Musik als Intelligenzenergie (2006)
veröffentlicht in: "liberal", 2007 und in: "positionen" Nr. 73/ November 2007
"um die Mitte" - Musik im Raum für vier Spieler von H.Johannes Wallmann (click here)
H. Johannes Wallmann: Musik als Intelligenzenergie
Als ich etwa 10 Jahre alt war,
stand ich an einem frühen Ostermorgen auf den Hängen hoch über meiner
Heimatstadt Dresden und hörte, wie das Ostergeläut aller Dresdner
Glocken begann. Es war eine neblig-feuchte Luft, so dass sich die
Klänge wunderbar übertrugen. Dazu wehte ein kaum merklicher Wind, der
die Klänge verschob, so dass auf sehr zarte und ferne Weise immer
wieder neue Klangkombinationen und Klangfolgen hörbar wurden. Dieses
Erlebnis von Weite, Klang und Landschaft wurde bedeutsam für mein
gesamtes künstlerisches Schaffen. Nicht nur, dass daraus viele Jahre
später die Komposition meines GLOCKEN REQUIEM DRESDEN hervorging (das
mittels 52 live geschalteter Telekomleitungen 129 Dresdner
Kirchenglocken vernetzte, die nach meiner sekundengenau notierten
332-seitigen Partitur geläutet wurden), sondern es war auch Impulsgeber
für Ideen, die weit über Musik hinausgehen und mich letztlich zur
Formulierung der Vision und Philosophie einer INTEGRALEN MODERNE
geführt haben (was soeben als Buch erschien).
Doch was
eigentlich ist Musik? Ob sie von fern oder nah erklingt, ob sie
ernsthafteste Konzentration erfordert oder beiläufig daherkommt, ob sie
Gewohntes bestätigt oder Neues erfahrbar werden lässt, ob sie
entspannend wirkt oder aggressiv macht, ob sie intelligent oder dumm
erscheint - es kann kein Zweifel bestehen: Musik ist
Informationsübertragung. Sie findet mittels des Hörens und der
ästhetischen Wahrnehmung statt. Und je nachdem wie die
Wahrnehmungsresonatoren und -filter eines Menschen konfiguriert sind,
so vermag Musik ihn emotional zu beeinflussen. Musik trägt somit – und
je nach ihrer Qualität (wie u.a. an der Idolmusik Jugendlicher zu
sehen) - entscheidend zur emotionalen Entwicklung eines Individuums
sowie seiner Intelligenz bei. Denn die menschliche Intelligenz ist
weder allein rationaler noch allein emotionaler Natur; sie entwickelt
ihre Potentiale erst im Zusammenwirken von beiden.
Betrachten
wir unter diesem Gesichtspunkt die Werke großer Meister, etwa die von
Bach und Mozart, so ist klar zu erkennen, dass sie ohne rationale
Überlegungen und Kompositionstechniken nicht hätten entstehen können.
Ebenso klar ist, dass sich in ihrer Musik Rationales und Emotionales -
als die zwei unterschiedlichen Seiten ein- und derselben Medaille -
gegenseitig integrieren. D.h., dass uns in solcher Musik emotional
wahrnehmbare integrale Intelligenzenergien entgegentreten. Allerdings
liegt deren Aktualitätszenit bereits Jahrhunderte zurück. Da für die
Bewältigung der Gegenwart die emotionalen Relationen der menschlichen
Intelligenz (oder die „Relationen des Sensiblen“, wie James Joyce es
nannte) nicht von minderer Bedeutung als die rationalen sind, wäre es
eine Bankrotterklärung an unsere Evolution, den ästhetischen
Informationstransfer überwiegend in Vergangenheiten oder auch
Gewohnheiten, Unterhaltsamkeiten, Kitsch, Klischees und Idolismen
dahindümpeln zu lassen. Deshalb ist es - erst recht angesichts jener
Herausforderungen, die mit den modernen Wissenschaften und Technologien
verbunden sind - entscheidend, die ästhetische Wahrnehmung mit frischem
und qualitätvollem Futter zu versorgen. Denn nur so können wir die
menschliche Intelligenz emotional angemessen konditionieren. Es wäre
ein schwerer Irrtum, diesbezüglich allein auf Wissenschaft und Technik
zu setzen. Denn: „Wenn Wissenschaft und Technik den Anspruch erhöben,
ethische Imperative vorzugeben, führte das die Menschheit in die
moralische Katastrophe“ schrieb Neil Postman zum Aufsatz„In Defense of
Poetry, den Percy Shelley 1821 verfasste. Hätte Shelley seinen Aufsatz
„1944 verfasst, hätte der Holocaust ihm noch gewichtigeres
Anschauungsmaterial geliefert. Allein durch Liebe, Zärtlichkeit und
Schönheit, so schrieb Shelley, werde das Gemüt empfänglich für
moralischen Anstand, und die Dichtung sei das Medium, das Liebe,
Zärtlichkeit und Schönheit besser kultiviere als jedes andere. Die
poetische Imagination, nicht die wissenschaftliche Leistung, sei der
Motor des moralischen Fortschritts“.
Abgesehen davon, dass
Ethik und Moral klar zu unterscheiden sind (und es im Sinne der Zukunft
um Ethik und nicht um Moral geht - worauf ich hier allerdings nicht
näher eingehen will), ist es nicht allein die Dichtung, sondern sind es
die avancierten Künste überhaupt, die für den Fortschritt unserer
ethischen Erkenntnisse sowie für die Entwicklung der poetischen
Imagination von Belang sind. Doch kommt es nicht allein auf die Künste,
sondern ebenso auf die kulturellen Strukturen an. Denn Kultur
konfiguriert die Gemüter. Sie sollte – modern und integral gedacht -
das Übertragungssystem für Intelligenzenergien sein, die die
Wahrnehmung ästhetisch trainieren und unser Gemüt empfänglich machen.
Kultur und Kunst befinden sich zudem in einem ähnlichen Verhältnis wie
Hardware und Software, weshalb es sie in Gegenseitigkeit zu entwickeln
gilt. Es geht dabei um die Essentials menschlichen Lebens: um die
integrale Entfaltung der menschlichen Intelligenz, um die Kultivierung
von Liebe, Zärtlichkeit und Schönheit, um ethische Erkenntnisse sowie
um neue Erfahrungen und Reflektionen von Gesamtzusammenhang. Denn einer
der großen Vorzüge der ästhetischen Wahrnehmung und der Künste liegt
darin, dass sie Gesamtzusammenhänge emotional erfahrbar machen können.
Die
mit einem entsprechenden ästhetischen Informationstransfer verbundenen
Emotionen können starke Kräfte entfalten und zahlreiche Folgen nach
sich ziehen. So machte mich z.B. das Initialerlebnis jenes Ostermorgens
im Laufe der Jahre nicht nur empfänglich für eine entsprechende
poetische Imagination (aus der u.a. die o.g. detaillierte Komposition
für alle Dresdner Glocken entstand), sondern es öffnete mich auch
dafür, in Gesamtzusammenhängen zu denken und Musik als
Intelligenzenergie sowie als eine Frage der akustischen Gestaltung der
menschlichen Lebenswelten zu definieren. Später führte es mich sogar
dazu, mittels meiner Raum- und Landschafts-Klangprojekte vielen
tausenden anderen Menschen ästhetische Erfahrungen und emotionale
Erlebnisse von Gesamtzusammenhang zu ermöglichen. Und solche
Erfahrungen und Erlebnisse sind wichtig. Denn je tiefer wir mittels
moderner Technologien in die Lebensgrundlagen sowie in die Gestaltung
des menschlichen Lebens selbst eingreifen können, umso besser und
integraler muss unsere Intelligenz und Sensibilität entwickelt sein,
umso mehr gilt es unsere Wahrnehmung ästhetisch zu trainieren und unser
Gemüt empfänglich zu machen für den Gesamtzusammenhang des Lebens.
Andernfalls werden wir technologischen Eigendynamiken umso schutzloser
ausgeliefert sein und die entsprechenden Katastrophen ihren Lauf nehmen.
Schaut
man sich unter solchen Gesichtspunkten die kulturellen Strukturen und
Programme, z.B. die der Öffentlich-Rechtlichen Medien – also die
ureigenen Kommunikationsinstrumentarien der demokratischen Gesellschaft
– an, dann wird schnell klar, dass sie wenig mit einem avancierten
ästhetischen Informationstransfer zu tun haben und dass diesbezüglich
eine enorme Vereinseitigung an der Tagesordnung ist. Offenbar geht es
den Öffentlich-Rechtlichen Medien überwiegend darum, ästhetisch eine
Art Opium für´s Volk zu verbreiten. Für avancierte ästhetische
Informationen (wie avancierte Musik) bleiben daher kaum Sendeplätze.
Aber„Inhalte und Personen, die nicht im Fernsehen sind...haben einfach
keine Chance, von den Menschen unterstützt zu werden. … Sie
verschwinden aus dem kollektiven Bewusstsein“ - schreibt Manuel
Castells in seinem Buch „Das Informationszeitalter“.
Die
Ausgrenzung von grundlegenden ästhetischen Informationsströmen (wie
eben jenen, an denen tausende teuer ausgebildete Komponisten arbeiten)
sowie die damit einhergehende Vereinseitigung des ästhetischen
Informationstransfers kann jedoch nicht im Interesse einer
demokratischen Gesellschaft liegen. Denn dies käme - auch dann, wenn
die Einschaltquoten ins Kalkül gezogen werden – der Unterschlagung von
Intelligenzenergie und damit einer Art Volksverdummung gleich. Wenn
Einschaltquoten dazu führen, das ästhetische Niveau der Sendungen der
Öffentlich-Rechtlichen Medien immer weiter abzusenken, dann sind sie –
anstatt sie als direkte Herausforderung einer besseren
Vermittlungsqualität zu begreifen – grundlegend falsch interpretiert.
Geschieht diese Fehlinterpretation absichtlich? „Wenn wir einmal unsere
Sinne und unser Nervensystem der persönlichen Manipulation jener
überlassen haben, die unsere Augen und Ohren pachten und Zinsen daraus
zu schlagen versuchen, bleiben uns eigentlich keine Rechte mehr“ –
schreibt dazu Marshall McLuhan hellsichtig in „Unterstanding Media“.
So
gesehen, gilt es in einem fairen gesellschaftsweiten Wettbewerb darauf
hinzuwirken, dass jeder Mensch - als verantwortlicher Teilhaber an dem
großen Selbstorganisationssystem Leben - seine Intelligenzpotentiale
frei entwickeln, ausschöpfen sowie seine Relationen des Sensiblen mit
frischem und qualitätvollem ästhetischen Futter versorgen kann. Die zur
Verfügung stehenden Potentiale und Strukturen – wie die
Öffentlich-Rechtlichen Medien – gilt es dafür in vollem Umfang zu
nutzen.
Dass ein entsprechender avancierter ästhetischer
Transfer gelingen kann und dass große Teile der Bevölkerung diesem
längst nicht so unaufgeschlossen gegenüber stehen, wie allgemein
angenommen, dafür habe ich seit Anfang der 90er Jahre mit meinen Raum-
und Landschaftsklang-Kompositionen den Beweis angetreten. Denn ich
hatte (z.B. mit KLANGZEIT im Wuppertaler Stadt- und Landschaftsraum,
mit KLANG FELSEN HELGOLAND an 850 m der Steilküste, mit INNENKLANG im
Berliner Dom, mit MAN-DO im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie,
mit DER BLAUE KLANG in den Wörlitzer Anlagen) immer wieder das Glück,
Tausende in den Bann neuer avancierter Klänge ziehen zu können.
Zahlreiche Hörerbriefe und Statements bezeugen dies in
hochinteressanter Weise. Als DeutschlandRadio, MDR, BBC und Radio
Washington 1995 das GLOCKEN REQUIEM DRESDEN live übertrugen, soll es
bei DeutschlandRadio Nachfragen wie nie zuvor zu einem Werk gegeben
haben. Doch wurde in den Sendern an solchen Erfahrungen nicht
angeknüpft. Kein Wunder also, wenn mir einfache Leuten bei meinen
Projekten nicht selten die Frage stellten, weshalb solche Musik in den
Medien nicht zu hören sei. Angesichts der Programme und Sendeschienen
ist das eine absolut berechtigte Frage.
Allerdings
unterscheidet sich jene avancierte Musik, wie ich sie vertrete, von
vieler anderer. So begebe ich mich schon beim Entwurf meiner Projekte –
für die oftmals wochenlange Recherchen notwendig sind – auf die Suche
nach Klang und neuer Harmonie. Mit der Realisierung der Projekte sind
die Hörer dann aufgefordert, sich auch selbst auf diese Suche zu
begeben. Und da viele Menschen sich – ob bewusst oder unbewusst –
ohnehin auf solcher Suche befinden, wird diese Aufforderung bisher
stets sehr gut akzeptiert. Dabei hat Harmonie, wie ich sie verstehe,
nichts mit Kitsch und Klischees zu tun, sondern muss - auch in
übertragenem Sinne - immer eine Suche danach sein, wie Divergierendes
auf einen gemeinsamen Nenner bzw. untereinander in Ausgleich gebracht
werden kann. Zudem steht Harmonie in einem direkten Verhältnis zu
Disharmonie, derer es bedarf, um neue - der jeweiligen Zeit angemessene
- Qualitäten von Harmonie herausbilden zu können. Denn Harmonie ist
nicht absolut, sie hat sich nicht nur in den verschiedenen Kulturen
sehr unterschiedlich entwickelt, sondern muss – nicht zuletzt in der
Einheit schöner und zugleich wahrer Relationen des Sensiblen - immer
wieder neu errungen und gestaltet werden. In diesem Sinne ist Harmonie
Synthesebildung und eine gedankliche Leistung. Mangelt es an dieser,
kommt es zu Kitsch und Klischees. Das Tolle ist, dass Harmonie im o.g.
Sinne durch Musik emotional unmittelbar erfahren werden kann. Und diese
emotionale Erfahrung ist für die integrale Entwicklung der menschlichen
Intelligenz ebenso grundlegend, wie sie den integralen Einsatz von
Intelligenz voraussetzt.
Erkennen wir Selbstorganisation (und
das heißt letztlich die Entwicklung von Intelligenz) als ein evolutives
Grundprinzip des Lebens an, dann sind wir Menschen es selbst, die
angesichts moderner Technologien darüber entscheiden, ob sich der
Mensch als „zu dumm zum Überleben“ erweist (wie der Verhaltensforscher
Konrad Lorenz meinte) oder ob er sich genügend integrale
Intelligenzenergien zu erschließen vermag, um auf Dauer überleben zu
können. Die Frage der Entwicklung menschlicher Intelligenz ist also
nicht allein eine Frage unserer Freiheit, sondern eine Frage unserer
Zukunft. Weil wir dies ignorieren und unsere Sinne allzu oft
verpachten, geben wir nach wie vor das mit dem Feuer spielende Kind.
Doch indem wir technologisch tief in die Lebenszusammenhänge
eingreifen, entsteht unabweisbar die Notwendigkeit, die daraus
erwachsende Verantwortung wahrzunehmen. So bilden die modernen
Technologien eine direkte Herausforderung, die menschliche Intelligenz
integral zu entwickeln und die - gegenwärtig mehr oder minder auf
Unterhaltung und Vergangenheit orientierten - kulturellen Strukturen
so umzugestalten, dass die Kommunikation von avancierten ästhetischen
Intelligenzenergien gesellschaftsweit gelingt. Dies bedeutet letztlich
auch, das vorhandene künstlerische Potential dafür einzusetzen und zu
fördern, anstatt es aufgrund veralteter kultureller Strukturen zu
ignorieren, zu verschleißen oder auf den Abstellhalden von Hartz IV zu
entsorgen. Entsprechend gilt es auch Musik erst noch zu entdecken als
eine der schönsten und einfachsten Möglichkeiten, Intelligenzenergie in
die Tiefe der Gesellschaft zu übertragen.
H. Johannes Wallmann
INTEGRALE MODERNE
Vision und Philosophie der Zukunft
PFAU-Verlag
ISBN 3-89727-332-2
ISBN 978-3-89727-332-0
29.-€