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Flügelschlag eines Schmetterlings (1993)

veröffentlicht in „positionen“ Nr. 16 / 1993

Flügelschlag eines Schmetterlings (von Johannes Wallmann)

Die Reduktion der Masse von Möglichkeiten auf einen (musikali-
schen) Baustein, aus dem sich die gesamte Struktur einer Kompo-
sition entfaltet, hatte bei mir vielleicht zunächst etwas mit dem
Drang zu tun, mein kompositorisches Handwerk zu vervollkommnen.
Dahinter stand jedoch auch eine zunehmende Abneigung gegen die
Pauschalität und Opulenz, mit der aus expressiven Gesten Töne
und Rhythmen benutzt werden, um Ausdruck auf Ausdruck zu häufen.
Je weniger mich die pathetisch-opernhafte Ausdrucksphantasie in-
teressierte, umso mehr wollte ich zu einer Musik gelangen, die das
Konstruktive und Organismische, das Empfind- und das Versteh-
bare integral aus einem Baustein, ja aus Einzelton und Pause ent-
faltet. Das konstruktive Moment in der Musik (Bach, Webern,
Boulez, Xenakis waren darin Meister) interessierte mich im Ge-
gensatz zu opernhafter Pathetik so sehr, daß ich mich ihm über
den Baustein und die Kreation musikalischer Moleküle zu nähern
suchte.

Bei der Arbeit mit musikalischen Molekülen und Bausteinen machte
ich die Erfahrung, daß die Beziehungen zwischen den aus den Mole-
külen entfalteten Elementen zu der entscheidenden Frage einer Komposition werden. Die Frage lautete folglich nicht nur, was
für ein Material, sondern: welche Beziehungen bestehen zwischen
seinen Elementen, welche können daraus entfaltet werden, welche
Prozesse entstehen dabei, welche Funktionen benötigen welche For-
men und welche Formen ermöglichen welche Funktionen? Das sind un-
geheuer interessante Fragen, denn in ihrer Beantwortung schließt
sich die Gesamtidee einer Komposition, ja, eines gesamten künstle-
rischen Schaffens zur Gestalt des kleinsten Moleküls und der kon-
kreten kompositorischen Arbeit kurz. Die Frage des Komponierens
ist für mich vorrangig also weder eine Materialfrage, noch eine Frage der künstlerischen Intention, sondern stets beides zugleich. Materialfetischismen interessieren mich ebenso wenig, wie sich auch die künstlerische Intention allein in der musikalischen Struktur und ihrer angemessenen interpretatorischen Umsetzung bewahrheiten muß. An der Einheit und Spannung der unterschiedliche Ebenen des künstlerischen Schaffens entzündet sich die Idee einer jeweiligen Komposition, von der Arbeit mit dem kleinsten Teilchen bis hin zu dem kulturellen Umfeld, in dem diese Arbeit seine (welche?) Funktion erhalten soll.

Mit der Neuordnung des musikalischen Materials durch Schönberg und
Hauer nahm die Entwicklung der neuen Musik einen Anfang, dem Cage
eine radikale tabula rasa hinzufügte. Durch sie wurde die Neuordnung des musikalischen und des akustisch-gestalterischen Denkens unumgänglich. Gerade im Hinblick darauf, daß mit den Zufallsope- rationen von Cage akustisch ähnliche Ergebnisse erzielt werden konnten, wie mit seriellen Kompositionen, stellte sich die Frage
des Komponierens neu. Auch angesichts mancher interessanter Im-
provisationen und all dem, was die Zufallsgeneratoren der Computer
bringen, muß gefragt werden, wodurch sich der Wert des Kom- ponierens gegenüber jenem des Improvisierens bestimmt. Die kon-
zentrierte gedankliche Arbeit, die sich in einer Musik der Reduktion, in ihren Formen und Funktionen unter Vermeidung von Klischees verwirklichen kann, ist sicherlich eine der stichhaltigen Antworten auf diese Frage. Der Komponist kann trotz der gedanklichen Strenge seiner Kompositionen seine Individualität ebenso wahren, wie er sie in universellen Zusammenhängen transzendieren kann. Bei der konstruktiven kompositorischen Arbeit sollte im Auge behalten werden, daß sich bei der akustischen Umsetzung konstruktive kompositorische Struktur und musikalische "Unmittelbarkeit" keineswegs ausschließen müssen. Das dazu entgegengesetzte Dogma der neuen Musik, das manche Apologeten noch immer mit sich rumschleppen, darf getrost fallen gelassen werden. Vorausgesetzt natürlich, daß durch diese "Unmittelbarkeit" nicht alte Kamellen und Klischees vergangener Zeiten aufgewärmt werden. Letzteres kann man sicherlich weder einem Cage, noch einem Feldman, noch einem Nono oder einem Scelsi vorwerfen.

Reduktion auf das Wenige - eine Entrümpelung

Vom Verkehrslärm über das Radio bis hin zum Konzertsaal stehen wir
immer wieder unter einem akustischen Dauerfeuer von Lärm- und
Klangmassen, die auf uns einstürzen. Die Reduktion auf das Wenige
kommt einer Entrümpelung akustischer Lärm- und Klangmassen gleich.
Zugleich liegen in der Reduktion auf das Wenige auch Optionen zur
akustischen Gestaltung unseres Alltages (durch Klangmassen würde
diese nur unsinnig), denn sie erlaubt es, mit diesem Wenigen höchstgenau und konzentriert umzugehen, es entsprechend präzise
zu plazieren und in Beziehung zu bestimmten anderen Elementen un-
seres Alltagslebens zu setzen. Auch schärft sich in der konzen- trierten gedanklichen Arbeit, die die Musik der Reduktion erfordert, das kompositorische Handwerk. Musik der Reduktion ist vielleicht eine Chance, der lauten und ichsüchtigen Beliebig- und Betriebsamkeit (die auch in der neuen Musik sehr verbreitet ist) zu entkommen, ohne sie verdrängen zu müssen.

Ein Beispiel, wie auf nur einer Tonhöhe ein Kanon aus Dauern, Dynamik, Klangfarben und Richtungsverläufen gebildet ist: "um die Mitte" aus der >suite moderabel<. Achten Sie bitte, daß die vier Instrumente im Raum um das Publikum verteilt sind und daß der Einsatz der Instrumente bei diesem Beispiel in eine Richtung verläuft, die Anschlüsse der Dauern 4 genau in die entgegengesetzte Richtung. Alle o.g. Parameter (die Besetzung ist frei) spielen in der gesamten Komposition eine maßgebende Rolle.

Beispiel >um die Mitte< (1988)

Die Achse "fis'" ist maßgebend für die gesamte Komposition, doch
werden in unterschiedlichen Richtungsverläufen auch die Tonhöhen
"gis'" und "e'" ins Spiel einbezogen.

Mit organischer Wucherung hat das kaum etwas zu tun, aber mit einer klaren und einfachen Konstruktion, die den Ausgangspunkt einer Kombinatorik bildet, die sich dann ihrerseits allerdings eher organismisch anhört. Erst der Verzicht auf das Viele und die großen Kontraste erlaubt es, die feineren Nuancen wahrzunehmen, von ihnen her das Spiel in Gang zu setzen.

Es sei erwähnt, daß bei solcherart reduziertem Material die Be-
deutung von Grundgestalt, Umkehrung, Spiegel, Krebs usw. für die
Syntax einer Komposition sehr wichtig ist. Ich mußte viel Zeit darauf verwenden, bis ich hinter ihren Sinn gestiegen bin. Diese Gestaltbildungen haben eine Bedeutung, die über die seriellen
Kompositionstechniken weit hinausgehen, jedoch unserem Bewußtsein
verloren gegangen zu sein scheinen. Der Unterschied, den das klangliche Ergebnis bringt, ist m.E. enorm, wenn man es auch nur
spüren kann und für Analytiker kein Unterschied entsteht (es sei
denn, die Analytiker würden sich auch mal wieder mit solchen Fragen beschäftigen).

Die Pause

Die Pause spielt in der "Musik der Reduktion" und auch in meiner
Arbeit eine wichtige Rolle. Sie ist da nicht die Spannungspause, wie sie in der Musik vergangener Zeiten eine große Rolle spielte, sondern bildet ein ständiges Kontinuum, das immer wieder aus dem Hintergrund hervortritt und dem Vordergrund verflochten ist. Die Pause verbindet und trennt sogleich, sie stellt die einzelnen Elemente in einen Raum, der für Momente seine Unendlichkeit oder Gebrochenheit ahnen läßt. Die Pause zwingt das Ohr, schockiert es und macht es trotzdem frei. Die Pause ist ein Phänomen, durch das Zeit und Raum vergleichbar verschmelzen, wie in klingender Musik. Und doch ist sie etwas ganz anderes als diese, denn sie schafft einen Leerraum, der jeden Zuhörer auf sich selbst zurückwirft, jeden mit sich allein läßt. Je nach Art der Töne, Klänge, Rhythmen, durch die die Pausen begrenzt sind, werden sie in Richtung Alltagszeit oder Unendlichkeit ins Schwingen gebracht. Bei Cage's 4'33'' tendiert die Pause oft in Richtung Alltagszeit, bei Feldman geht sie eher in Richtung Unendlichkeit.

Hier ein Beispiel, wie der Hintergrund der Stille durch wenige auf- oder absteigende Tonfiguren zum Hauptgegenstand einer Komposition werden kann. Jede kleinste Anschlagsintensität, die Führung der Linien, der Gebrauch des Pedals, das - körperlich zu empfindende - Schwingen des Metrums der Pausen, die Wahrung des Tempos und die Freiheit, aus der heraus alles letztlich gespielt werden sollte, ist wesentlich. Wie die Erfahrung zeigt, bedarf es vieler Übung und Konzentration, diese Komposition angemessen zu realisieren.

Musikbeispiel 2 "MIT ACHT TÖNEN" (1983)

Als ein drittes Beispiel möchte ich "Antonyme" nennen. Das musikalische Molekül, der Baustein dieser Komposition besteht aus einem langen und einem kurzen Ton, aus der großen und der kleinen Sekunde, aus Ton und Pause. Aus den Umkehrungen und Kombinationen der Intervalle entsteht ein Kaleidoskop von Möglichkeiten bis hin zu relativ komplexen Klängen. In dieser Komposition sind >reduzierter Klang< und >Klangentfaltung< als Antonyme ausgeformt. (Musikbeispiel 3 aus "Antonyme", 1980, S.15)

Diese drei Beispiele mögen ausreichen. Sicherlich ist die Nota- tionsweise (im Gegensatz zu meinen Arbeiten um die Mitte der
siebziger Jahre) nicht neu, das Tonmaterial auch nicht. Vielleicht aber bilden sie einen Hinweis darauf, daß für die kompositorische Arbeit strukturelle Fragen nicht durch die Neuheit des Tonmaterials zu erledigen sind. Wenn es in den Kompositionen unseres Jahrhunderts sehr wesentlich auch um Neulanderkundungen ging (die zum großen Teil aktenkundig, aber noch längst nicht "kartographiert" sind), so ist die kompositorische Arbeit selbst zunächst immer wieder ein geistig-kultureller Akt, mit dem es sicherlich um mehr gehen muß, als den Neuigkeiten eine weitere Neuigkeit hinzuzufügen. Aus kulturell reflektierter molekularer kompositorischer Arbeit entstehen gestalterische Kriterien, die auf dem Zusammenhang zwischen dem kleinsten Teilchen und dem großen Ganzen als der elementaren Urspannung und Ureinheit unserer Existenz beruhen. (Es ist zu erinnern, daß viele Wissenschaftler damit beschäftigt sind, die kleinsten Teilchen zu isolieren, weil sie sich davon Aufschluß über die Beschaffenheit des Universums erwarten.) Auch wenn wir uns mit unserer Zivilisation so gebärden, als gebe es diesen Zusammenhang, diese Urspannung und Ureinheit zwischen dem kleinsten Teilchen und dem großen Ganzen nicht, so ist gerade die Chaosfroschung ein ganzes Stück weiter. Das geflügelte Wort vom Flügelschlag des Schmetterlings, der in Australien das Wetter in Europa ändern kann, bezeichnet bildhaft die Auswirkungen einer kleinsten Bewegung auf einem großen Zusammenhang.

Ein Effekt von "Musik der Reduktion, der Verknappung des musika-
lischen Materials, der Konzentration auf die Qualität des Einzeltones" usw. (wie es P.N. Wilson in MusikTexte 44 nennt) ist, daß diese Musik hörfreundlicher als andere neue Musik zu sein scheint und vielleicht gerade dadurch mit einem der "Dogmen der Moderne" bricht. Das Dogma der Moderne, daß neue Musik nicht "schön" klingen darf, geht noch immer von einem Schönheitsbegriff aus, der von Joyce bereits 1914 in seinem "Porträt des Künstlers als junger Mann" überholt wurde. Mit seinem Schönheitsbegriff kann m. E. konstruktiv gearbeitet werden (auch nach dem Satz von Adorno betreffs Auschwitz); was Cage, Feldman, Nono und Scelsi - ob nun bewußt oder unbewußt - getan haben. Daß Wilson mit der größeren Hör- freundlichkeit und Schönheit der Musik dieser Komponisten gleich
"sakrale Sehnsüchte", "New-Age-Bedürfnisse" und den "Kult-Status"
verbindet, dürfte auf purer Polemik bzw. auf einem tieferliegenden
Irrtum beruhen, nämlich auf der Verwechslung von "sakral" und "religiös".

Während "sakral" für heilig im Sinne von religionsgebundenen (kirchlichen) Handlungen steht, ist das "Religiöse" auch reli- gionsungebunden zu denken. Jeder Mensch trägt es in irgend einer
Weise als ein mehr oder minder starkes oder schwaches Sehnen nach
Ganzheit und Transzendenz in sich. Egal, ob er einer Religion angehört oder Atheist ist. Wenn aus der Entwicklung der neuen Musik Strukturen hervorgehen, dieses Sehnen anzusprechen, ohne damit die
Ideologien der Religionen zu bemühen, dann wird sie vielleicht zunehmend einer Funktion gerecht werden können, die ihr eigentlich
in die Wiege gelegt war: endlich sich von der Knechtschaft der Ideologien zu befreien. Die kompositorischen Strukturen könnten
zumindest für sich dafür einstehen, daß sie dieses Sehnen nach
Transzendenz, Ganzheit und Einfachheit nicht durch Ideologien ver-
wässern und domestizieren. Und sie können den Menschen als kul- turelles Wesen ansprechen, was angesichts des zivilisatorischen
Fortschritts, der ihn zu einem kleinen Rädchen im Getriebe macht,
schon eine ganze Menge ist. Die Rettung der Welt kann davon wahr-
scheinlich kaum erwartet werden. ... Aber der Flügelschlag eines Schmetterlings?

 

 

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