Bauhütte Klangzeit- zur Notwendigkeit und Chance kultureller Innovation (1992)
veröffentlicht in „positionen“ Nr. 16 / 1993
BAUHÜTTE KLANGZEIT - zur Notwendigkeit und Chance kultureller Innovation - ein Gespräch
Im Juni 1991 wurde in Wuppertal die BAUHÜTTE KLANGZEIT gegründet,
in der Klangkünstler, Komponisten, Bildende Künstler, Architekten,
Wissenschaftler, Philosophen zusammenwirkten. Zwei internationale
Symposien unterstrichen die theoretischen Aspekte, zahlreiche
Klangkunst-Projekte im Wuppertaler Stadt- und Landschaftsraum
zeigten in der Praxis die kulturelle Relevanz dieses innovativen
Projektes. Trotz des großen Erfolges läuft das beim Kulturamt
Wuppertal angebundene Projekt nun wegen fehlender finanziellen
Grundlagen aus. Susanne Maasz(S.M.) sprach mit dem Initiator und
Künstlerischen Leiter, dem Komponisten Johannes Wallmann(J.W.) und
dem Berater des Projektes, Prof. Arno W. Oppermann(A.O.) von der
Bergischen Universität GHS Wuppertal/Fachbereich Architektur über die grundsätzlichen Fragestellungen des Projektes.
S.M.: Johannes Wallmann, BAUHÜTTE KLANGZEIT - wie kamen Sie auf
diese Idee und was verbirgt sich hinter ihr?
J.W.: BAUHÜTTE ist ja eine uralte Idee, die etwa im 12.Jahrhun-
dert entstand. Es stand dahinter der Wunsch, einen Bau in höchster
künsterlisch-architektonischer Meisterschaft zu errichten und die
unterschiedlichen Gewerke dafür zu interdiszilinärer Zusammenar-
beit zu bringen. Walter Gropius, der Gründer des Bauhauses Weimar,
hat diese Idee in unserem Jahrhundert zum ersten mal wieder aufgegrif-
fen. Er hat ganz bewußt an diesen alten BAUHÜTTEN angeknüpft und
hat dann mit dem Bauhaus Weimar - allerdings unter der Priorität
der Architektur - diese Idee des integralen und interdisziplinären
Zusammenwirkens der unterschiedlichsten gestalterischen Bereiche
wieder neu belebt. Und wir wissen ja, von welcher großen Bedeutung
das, was dort geschehen ist, für die Kunstentwicklung in unserem
Jahrhundert war. Unter Verzicht auf die Priorität der Architektur
habe ich mit der Namensgebung BAUHÜTTE KLANGZEIT den Begriff des
"Bauens" allerdings vor allem im übertragenen Sinne gemeint. Bauen
im übertragenen Sinne beruhrt heute den "Bau", den Organismus und
die Lebensstrukturen der Welt. Im Prinzip müssen sich alle, die
heute an der Gestaltung der Welt beteiligt sind, darüber klar wer-
den, daß sie Mitwirkende an einem Bau dieser Lebensstrukturen
sind.
S.M.: Warum heißt es nun KLANGZEIT ?
J.W.: Als Komponist bin ich sehr unzufrieden mit der Rolle, die
die neue Musik mehr oder minder doch im Abseits der Gesellschaft
spielt, und noch unzufriedener darüber, wie wenig ernst die
klangliche und akustische Gestaltung unserer Welt genommen wird.
Und ich habe mich gefragt, welche Möglichkeiten gibt es, diesen
Zustand zu verändern und habe dafür ein entsprechendes Konzept, das
INTEGRAL-ART-Konzept, entwickelt. Für KLANGZEIT habe ich - über
das Akustische hinausgehend - "Klang" definiert als Zusammen-
schwingen unterschiedlicher Teile, "Zeit" als Raum dieses Zusam-
menschwingens. Mit BAUHÜTTE KLANGZEIT geht es neben allgemeinen
kulturellen Überlegungen und Utopien jedoch auch um das ganz
praktische "Bauen" von Klangkunst-Projekten. In den KLANGZEIT-
Symposien kamen zudem auch konkrete architektonische Entwürfe und
Projekte zur akustischen Gestaltung unserer Welt zur Sprache.
S.M.: Man kann das ja mit dem KLANGZEIT-Katalog relativ gut nach-
vollziehen. Gibt es für Bauhütten im Bereich von Klang und Musik
historische Vorbilder ?
J.W.: Historische Vorbilder in Bezug darauf gibt es meines Wissens
so bisher nicht. Aber wir müssen sehen, daß jene Entwicklung der
Musik in unserem Jahrhundert, die etwa mit Schönberg angefangen
hat, ja eine geradezu umstürzlerische war. Schönberg hat neue
Ordnungen des musikalischen Materials gebracht, und ich bin der
Auffassung, daß damit eine kulturelle Innovationspotenz angelegt
wurde, die als solche selbst von vielen Komponisten noch nicht
wirklich erkannt, geschweige denn kulturpolitisch zu Relevanz ge-
langt ist. Ich denke, daß es ganz wichtig ist, zu begreifen, daß
das, was in der Ordnung des musikalischen Materials vorsichgeht,
auch eine kulturelle Option hat. Schönberg hat ein neues Ord-
nungssystem des musikalischen Materials eingeführt, doch hat er
seine - nach neuer Art geordnete - Musik in den alten Auf-
führungszusammenhängen (Konzertsaal/Oper) belassen, an die Not-
wendigkeit neuer Aufführungsformen noch nicht gedacht. Cage ist da
ja später viel radikaler auch auf diese neuen Aufführungsformen
zugegangen. Aber bereits Debussy formulierte die Utopie einer Mu-
sik im Freien, Satie die Idee der "music d`ameublement", Ives die
Idee der "Universen Symphonie", die von Bergen und Höhen gespielt
werden sollte. Also es gibt historische Vorbilder in Ideen.
S.M.: Die Arbeit der BAUHÜTTE begann im Juni 1991 mit einem Sym-
posium zum Thema DER TEIL - DIE KUNST - DAS GANZE. Bis zum
Herbst '92 wurden von der BAUHÜTTE künstlerische Projekte zum The-
ma ZEITKLANG/KLANGZEIT IN LANDSCHAFT UND ARCHITEKTUR - der Domäne
III Ihres INTEGRAL-ART-Konzeptes entwickelt, worauf zielten Sie
mit diesen beiden Themen ?
J.W.: Mit diesen beiden Themen zielte ich auf den Zusammenhang
zwischen theoretischer/philosophischer Reflexion und der prakti-
schen künstlerischen Projektarbeit. Nur aus diesem Zusammenhang,
konnte ich mir eine sinnvolle interdisziplinäre Arbeit der BAU-
HÜTTE vorstellen: einerseits die theoretische Reflexion als ge-
meinsamer Nenner zwischen den unterschiedlichen Gattungen, ande-
rerseits die praktischen, zum großen Teil interdisziplinären
künstlerischen Projekte, die unter dem Thema ZEITKLANG/KLANGZEIT
IN LANDSCHAFT UND ARCHITEKTUR entwickelt wurden. Ein Thema, das
den Zusammenhang von Klang-, Zeit-, landschaftlicher und archi-
tektonischer Gestaltung impliziert und hinführt zu neuen inter-
disziplinären Gestaltungs- und Aufführungsformen, mit denen in den
Lebensalltag etwas von dem hineingebracht werden kann, was über
ihn hinausgeht, z.B. unsere kosmischen Bindungen Ästhetisch er-
fahrbar macht.
S.M.: Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen ?
J.W.: Z.B. das von mir entwickelte Projekt "schweben und hören -
VON KLANG ZU KLANG mit einer Wuppertaler Schwebebahn. positionen
hat ja darüber berichtet. Erstaunlich war für mich, daß die (über
einen Computer gesteuerten) elektronischen Klänge und musikali-
schen Motive - die verbunden mit unterschiedlichen Streckenabsch-
nitten und Tageszeiten in der Schwebebahn hörbar waren - von vie-
len einfachen Leute bei einer Befragung mit Begriffen wie "Son-
nenmusik", "Weltraum", "Kirche", "Marsmusik", "Mondmusik" asso-
ziiert wurden, d.h., daß eine kosmische Dimension dieser Klänge
durchaus wahrgenommen wurde. Es soll eine Menge Leute gegeben ha-
ben, die extra auf diese Bahn gewartet haben, um das zu erleben.
Dieses Projekt war übrigens eines, das ich etwa 1984 in meiner
Berliner Zeit in anderer Form für die Berliner U-Bahn entworfen
hatte.
S.M.: Herr Prof. Oppermann, Sie unterrichten an der Wuppertaler
Universität Grundlagen der Gestaltung im Fachbereich Architektur.
Wann und wie erhielten Sie Kenntnis von dem KLANGZEIT-Projekt, was
ist der Hintergrund, weshalb Sie sich so engagiert am
KLANGZEIT-Projekt beteiligten.
A.O.: Erlauben Sie zunächst eine Richtigstellung. Man könnte den
Schluß ziehen, daß ich Architekt sei; das bin ich nicht. Ich bin
Bildender Künstler, vertrete das Lehr- und Forschungsgebiet
Grundlagen der Gestaltung im Fachbereich Architektur/ Innenarchi-
tektur. Ich habe mich seit vielen Jahren mit ganzheitlicher Pro-
blematik befaßt, auch viele Projekte mit den Studenten durchge-
führt, die in eine Richtung gehen, das Gesamtsensorium des Men-
schen zu erfassen. Es war so, daß Johannes Wallmann von meinen
Arbeiten, bzw. den Studentenarbeiten Kenntnis erlangt hat und dann
auf mich zugekommen ist und mich gefragt hat, ob ich Interesse
hätte, an den KLANGZEIT-Projekten mitzuwirken.
S.M. Die Fragestellungen, die das KLANGZEIT-Projekt aufgenommen
hat, sind also Fragestellungen, die Sie schon länger beschäftigen.
Können Sie vielleicht ein paar Beispiele nennen, wie die Arbeit
mit den Studenten in ihrem Fachbereich diesbezüglich aussah?
O: Da gäbe es viele Beispiele. Ich will einige herausgreifen. Wir
haben z.B. in einem Raumlabor - in einer 400qm großen Fabrikhalle
- versucht, mit architektonisch-gestalterischen Elementen dem Raum
eine neue Qualität zu geben und dieses musikalisch zu unterstrei-
chen. Wir haben auch Projekte gemacht zu dem Thema Klang- und
Lichtwürfel, wir haben uns beschäftigt mit Dingen, die im Sinne
einer Interpretation einer klanglichen Veranstaltung gesehen wer-
den können anläßlich einer Wuppertaler Kulturpromenade zwischen
Klassik und Folklore. Bereits als Student hatte ich engen Kontakt
zu Musikern der neuen Musik, ich war im "neuen Werk" in Hamburg
ständiger Hörer und habe schon in den 60er Jahren mit Roland Kein
zusammen Veranstaltungen in der Hochschule der Bildenden Künste in
Hamburg gemacht.
J.W.: Für mich war es sehr überraschend, als ich mit Prof. Opper-
mann zum ersten Mal zusammengetroffen bin, daß wir sehr sehr
schnell zu einer gemeinsamen Sprache finden konnten. Das hat sich
auch in den nächsten 1 1/2 Jahren einer wirklich sehr intensiven
Zusammenarbeit immer wieder herausgestellt, daß da ein gemeinsamer
geistiger Horizont ist.
S.M.: Herr Prof.Oppermann, sind Sie eigentlich an der Universität
mit solchen Auffassungen von ganzheitlicher Gestaltung relativ
allein oder gibt es viele Kollegen, die da mitziehen?
A.O.: Im eigenen Hause - muß man sagen - ist die Resonanz auf diese
Denkweise doch relativ begrenzt. Wenn sie da ist, ist sie eupho-
risch, aber die meisten sind eigentlich abwartend. Es gibt aber
ein großes Netz, ein großes Gefüge von Kontakten zu anderen Hoch-
schulen, und ich bin schon kein Einzelkämpfer, sondern fühle mich
als Teil wiederum in einem Ganzen von Leuten, die an diesem Strang
ziehen, dazu gehört für mich auch Johannes Wallmann.
S.M.: Herr Wallmann, wie sieht es im Musikbereich aus, wie werden
Ihre Aktivitäten da eingeschätzt, warum ist die Teilnahme
bekannter Komponisten als eher zögerlich einzuschätzen?
J.W.: Ich denke, ganz so ist es nicht. Es haben ja eine ganze
Reihe sehr bekannter Leute an den Symposien teilgenommen und auch
an den Projekten. Es war Mathias Spahlinger da aus Freiburg,
Dieter Schnebel aus Berlin, es waren Leute wie Bill Fontana da,
Alvin Curran, Gordon Monahan - Leute, die man nun wirklich zu den
recht namhaften Komponisten und Klangkünstlern unserer Zeit rech-
nen kann. Aber im Prinzip haben Sie mit dieser Frage natürlich
nicht ganz unrecht. Es gibt - man muß es schon so sagen - doch ein
relativ starkes Reserviertsein seitens der Komponisten gegenüber
solchen interdisziplinären Projekten, gegenüber einem Vokabular,
das das Wort "das Ganze" oder "ganzheitlich" nicht scheut, und
auch gegenüber Projekten, die den Konzertsaal nicht mehr bevorzu-
gen.
A.O.: Liegt das an gegenwärtiger musikalischer Ausbildung?
J.W.: Das liegt sicherlich einerseits an der Ausbildung, andererseits
A.O.: an der Kulturpolitik ?
J.W.: an der Kulturpolitik selber, aber auch an einer großen Verun-
sicherung der Künstler, die froh sind, wenn sie überhaupt das In-
strumentarium "Konzertsaal" zur Verfügung bekommen. Es ist ja un-
ter den Komponisten und ihren Clans ein schlimmes Geschiebe und
Gerangel um Aufführungen und Selbstdarstellungen im Gang. Die
Mehrzahl der Komponisten ist noch immer vom Konzertsaal und von
der Oper wie hypnotisiert, anstatt sich auf andere klangkünstle-
rische Gestaltungsräume zu orientieren. Das hat m.E. vor allem mit
dem uns zur Verfügung stehenden kulturellen Instrumentarium zu
tun. Die Komponisten, die sich auf dieses festlegen, haben noch
nicht mal ganz unrecht, wenn sie sich davor fürchten, außerhalb
des Konzertsaals Projekte zu machen. Eine Vielzahl von kleineren
Problemen stauen sich zu größeren an und führen schnell zu Unweg-
barkeiten, an denen alles zu scheitern droht. Ein hoher organi-
satorischer Aufwand und hohe Kosten kommen hinzu. (Wenn man reell
rechnen würde, ist das letztlich allerdings immer noch wesentlich
kostengünstiger als Aufführungen auf der Konzertsaalebene.) Eine
große Skepsis auch, gegenüber bestimmten Ansätzen der 70er Jahre.
Was das betrifft, so denke ich jedoch, daß solche Klangprojekte
außerhalb des Konzertsaals (wie sie z.B. Hans Zender in Saar-
brücken initiierte) erste Schritte in eine Richtung mit Zukunft
waren. Lebensalltag und Kunst miteinander zu verbinden, heißt
nicht, spektakulär sein zu müssen oder grob zu arbeiten. Es heißt
vielmehr, grundlegende Fragen an unsere kulturellen, gestalteri-
schen, kompositorischen Ambitionen zu stellen und zu Lösungen zu
finden, die nicht nur künstlerisch Spitze sind, sondern auch auf
kulturelle Innovationen orientieren. Sicherlich ist es ein sehr
schwieriges Unterfangen, das eine mit dem anderen zu verbinden.
Aber da müssen erste Schritte einfach gewagt sein.
S.M.: Nimmt nun KLANGZEIT mit seinen Fragestellungen und Klang-
kunstprojekten einen allgemeinen Trend auf oder liegt es sogar
noch vor der Zeit ?
A.O.: Also ich möchte dazu sagen, wenn mit Trend etwa zu verstehen
wäre, daß etwas in der Zeit, in der Luft liegt, dann würde ich
sagen ja! Da liegt das KLANGZEIT-Projekt durchaus in der Zeit. Ich
denke, die wichtigen Probleme dieser Zeit sind welche, die nur
interdisziplinär gelöst werden können. Dieses versucht KLANGZEIT
und ich glaube, daß wir auch eine neue Sensibilität und ein neues
Bewußtsein entwickeln müssen, wenn wir die Probleme der Zukunft
bewältigen wollen.
J.W.: Na ja, ich denke, es geht nicht um Trend oder darum, vor der
Zeit zu liegen, aber ich glaube auch, daß dieses integrale Denken
und Empfinden und Gestaltenwollen nicht nur eine Chance, sondern
eine Notwendigkeit der Zukunft ist. Ob wir wollen oder nicht, wir
kommen früher oder später nicht umhin, uns darauf zu besinnen, den
eigenen Bereich und seine Funktionsräume durch das Zusammenwirken
mit anderen Bereiche zu bestimmen. Und natürlich gibt es zur Zeit
ein Welle von Klangkunstprojekten außerhalb der Konzertsaalzusam-
menhänge. Aber KLANGZEIT geht durch den grundsätzlichen integralen
Ansatz über Klangkunstprojekte hinaus und verweist auf kulturelle
Fragestellungen und die Notwendigkeit interdisziplinären Zusam-
menarbeitens.
S.M.: Konkret, welchen Nutzen hat z.B. die Zusammenarbeit zwischen
einem Komponisten und einem Bildenden Künstler ?
A.O.: Als Gestalter muß ich sagen, für mich ist die Begrenzung nicht
etwa im Visuellen, im Haptischen, im Taktilen gegeben, sondern für
mich gilt, daß wir mit unserem gesamten Sensorium als ganzheitli-
che Menschen im Leben stehen, unsere Umwelt, unsere Mitwelt wahr-
nehmen und aus diesen Wahrnehmungen heraus auch unsere Geistigkeit
entwickeln können. Und mit dieser Geistigkeit auch unsere Probleme
bewÄltigen können, in die Zukunft gehen können. Insofern hängen
die Dinge wirklich zusammen. Und so ist für mich ein Künstler, der
sich mit Musik befaßt kein Fremder, ebensowenig, wie andere
Künstler.
J.W.: Für mich selbst war das immer wieder eine Sache der Überra-
schung, diese konkrete Zusammenarbeit. Herr Oppermann und ich, wir
hatten zwar eine wirklich gute geistige Verständigung, aber was
dann praktisch geschah, das war doch auch mehr eine Frage des
Vertrauens. Ich habe manchmal nicht gewußt, was er mir skizzier-
te, kam erstmal nicht unbedingt damit zurecht. Als es dann fertig
war, war es wunderbar, einen anderen und für mich ungewohnten
neuen Blick auf eine Sache zu bekommen, die ich vorher nicht so
hätte sehen können. Also diese Unterschiedlichkeit der Perspekti-
ven, das Andere - ich denke, das macht eine interdisziplinäre Ar-
beit so spannend, so schön und ist wirklicher Nutzen. Auch für die
Erfahrung eines jeden Einzelnen.
O: Das kann ich natürlich bestätigen. Wir arbeiten in zwei ver-
schiedenen Medien und doch - glaube ich - lassen sie sich in ge-
wisser Weise vergleichen. Architektur verifiziert sich ja für den
Menschen auch dadurch, daß er sich in ihr bewegt, Bewegung ist
zeitabhängig, und beides gilt eben auch für die Musik. ... So ist
mit der ersten großen KLANGZEIT-Performance auf den Wuppertaler
Uni-Terrassen der Versuch gemacht worden, im großräumigen Bereich
Landschaftliches, Architektonisches und Musikalisches zusamenzu-
bringen, das Landschaftlich-Architektonische noch wiederum ge-
stalterisch zu interpretieren. ... Vom Künstlerischen her und vom
Ereignis selbst natürlich ein gewaltiges Wagnis, aber ein außer-
ordentlich gelungenes Ergebnis im Sinne des vorhin formulierten
Ansatzes.
S.M.: Wie ordnet sich die BAUHÜTTE KLANGZEIT nach Ihrer Sicht
international ein, wo bestehen da Anknüpfungspunkte ?
J.W.: Ich bin da auch erst beim Recherchieren von Referenten für
die Themen der KLANGZEIT-Symposien darauf gestoßen. So gibt es
z.B. das "World Soundscape Projekt" an der Simon-Fraser-Univer-
sität in Vancouver; ein Projekt, das von Murray Schafer - dem Au-
tor von "The tuning of the world" – gegründet wurde, an dessen
Überlegungen eine ganze Reihe anderer Aktivitäten und Institute
anknüpfen. So z.B. "Espaces Nouveaux", ein Pariser Institut, in dem
Komponisten, Städteplaner, Architekten an gemeinsamen klang-
gestalterischen Entwürfen arbeiten, oder Albert Mayrs "times and
tides"-Projekt in Florenz, Justin Winklers Projekt "Akustische
Landschaft" an der Baseler Universität, nicht zu vergessen das
Institut von Bernard Delage in Paris, das Apollohuis von Paul
Panhuysen in Eindhoven und die vielen anderen Aktivitäten - z.B.
das Buch von Hans U. Werner "Soundscapes Akustische Landschaften",
als Dissertation an der Gesamthochschule Kassel geschrieben. Be-
sonders interessant war für mich der von der Architektur herkom-
mende Ansatz von Bernhard Leitner(Wien). Mit der Bewußtwerdung der
wichtigen Rolle des Hörens für die Ausprägung der menschlichen
Intelligenz werden Fragen der akustischen Gestaltung unserer Welt
zunehmend an Bedeutung gewinnen.
S.M.: Was unterscheidet nun KLANGZEIT von den Aktivitäten etwa des
World Soundscape Projektes ?
J.W.: Man könnte den Stand des Denkens zu akustischen Landschaften
vielleicht an zwei Namen festmachen. Der eine ist eben Murray
Schafer; von seinen Überlegungen gingen - vereinfacht gesagt -
die Bestrebungen aus, vorhandene akustische Landschaften von All-
tagsgerÄuschen zu erhalten, zu konservieren, zu verfeinern. Der
andere ist John Cage, der sein Fenster öffnete und die Straßenge-
räusche zur "Musik" erklärte.
Mit KLANGZEIT nun geht es - wie den meisten der genannten Künstler
auch - weder darum, Alltagsgeräusche zu konservieren oder zu ver-
doppeln, noch darum, sie zu "Musik" zu erklären. Es geht darum,
sich auf Alltagsituationen einzulassen und vorsichtig klangkünst-
lerisch gestaltend in sie einzugreifen. Und zwar so, daß eine in-
tegrale Komponente dazukommt, durch die z.B. eine kosmische, eine
universelle Dimension unseres Lebens wahrnehmbar wird.
S.M.: Wie wird es nun mit KLANGZEIT weitergehen ?
J.W.: Mein Vertrag mit der Stadt Wuppertal wird Ende Juni '93
auslaufen. (Bis dahin hoffe ich, eine inhaltlich-theoretische
Aufarbeitung der beiden Symposien und der Projekte abschließen zu
können.) Aber diese Idee ist ja nicht an die Stadt Wuppertal ge-
bunden, wenn ich auch sehr glücklich bin, daß die Stadt Wuppertal
es ermöglicht hat, sie in diesem Umfang zu realisieren. Die Idee
hat ihre Substanz nun erstmal bewiesen und wird auch international
von vielen Künstlern und Wissenschaftlern mitgetragen. Darüber-
hinaus denke ich, daß sich auch die Komponisten mehr und mehr mit
solchen Fragestellungen, wie sie mit KLANGZEIT thematisiert wur-
den, zuwenden werden. Eigentlich wäre auch die Weltmusikkonferenz
im Ruhrgebiet 1995 ein Ort, wo Raum für entsprechende Projekte und
Fragestellungen sein müßte. Doch bekanntlich geht es auf solchen
und Ähnlichen Festivals viel mehr um Prestige als um kulturell-
innovative Projekte und Fragestellungen.
S.M.: Herr Prof. Oppermann, welche Möglichkeiten sehen Sie im Uni-
versitÄtsbereich, solche Ideen wie KLANGZEIT aufzunehmen und lang-
fristig zu verfolgen. Gibt es Interesse an interdisziplinärer Zu-
sammenarbeit zwischen den universitären Fachbereichen ?
A.O.: Ja, es gibt natürlich Interesse, aber ich würde weitergehen;
es gibt sogar einen gesetzlichen Auftrag. Die Bergische Universi-
tät Gesamthochschule Wuppertal ist ja eine Gesamthochschule, wie
der Name sagt. Und der Auftrag der Gesamthochschulen richtet sich
auch auf interdisziplinäre und kooperative Zusammenarbeit, sodaß
von daher die besten und dauerhaftesten Voraussetzungen gegeben
wären, auch solche Ideen hier im Rahmen der Hochschule fortzufüh-
ren. Die Frage ist natürlich, wie bei der Belastung der Hochschu-
len durch Studentenzahlen - wir haben also ca. 18.000 Studenten
und die Hochschule ist nur auf 8000 angelegt - wie wir das mei-
stern können. Das ist im Moment noch nicht genau abzusehen, aber
ich habe schon Ideen und Vorstellungen, wie die Universität auch
an diesem Projekt weiterarbeiten kann. Es ist ja ein Ganzheitli-
ches notwendig auch für die Ausbildung von Architekten und inso-
fern denke ich, daß wir da weitermachen müssen. Ohne ganzheitli-
ches, interdisziplinär vernetztes Denken und Handeln werden die
anstehenden Probleme - seien es nun politische, gesellschaftliche,
kulturelle oder ökologische - nicht zu bewältigen sein. Im Voran-
treiben dieses Denkens auf der kulturellen Schiene werden Vorstöße
in Richtung einer Bewußtseinsveränderung, eines neuen Selbstver-
ständnisses und eines neuen Denkens gemacht, die interdisziplinäre
Zusammenarbeit erneut einklagen und Visionäres in die Realität
umsetzt. Resignation wäre da total falsch. Die Hoffnung liegt in
den folgenden Generationen, in der Multiplikationsfunktion in
Richtung auf eine menschlichere ganzheitliche Zielvision, die
schon heute - wenn auch noch in bescheidenen Ansätzen - umgesetzt
werden kann. Also keine Vertröstung auf eine bessere Zukunft,
sondern gegenwärtige Einlösung. Utopie muß in Wirklichkeit über-
setzt werden. Voraussetzung ist eine neue Sensibilität, eine neue
Sinnlichkeit, ein neues Bewußtsein, ein Spürsinn für Probleme.
Alle geistigen künstlerischen Kräfte in allen lebensbestimmenden
Bereichen sind hier gefordert. Und dazu sollten wir uns auch in
der Universität zählen.
J.W.: Ich möchte auch betonen, daß so etwas wie KLANGZEIT nicht
einfach aufgegeben werden kann, weil die momentane institutionelle
Anbindung ausläuft. Allerdings bedarf es materieller Vorausset-
zungen, um eine Idee, eine Utopie Wirklichkeit werden zu lassen.
Und um diese Voraussetzungen muß wirklich gekämpft werden, denn im
allgemeinen sind Beamte etwa in Kulturverwaltungen oder Universi-
täten nicht sehr an kulturell-innovativen Entwicklungen interes-
siert. Hinzukommt die Lobby für die althergekommenen repräsenta-
tiven Kultureinrichtungen, die sehr stark ist und darauf achtet,
daß ihre finanziellen Mittel von neuen Projekten nicht geschmälert
werden. So bleiben dann, wenn es wie jetzt ans Sparen geht, solche
Projekte, die kulturelle Innovationen auslösen könnten, meist auf
der Strecke. Man muß jedoch versuchen, bei den Politikern ein Be-
wußtsein für die Notwendigkeit kultureller Innovationen zu erzeu-
gen; man darf sie nicht aus ihrer kulturpolitischen Verantwortung
entlassen. Die kulturelle Fragestellung ist ja - ob direkt oder
indirekt - immer auch eine politische Fragestellung, es ist eine
Frage an die Qualität unserer Lebensgestaltung und -erhaltung.
Eine Frage, die tief auch in die ökologische Problematik hinein-
reicht. Die BAUHÜTTE KLANGZEIT war dazu nur ein Schritt, und es
muß in diesem Zusammenhang auch an die Bauhaus-Idee neu erinnert
werden. Das Bauhaus ist zwar ein besetzter Begriff, aber wenn wir
ihn aus der Tradition der BAUHÜTTEN heraus verstehen, dann werden
wir das auch so sehen müssen wie Walter Gropius. Der hat nämlich
seinen Politikern damals nahegebracht, daß das Bauhaus nicht eine
schnelle fixe Idee von ihm selbst ist, sondern daß eine lange ge-
schichtliche Tradition und weite kulturelle Dimension damit ver-
bunden ist. Ich halte es für notwendig - unter Verzicht auf die
Priorität der Architektur und Verzicht der Imitation des Bau-
haus-Stils - das Grundlegende dieser Idee des integralen Zusam-
menwirkens vom Weimarer Bauhaus her neu zu begreifen und weiter zu
entwickeln.
S.M.: Die BAUHÜTTE wurde in das Programm "Kaleidoskop" der Euro-
päischen Gemeinschaft aufgenommen. Was ist der europäische Aspekt
der BAUHÜTTE ?
J.W.: Wenn die Frage kultureller Innovationen und integralen Zu-
sammenwirkens im Zusammenhang der Neugestaltung Europas vernach-
lässigt wird, dann kann es eigentlich nicht zu einer wirklichen
Neugestaltung kommen, dann werden nämlich genau die kommerziellen
und die wirtschaftlichen Stränge, dann wird die Repräsentations-
kultur überwiegen. Letztlich haben aber auch diese Stränge davon
schwere Nachteile, denn wir sehen heute schon an den europäischen
Prozessen, wie notwendig eine tragfähige kulturelle Grundlage für
eine Gemeinsamkeit ist. Wenn sie nur auf wirtschaftlichen und
kommerziellen Füßen ruht, dann kippt sie um. Die Aversionen, die
sich gegen Europa richten und die die nationalen Tendenzen unter-
stützen, kommen auch daher, weil es eine wirkliche kulturelle Ba-
sis der Gemeinsamkeit nicht gibt. Und diese Basis muß geschaffen
werden. Und zwar nicht so, daß wir internationale Repräsen-
tationskunst propagieren, sondern daß wir vor Ort - so etwa wie es
mit KLANGZEIT geschehen ist - konkrete künstlerische Projekte
entwickeln, die einem universellen geistig-kulturellen Anspruch
verpflichtet sind und Impulse zu kulturellen Innovationen in den
Lebensalltag hineintragen. Ich denke, daß wir nicht nur im Sinne
der europäischen Kulturentwicklung, sondern auch im Sinne eines
kulturell-ökologischen Strukturwandels gar nicht anders können,
als da dran zu bleiben.
S.M.: Vielen Dank für das Gespräch.