalente Zahl. Positiv ist sie die Zahl vollendeten Bauens und Werkens, negativ ist sie die Zahl menschlichen Lasters. Harry Hahn, der Bachs Wohltemperiertes Klavier diesbezüglich untersuchte, meinte: als halbe Zwölf steht an der 6 die Entscheidung, entweder zu den Ordnungen des Kosmos und des Lebenskontinuums zu finden oder sich der Egozentrik der Wünsche, Begierden und Leidenschaften zu überlassen. So gesehen sind in den Ambivalenzen der Zahl 6 Grundfragen des Überlebens der Menschheit angesprochen.
S.M.: Muß man das alles wissen, wenn man die schlichten aber wunderschönen Glockentöne des Offertoriums hört ?
J.W.: Man muß nicht. Ich glaube, daß musikalische Formen Träger von Geist sind und daß sich der Geist einer Musik auch ohne spezielles Wissen mitzuteilen vermag.
S.M.: Nach dem Offertorium kommt als letzter Teil der Sanctus.
J.W.: Der Sanctus ist die Möglichkeit, aber auch die Konsequenz, die daraus resultiert, wenn im Offertorium alle Einzeltöne zusammenwirken ohne ihre Identität zu verlieren. Der Sanctus (= heilig)ist als Zusammenwirken aller Glocken vielleicht als ein Lebensstrahl, als Ausdruck eines starken Lebenswillens, als ein klanglich wahnsinnig schöner Lobgesang von Chaos und Kosmos, als eine Feier ewigen Lebens zu hören. Beginnend mit den Geläuten im Norden und Westen verzieht sich der Klang zum Ende des Sanctus nach Süden und Osten. D.h. im übertragenen Sinne, wir richten unser Ohr nach Süden und Osten zu den Weltregionen, in denen sich die Probleme türmen.
S.M.: Trotzdem bleibt zum Schluß wieder das tiefe E der Kreuzkirche im Zentrum der Dresdner Innenstadt.
J.W.: Es ist das tiefe E aus dem Kyrie. Eine schlichte Bitte, die ein jeder in seinen eigenen Alltag hineinnehmen, selbst stellen und auch selbst erhören darf.

. Link zum GLOCKEN REQUIEM DRESDEN XXI - Aufführung zum Anti-Kriegstag am 1.9. 2022 / zu den pdf-Partituren mit den einzelnen Dresdner Geläuten

 

Gespräch zum GLOCKEN REQUIEM XXI (2006)

Susanne Maasz (S.M.) im Gespräch mit H. Johannes Wallmann (J.W.)
S.M.: Herr Wallmann, wie ist der gedankliche Ansatz des GLOCKEN REQUIEM 2005 mit dem von vor 10 Jahren verwandt?
J.W.: Bereits 1995 zielte ich mit Texten von Kindern aus vier Ländern sowie Texten aus dem Alten Testament auf einen Ansatz, der das Gedenken am 13. Februar über die Dresdner Trauer hinausheben sollte. Dafür steht auch, dass die CD zugunsten der internationalen Kinderhilfsorganisation „terre des hommes“ erschien. Angesichts der aktuellen politischen Weltlage lag es daher nahe, diesen Gedanken zu vertiefen. Und da Dresdens Zerstörung auch als eine Folge von dem, was in Auschwitz geschah, gesehen werden muss und die großen aktuellen politischen Konflikte jene zwischen der christlich/jüdischen Welt und der islamischen Welt sind, galt es für mich hier - und damit auch bei dem zentralen Gedanken aus Lessings Ringparabel - anzusetzen. Nach diesem Gedanken Lessings können alle Kulturen / Religionen als Geschwister betrachtet werden, die sich in einem Wettbewerb um die besten Beiträge für eine zukunftstragfähige Gestaltung der Welt verstehen sollten. Zugleich leitet sich die Komposition, die durch ihre Dreisprachigkeit die Geschwisterschaft der Kulturen / Religionen unterstreicht, aus der Erweiterung der Komposition von 1994/95 her.

S.M.: Der Glocken-Komposition von 1995 stehen jetzt drei 12-stimmige Chorgruppe gegenüber, die live aus der Synagoge, der Frauenkirche und dem Islamischen Zentrum Dresden übertragen werden sollten, aufgrund der Absage der Kirchenleitungen nun aber gemeinsam im Kulturpalast erklingen. Wie ist die musikalische Form der Komposition aufgebaut?
J.W.: Ich habe wie in der Komposition von 1994/95 an 7 Haupteilen festgehalten, untergliedere sie nun aber in insgesamt 17 Sätze, von denen die Mehrzahl allerdings ohne Glockenklänge erklingt.
S.M.: Sie haben sich immer wieder mit der qualitativen Zahlenbetrachtung auseinandergesetzt; was bedeuten da die Zahlen 7 und 17?
J.W.: Die 7 wird in der Überlieferung immer wieder als die Zahl „ewigen Lebens“ angesprochen. Wobei ich unter „ewigem Leben“ verstehe, mit seinem eigenen Leben dafür einzutreten, dass der Lebenskreislauf sich dauerhaft – quasi „ewig“ – erneuern kann. Im Hinblick darauf gilt es jeden Menschen jeder Kultur als ein Glied in der Kette des Lebens zu betrachten, dessen Sinn letztlich darin besteht, eigenverantwortlich dafür einzutreten, dass diese Kette nicht reisst.
S.M.: Und die 17?
J.W.: Die 17 wird unterschiedlich interpretiert; u.a. als Summe von 12 + 5. Die 12 steht für Vollkommenheit und Makrokosmos, die 5 steht für den Mikrokosmos und gilt als Zahl der Vergänglichkeit des Menschen, aber auch als Zahl des Leids. In der 17 wirken beide Zahlen - also Makrokosmos und Mikrokosmos – zusammen. Deshalb wird die 17 auch als Zahl der Meditation und des Gebets, als Zahl der Zwiesprache  zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos gesehen.
S.M.: Die Komposition beginnt und endet dreisprachig mit dem Text von Anne Frank.
J.W.: Ich halte den Text von Anne Frank für weise und sehr weitblickend. Es berührt mich tief, dass er von einem 14-jährigen Mädchen formuliert wurde, das durch Deutsche nach Auschwitz deprotiert wurde. Der erste Einsatz der Glocken direkt auf der letzten Silbe von ihrem Text soll nicht nur an den Zusammenhang zwischen dem, was in Auschwitz geschah, und der Zerstörung Dresdens erinnern, sondern ist auch der Beginn einer Struktur, die in alle Himmelsrichtungen und damit über Dresden hinausweist.
S.M.: In diesem Satz kommt zu dem Klang der Glocken um den Ton „f“ der Sprechgesang aller drei Gruppen in deutscher Sprache. Warum in deutscher Sprache?
J.W.: Ich wollte den alttestamentarischen Text damit ganz auf das von Deutschland ausgegangene und dahin zurückgekehrte Unglück fokussieren. Ich meine, genau an diese Relation gilt es sich am 13. Februar zu erinnern.
S.M.: Ursprünglich hatten Sie daran gedacht, Worte aus den Totenritualen der drei Religionen und damit auch den jüdischen Kaddisch in die Komposition einzubeziehen. Stattdessen erklingen nun im dritten Satz Worte aus dem 18-Bitten-Gebet. Warum?
J.W.: Nachdem ich mich näher damit befasst habe, fand ich Zurückhaltung angebracht. Den jüdischen Kaddisch z.B. dürfen nur Menschen sprechen, deren Eltern bereits gestorben sind. Durch Lior Navok, einen jungen israelischen Komponisten, der mir in einer wunderbaren Zusammenarbeit wichtige Information zur Lautbehandlung der Texte gab, wurde ich darauf gestoßen. (Ich hatte großes Glück, dass er gerade zu dieser Zeit in Berlin war!) Für mich eine anrührende Erkenntnis war auch, dass in der jüdischen Religion nicht über den Tod geklagt wird, sondern stattdessen Gott gepriesen und gelobt wird. So steht der Text aus dem 18-Bitten-Gebet an dieser Stelle ganz richtig. Entsprechend habe ich mich auch darauf beschränkt, aus dem Koran Texte auszuwählen, die für das Nachdenken über den Tod und den Sinn des Lebens stehen können, aber nicht direkt mit der islamischen Totenfeier verbunden sind. Die Lautbehandlung der hocharabischen Texte beriet Beshir Hussain, ein junger Berliner Koranrezitator. Auch das war eine sehr gute Erfahrung.
S.M.: Sie bleiben trotz der Hörfenster, die in Ihrer Komposition zum Judentum und zum Islam geöffnet werden, nah am christlichen Requiem. Es tauchen in verschiedenen Sätzen wie Wasserzeichen Worte aus dem lateinischen Requiem auf.
J.W.: Ich denke, dass es sehr entscheidend ist, sich mit der eigenen Kultur und Religion auseinanderzusetzen. Allerdings kann das angesichts der Globalisierung nur dann funktionieren, wenn wir zugleich bereit sind, unsere eigene Kultur und Religion zu relativieren und sie im Zusammenhang mit anderen Kulturen und Religionen zu verstehen.
S.M.: Ist es ein Versehen, wenn im Kyrie der Bittruf nicht mit „Kyrie“ sondern immer wieder mit „Christe“ beginnt?
J.W.: Manchmal ist es richtig, die Betonungen ein wenig zu verschieben. Es gingen mir an dieser Stelle Überlegungen durch den Kopf, wie Joseph Beuys sie einmal aufschlussreich über die in jedem Menschen vorhandene Christus-Substanz formulierte. Solche Denkhinweise halte ich auch deshalb für angebracht, weil die Amtskirche moderne theologische Überlegungen ziemlich weitgehend ausgrenzt (was m.E. einer Katastrophe gleichkommt).
S.M.: Im Zentrum der Komposition steht der Tractus, in dem es neben dem Text von Karolina aus Ex-Jugoslawien auch um eine Hinterfragung dessen geht, was als „Geist“ und als „ewiges Leben“ gelten kann.
J.W.: Der Text von Karolina ist für mich genauso erstaunlich wie der von Anne Frank. Er thematisiert, dass der Mensch trotz seiner hohen technologischen und wissenschaftlichen Erungenschaften im Begriff ist, sich selbst in den Tod zu führen. Offenbar ist dem Menschen der Zugang zu entscheidenden Informationen versperrt. Und das betrifft nicht nur die o.g. Kette, sondern auch ein Verständnis von „Geist“ als weit über das Rationale hinausgehende Intelligenz. Jene höchste Intelligenz, aus der heraus sich Kosmos und Natur organisieren, ist hochaktuell und teilt – sowohl positiv als auch negativ - ihre Informationen auf unterschiedlichste Weise mit. Bei Ignoranz und schweren Fehlern sogar mittels großer Katastrophen. Es ist immer nur die Frage, ob und inwieweit wir Menschen bereit sind, uns dieser höchsten Intelligenz zu öffnen und damit an ihr teilzuhaben. Wenn das gelänge, so wäre auch Karolinas Frage nicht umsonst gestellt.
S.M.: Wie ist es zu deuten, wenn im 15. Satz (Tractus) das erste Mal eine Umkehrung jener Zwölftonreihe auftaucht, die im Offertorium durch Glocken erklingt? Vielleicht als Bestandteil jener Zwiesprache, von der anfangs die Rede war?
J.W.: Ja, so ähnlich. Diese Zwölftonreihe taucht – nun geteilt in zwei 6-tönige Akkorde – übrigens auch in Satz 14 auf. Die Antwort (hier in dem mehrere tausend Jahre alten hebräischen Text), die Hiob auf sein Hadern erfährt, erklingt aus diesen Akkorden.
S.M.: Vorher aber ist die Sequenz zu hören. Immer höher steigende Glockenklänge und dazu wird von Chor 2 ein Motiv gesungen, fast ein Zitat aus dem Brahms-Requiem.
J.W.: Die Glockenklänge in der Sequenz steigen höher und höher, bis keine höheren Glocken mehr vorhanden sind und enden dann mit den 22-Uhr-Schlägen. „Herr, lehre doch mich“ wird 2x (in der Stimmenzahl jeweils verdoppelt) wiederholt und endet nach dem dritten Mal ebenfalls genau bei den Uhrzeit-Schlägen. Das Motivzitat aus dem Brahms-Requiem ist im übrigen verbunden mit einem Motivzitat aus dem Bachchoral „Es ist genug“, den wiederum Alban Berg in sein Violin-Konzert einbezog.
S.M.: Mir scheint, dass in der Sequenz sich alles zuspitzt. So antwortet nach dem „Dies irae“ der Koranrezitator mit dem sehr eindrücklichen Koranversen „Wenn die Sonne zusammengefaltet ... dann wird jede Seele wissen, was sie getan“.
J.W.: Ja, es ist richtig, in der Sequenz spitzt sich einiges zu. Nicht nur, dass jedem von uns die Zeit schlägt, sondern eben auch – hier mittels des Koranverses – in der Frage nach dem, was jeder als Glied der eingangs erwähnten Kette mit seinem eigenen Leben beigetragen hat zum „ewigen“ Kreislauf des Lebens.
S.M.: Auf die Koranrezitation setzt ziemlich unmittelbar die erste Schrei-Meditation ein.
J.W.: Es bedurfte für die Verknüpfung der Gedanken einer besonderen Lösung. Als ich danach suchte, fiel mir ein Konzerterlebnis ein, dass ich vor ca. 5 Jahren hatte, bei dem der junge Komponist Peter Köszeghy Schreier einsetzte. Das war für mich damals absolut überzeugend und ich meinte, dass es genau hier der richtige Punkt sei, sich darauf zu besinnen. Und so habe ich mit Peter Köszeghy Kontakt aufgenommen, ob und wie das zu realisieren sei.
S.M.: Peter Köszeghy sagt, dass das Schreien zu einer tibetanischen Meditationstechnik gehört, über die recht wenig bekannt ist.
J.W.: Ja, ich habe selbst auch versucht, Näheres zu erfahren, was allerdings nicht gelang, dafür aber einen ganz eigenen Zugang entdeckt. So sind nun ganz unterschiedliche Motivationen für die drei Schrei-Meditationen formuliert, die u.a. die Unterscheidung zwischen menschengemachtem und naturverursachtem Leid betreffen. (Auf letzteres erfolgt übrigens die 2x 6-tönige Antwort aus dem Hiobtext.) Das wiederum bedeutet, dass es Vorgänge in Kosmos und Natur gibt, die wir als solche einfach hinzunehmen und uns ihnen zu unterwerfen haben, auch wenn sie Leid mit sich bringen. (Wir können allerdings einiges tun, dieses Leid zu mindern.) Ganz anders dagegen das durch den Menschen verursachte Leid. Es ist im Prinzip steuer- und verhinderbar, wenn wir dafür die entsprechende Intelligenz und seelische Ausgewogenheit entwickeln.
S.M.: Nach der ersten Schrei-Meditation erklingt choralähnlich „Seelig sind, die das Leid tragen“. Auch dieser Text kommt im Brahms-Requiem vor.
J.W.: Aber auf eine ganz andere Weise, nicht nur klanglich. Brahms legt die Betonung auf „Leid“, hier wird die Betonung auf „tragen“ gelegt. Und so wird „da“ zum „das“. Ein wesentlicher Unterschied. Denn es kommt für unser aller Zukunft darauf an, das Leid und die Probleme der Welt auf sich zu nehmen, erst recht im Hinblick auf mögliche Lösungen und Linderungen. Im Prinzip hat jeder Mensch dafür eine ganz natürliche Fähigkeit, wie die spontane Solidarität bei der Flutkatastrophe gezeigt hat. Treten allerdings Machtinteressen, Ichsucht oder Ignoranz  dazwischen, wird diese Fähigkeit blockiert.
S.M.: Obwohl der 15. Satz nur mit Glocken und ohne Worte erklingt, hat er eine bedeutungsvolle Überschrift.
J.W.: Die Zusage dieser Überschrift wird von den 12 Tönen, also von dem makrokosmischen Prinzip, getragen.
S.M.: Im direkt anschließenden Sanctus, der – wie Sie 1995 formulierten – als eine Feier ewigen Lebens, als ein Lobgesang von Chaos und Kosmos zu hören ist, wird diese Zusage nun expressis verbis durch Chor 1 und Chor 2 gesungen, die ja ursprünglich beide aus nicht christlichen Sakralräumen erklingen sollten.
J.W.: Wie im 2. Satz, so sind auch im vorletzten Satz die Chöre 1 und 3 zu Glockenklängen und in deutscher Sprache zu hören. U.a. eben mit der Zusage aus dem Offertorium. Wenn Sie so wollen: Die höchste Intelligenz spricht zu uns auch durch Menschen aus anderen Religionen / Kulturen. Zum Schluss wird es jedoch wieder dreisprachig und wir kehren auch musikalisch ganz zum Anfang zurück. Der Satz von Anne Frank erfährt dabei selbst eine Metamorphose. Und indem er nun auf den Qumran-Text „... und weiss, dass eine Hoffnung ist für den Menschen“ mit „sofern die ganze Menschheit eine Metamorphose durchläuft“ antwortet, kehrt auch der Klang wieder ganz zum Hier und Jetzt unserer Realitäten zurück. Denn es gilt von da aus die Metamorphose in Gang zu setzen.

 

 

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