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Die 25 Thesen im Disput

25 Thesen KULTUR UND MODERNES CHRISTENTUM von H. Johannes Wallmann Im Disput mit dem Religionsphilosophen Prof. Dr. Harald Seubert (Basel/München) ; Stand: 25.6.2016

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Die 25 Thesen im Disput zwischen Harald Seubert und H.Johannes Wallmann:

 
These 1: Seit der Reformation – also seit bald 500 Jahren - hat sich in der Kirche theologisch nur sehr wenig bewegt. So wurden auch moderne
theologische Ansätze (z.B. von Dietrich Bonhoeffer, Rudolf Bultmann, Dorothee Sölle oder Paul Tillich) aus der kirchlichen Praxis eher
ausgegrenzt, als integriert. Zugleich bildeten die Kirchen gegenüber Versuchen (z.B. des Bauhauses), eine kulturelle Innovation in Gang zu
setzen, immer wieder eine religiös- konservative Barriere. Damit stehen sie islamischer Ideologie offenbar näher als der Aufklärung
und der Moderne, die aus der christlichen Kultur erwachsen sind.

HS (Harald Seubert): Ich stimme diesem kraftvollen Befund und erst recht der Klage und Defizitanzeige vollständig zu, dass die Kirche und Kirchen in Deutschland kulturell und künstlerisch in beklagenswerter Weise provinziell bleiben, Sonderregelments einer Teilkultur aufstellen und die großen, teilweise auch mit Schmerz und existentiellen Nöten erkauften, Sprengungen und Errungenschaften der Moderne nicht akzeptiert haben. Theologinnen und Theologen sind auf die „Welt“ oft nur rudimentär und wie auf ein Fremdbild bezogen. M.E. bedarf es einer völligen Reformatio des Theologiestudiums und des Selbstverständnisses, das die Vorstellung >hier die Mauern der eigenen Sicherheit, dort die Welt und die Menschen draußen im Land< nicht zulässt. Wer sich auf den Theo-Logos bezieht, muss Weite haben, er muss auch leidensbereit sein und er muss die Lage der Welt kennen. Ich sehe einen Mangel an Reflexion, Übung, Intellekt, Weltkenntnis. Dass ich gerade Theologen heute ausbilde, ist eine eigentümliche Herausforderung.

JW (H. Johannes Wallmann): In Ihrem Buch „Zwischen Religion und Vernunft“ bezeichnen Sie mit Ratschow das Christentum als „Denkende Religion“. Inwiefern unterscheidet es sich damit z.B. vom Islam? Wenn aus dem Christentum als „Denkender Religion“ die Aufklärung hervorging, sind es dann die in diesen Thesen genannten Problematiken, aufgrund derer die Kirchen moderne Theologie (ausgenommen Bonhoeffer) verleugnen und sich gegenüber kulturell-innovativen Ansätzen abschotten?

HS: Nun, der Islam hatte zeitweise eine starke philosophische Dimension. Platonisch und aristotelisch. Das Hochmittelalter war gleichsam seine Aufklärung, deren Nachholung man ihm deshalb auch nicht einfach aufoktroyieren kann. Dies ist in der Starrheit der Rechtsschulen (natürlich mit einigen Zwischenschritten) lange Jahrzehnte wieder unterdrückt worden. Heute gibt es große Diskussionen in der islamischen Welt, vor allem auch im Iran, wie und ob an das damals Gewesene anzuknüpfen ist. Zum Christentum: Sie haben völlig recht. Die Verweigerung der „denkenden Religion“, die sich eben nicht die Verfestigung in Dogma und Ritus genug sein lassen darf, bedeutete eine Selbstverweigerung.

These 2: Viele Kirchenverantwortliche zielen noch heute auf eine Volks- und Frömmigkeitskirche, die sich hinter Theologien und Traditionen der
Vergangenheit zurückzieht, anstatt die kirchliche Praxis für aufgeklärte theologische Ansätze zu öffnen. Solche Verweigerung
hatte in Deutschland bereits in der Vergangenheit furchtbare Folgen.

HS: Völlig d’accord, zu viel Sicherheit, oftmals intellektuelle und menschliche Erschlaffung. Papst Franziskus hat in gut franziskanischer Tradition eine Kirche gefordert, die in die Welt geht. Das ist nahe an Bonhoeffers „religionslosem Christentum“. Der Mensch, der nicht ohne Anleitung eines anderen sich seines Denkens zu bedienen wagt (so Kant, so schon Melanchthon), wird sich leicht im Schrecklichen einrichten, wird seinen Frieden mit dem Unerträglichen machen. Das ist das Böse, in seinen banalen und anderen Folgen, im Sinn der Diagnose von Hannah Arendt über Eichmann. Ein freies, aufs Ganze gehendes Denken, eine Sprach- und Wahrnehmungsfähigkeit nur kann dies aufbrechen. Nicht die Theologie allein, sondern auch die Literatur, die Philosophie, natürlich die Musik ...

These 3: Durch den – theologisch verursachten - allgemeinen Religiositätsverlust, der angesichts des 1. Weltkrieges breite
Bevölkerungsschichten erfasst hatte, wurde dem pseudoreligiösen Durchmarsch Hitlers Tür und Tor geöffnet. Zudem kollaborierten
(unter Führung der Deutschen Christen“) christliche Kirchenführer mehrheitlich mit dem Nationalsozialismus. Nach dem
Nationalsozialismus entschlossen sie sich jedoch lediglich zu dem vagen Stuttgarter Schuldbekenntnis, das weit hinter dem von Dietrich
Bonhoeffer formulierten Schuldbekenntnis zurückblieb. Wann wird dies endlich korrigiert?

HS: Ja, es waren eben die Eliten von gestern, die dieses Schuldbekenntnis verantworteten. Der Philosoph Karl Jaspers stellte in seiner Heidelberger Vorlesung die Schuldfrage weit radikaler. In Deutschland fand er in den vierziger Jahren indes kaum Resonanz. Niemöller oder Barth versuchten weiterzugehen. Doch nichts fehlte nach 1945 mehr als eine Stimme von Bonhoefferschem Gewicht. Ich sehe übrigens auch nicht, dass die 68er in Deutschland dies nachhaltig korrigiert hätten, die ja auch durch kirchliche Institutionen gingen. Sündenbockmechanismus und die Wut auf die Väter, die in der Zeit sicher verständlich waren, verhinderten einen solchen freien und klaren Zugang!

Wann? Erst wenn eine neue Generation, die das Prinzip Verantwortung synästhetisch und in der weltweiten synousia wahrnimmt, das Wort ergreift - jenseits von Anpassung und Zynismus. Dafür gibt es Hoffnung, nur muss man diese Stimmen ermutigen.

Sie kennen Biermanns Huchel-Lied: „Du lass dich nicht verhärten“ mit der Zeile „Wir wolln es nicht verschweigen in dieser Schweigezeit Das Grün bricht aus den Zweigen“. Das wünsche ich mir, deshalb hab ich nach 25 Jahren noch immer Lust am Hochschullehrerdasein, in und gegen das System.

JW: Bitte erläutern Sie synousia!  

HS: Es ist schlicht das Zusammenleben in Freundschaft unter Freien, auch in der Liebe ist es möglich und in der politischen Gemeinschaft. 

JW: „ICH SCHWEIGE NICHT“ - so steht es auf dem Grabstein von Jürgen Fuchs und so heißt mein Jürgen-Fuchs-Zyklus, der über Fuchs-Texte hinaus Texte von Künstlern und Oppositionellen aus aller Welt enthält.

HS: Ja, dieser Schweigezeit müssen wir uns mit viel mehr Verve entgegensetzen. Es herrscht auch im heutigen Deutschland, auch in akademischen Zusammenhängen, noch immer viel Duckmäuserei, schleichender Opportunismus, nicht nur in den Kirchen. Aber dort auch.

These 4: Unter „Führung“ der Stasi-IM in den Kirchenleitungen sowie z.B. den Mitgliedern der  „Christlichen Friedenskonferenz“
(CFK) kollaborierten die Kirchen auch mit dem Realsozialismus und dem zweiten totalitären deutschen Staat. Obwohl durch diese
Kollaboration die massiven psychosozialen Verbrechen des Realsozialismus in Abrede gestellt und somit gedeckt wurden,
unterblieb nach dem Ende des Realsozialismus ein Schuldbekenntnis der Kirchen vollständig. Als wes Geistes Kind erwiesen sie sich dabei?
Auch die meisten „Wendetheologen“ stellten sich dem ganzen Umfang dieser Problematik kaum.

HS: Wunderbar, dass Sie den doppelten Totalitarismus beim Namen nennen, was in der gegenwärtigen Schweigezeit keineswegs opportun ist. Wir müssen dieses Schuldbekenntnis und vor allem die Neuorientierung, die daraus erwächst, in Gang bringen. Denn wenn man nach wie vor im Haus des Mörders nicht vom Strick sprechen darf, kommt die Mörderei in veränderter Maske wieder. Ich finde diese falsche Verdrängung ehrlich gesagt erbärmlich und der geforderten Metanoia nicht würdig!  

JW: Würden Sie Metanoia bitte erläutern?

HS: Metanoia ist bei Platon der Begriff für die Wendung des Blicks aus der Höhle ins Licht, christlich für die Umwendung, Umkehr in die Wahrheit und das Leben. „Bekehrung“ hat man draus gemacht, das ist natürlich viel zu wenig. Daraus möchte ich die Konsequenz ziehen: Es braucht einen Blick ins Vergangene, der nicht manipulieren will, sondern frei werden kann. Hier muss eine völlig neue Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit einsetzen, auch und gerade, wenn es schmerzt. Ich bin da ganz bei Ihnen.

These 5: Anstatt ihre „Versäumnisse im Zentrum theologischer Ethik“1) einzuräumen, schreiben sich die evangelischen Kirchen und ihre
„Wendetheologen“ heute die „Friedliche Revolution“ auf ihre Fahnen,  betreiben damit jedoch Augenwischerei. Denn manch eine 
DDR-Kirchenleitung  versuchte massiv jene kirchlichen Mitarbeiter und Gruppen zu disziplinieren, die sich für eine
Liberalisierung innerhalb der DDR einsetzten. Außerdem segneten sie die Stigmatisierung und Verteufelung von Zigtausenden
Ausreiseantragstellern ab. Damit lieferten sie diese Menschen, die u.a. zu Tausenden in den DDR-Gefängnissen saßen, weil sie „Nein“
zum SED-Regime gesagt hatten, der äußerst unfriedlichen Willkür des Ministeriums für Staatssicherheit sowie einer allgemeinen
gesellschaftlichen Entsolidarisierung aus (die auch nach der Wende anhielt). Großes Leid entstand und die Biografien vieler Menschen,
die sich mutig gegen dieses totalitäre Staatssystem gestellt hatten (und damit die  Voraussetzungen für den Mauerfall schufen),
zerbrachen. Auch diesbzgl. blieb ein Schuldeingeständnis der Kirchen aus.

HS: Sie kennen die Details besser als ich, der ich im Westen (besser: im deutschen Süden) aufwuchs. Die sprengende Heuchelei, die im Konzept „Kirche im Sozialismus“ liegt, spürt man ja in der Sprache. Da in meinem weiteren Bekanntenkreis einige wichtige „Dissidenten“ wie Ulrich Schacht oder Sigmar Faust sind und da ich mit einer 1968 in Zittau geborenen Frau lange Jahre verheiratet bin, die einige Bruchlinien mitbekam, meine ich, die Tragweite des Ganzen zumindest zu ahnen … Geschichtsklitterei ist der christlichen Parrhesia zuwider. Hier muss mit open cards gespielt werden, auch wenn es sehr weh tut. Nur die Wahrheit kann befreien!  

JW: Was ist Parrhesia?

HS: Parrhesia ist Freimut, Freie Rede, freies Denken. Ich hatte damals als junger Mensch nach 1989 große Hoffnungen, dass dies in der neuen Mitte Europas gelingen würde. Es gab da auf einige Jahre tatsächlich ein Window of opportunity. Die Jahre, die wir erlebten, sind tatsächlich, leider, insgesamt sehr ernüchternd. Aber soll man das durchgehen lassen? Müssten wir nicht das Reformationsjahr hier zu einem wirklichen Revisionsprozess, geistig, historiogaphisch, kulturell nutzen? Damit hätte es ein Thema, das die EKD bei aller Event-Virtuosität nicht zu finden vermag.

JW: Ja, der Auffassung bin ich auch.

These 6: Darf das Feld weiterhin kollaborierenden und rückwärtsgewandten religiösen Mentalitäten überlassen bleiben? Nein, denn der Preis
dafür – die Weltkriege, der Holocaust, die totalitären Staatssysteme von Nationalsozialismus und Realsozialismus, die
„Gottesstaaten“, der Klimawandel - ist bereits zu hoch!

HS: Ich verstehe vor dem Horizont des Gesagten die Dramatik sehr gut, die Sie ansprechen. Es ist doch schlicht so: Wir können heute zumindest im Umriss alle wissen, worum es geht: Die Gefährdung wird man nur bestehen, wenn man den Sumpf der Vergangenheit trocken legt. Wir brauchen den Mut eines Kierkegaard, der seinem Bischof nachrief, er sei alles, aber kein Christ. Deshalb bedarf es, da bin ich doch ganz bei Ihnen, einer wirklichen Metanoia. Das Politische Feld wird nur aus einem wirklichen Bewusstseinswandel, der konkret werden muss, geformt werden können. Ja, ich meine auch, wir stehen am Scheideweg zwischen einer solchen Erneuerung und der großen, vielleicht letzten Katastrophe.

JW: a) Wir bewegen uns mit der Moderne (und dem tiefen Eingreifen moderner Technologien in langfristige Lebens- und Verantwortungszusammenhänge) in einer "evolutiv neuen Situation". Diese unterscheidet sich grundlegend von allen anderen großen menschheitsgeschichtlichen Situationen. Sie hat unmittelbare tiefe Auswirkungen auf das Leben als Ganzes und gibt dem Handeln eines jeden von uns Brisanz.
b) Die Wahrheit schreit nicht mehr vor allem in den Gassen, so wie das Nicolaus Cusanus im 15. Jahrhundert formulierte, sondern vor allem in den Strahlen der Atome, in der Zerstörung der Ozonschicht, in der Manipulation der Gene, im Klimawandel, im Missbrauch digitaler Daten usw..
c) Die "evolutiv neue Situation" bedeutet für die menschliche Intelligenz (die nicht länger mit Intellekt bzw. Rationalität verwechselt werden darf) eine ungeheure Herausforderung: Die Übernahme der Verantwortung für das Leben als Ganzes auf diesem Planeten. Und damit auch eine neue Vorstellung vom Menschen als verantwortlicher Teilhaber des Lebens sowie an höchster universeller Intelligenz (s.a. Punkt g)).
d) Die Menschheit wird an der "evolutiv neuen Situation" nur dann nicht scheitern, wenn sie alle ihre "geistigen" Kräfte und Strukturen entsprechend konfiguriert und mobilisiert.
e) Das Religiöse (ein innerer auf Gesamtzusammenhang gerichteter Orientierungssinn, ein inneres Sehnen nach dem Ganzen) ist zusammen mit dem Philosophischen (Streben nach Freiheit und Erkenntnis) Wesenskern und geistige Urkraft des Menschen. Das Religiöse besteht unabhängig von den Religionen. Um sich aus der Domestizierung/Ideologisierung der Religionen lösen zu können, will es hinsichtlich der "evolutiv neuen Situation" neu und aufgeklärt verstanden und praktiziert werden. Das Philosophische kann das gewährleisten, sofern es selbst der Ideologisierung entkommt.
f) Vernunft (Intelligenz!) erwacht, indem gemeinsam auf das Ganze geschaut wird. Andernfalls hat jeder Mensch und jede Kultur vor allem zu tun, die eigenen "Kobolde" zu bändigen (Tarkowski, s.a. das Gespräch zu These 17).
g) Wie wäre anstelle von "Vernunft" "Intelligenz" neu zu denken? Bietet der integral-moderne Begriff von Gott "als höchste universelle Intelligenz" sowie der Mensch als deren Teilhaber dafür Ansatzpunkte?
h) Anstelle von Mystik bedarf es einer neuen - auch ästhetisch geprägten - Aufklärung. (Der Rückzug in eine neue Mystik würde den gegenwärtigen Teufelskreis lediglich verlängern.)
i) Entsprechend können auch Essentials des Christentums - wie Liebe, Widerstand, ewiges Leben (Generationenkette), heilender Geist - neu und aufgeklärt verstanden und praktiziert werden.

HS: Ich bin mit Ihnen im Wesentlichen d'accord. Jener evolutiv neuen Situation eignet, meine ich, eine große Ambivlaenz. Sie kann, wenn sie tatsächlich ergriffen wird, jenen lebendigen, ewigen Frieden evozieren, den Kant oder Erasmus schon antizipiert haben. Sie kann auch zur Selbstvernichtung führen. - Ich widerspreche Ihrer Abwehr der Mystik: Natürlich verstehe ich darunter keineswegs eine weltabgekehrte, gar weltfremde Innenschau, sondern vielmehr eine umfassende, Endliches und Unendliches in Beziehung setzende Weltwahrnehmung, der auch Natur und Geist ein in sich artikulierter Zusammenhang sind. Dorothee Sölle dachte Mystik und Widerstand explizit zusammen. In diesem Punkt stimme ich ihr zu. Und Karl Rahner, einer der großen katholischen Theologen des vergangenen Jahrhunderts, betonte, das Christentum der Zukunft werde mystisch sein, oder es werde nicht sein. Eine abstrakte Innerlichkeit meinte er mit Sicherheit nicht! - Zu Ihrem Punkt e: "Das Religiöse besteht unabhängig von den Religionen": Aber es bricht sich doch unter anderem in ihren Texten und Übungen Bahn. Die gemeinsame Sicht auf das Ganze geht aus verschiedenen Blickrichtungen hervor, die nur komplementär auch das Ganze gewahren. Für diese Mehrsprachigkeit votiere ich schon, für den Zusammenfluss verschiedener Flüsse zu einem Strom. Das Universelle ist ein in uno versari, ein in eins gehen der Perspektiven, Konstitution lebendiger Ganzheit des Organismus aus der Vielheit! Ad g: Gott und Menschen stehen im Sinn dieser größeren und weiteren Intelligenz nicht durch Abbildrelationen getrennt im Blick, sondern im Sinn einer höheren übergreifenden Einheit. So etwas hat man immer wieder geahnt, wenn etwa vom Geist, Kernbegriff des deutschen Idealismus, die Rede war. Unsre Situation ist in vielfacher Hinsicht verschärft, doch auf einen solchen, die zwei Kulturen und Transzendenz und Immanenz verbindenden Fokus kommt es an. In meinem gerade abgeschlossenen Buchmanuskript "Weltphilosophie" habe ich dazu einiges zu skizzieren versucht.

JW: Die evolutiv neue Situation der Moderne ist kein Nebenbei, sondern führt ein technologisch bedingtes Katastrophenpotential mit sich, das weitaus ungeheuerlicher ist, als alle Weltkriege und Holocauste zusammen. Es muss sehr ernst genommen werden und wird mittels Mystik oder Gläubigkeiten kaum eingegrenzt oder gemindert werden können. Es bedarf dafür eines klaren und guten Geistes. Dieser kann als Allgegenwart (nicht Allmacht!) Gottes gedacht werden, handelnd durch Naturgesetze, den Zufall, uns selbst. Dabei wirkt sich alles aufeinander aus - was meines Erachtens "mystisch"-geheimnisvoll und hochkomplex genug ist, zumal es dabei immer wieder zur Wahrnehmung/Erfahrung des Ganzen kommen kann. Welchen Grund sehen Sie, das Religiöse (als den inneren, auf Gesamtzusammenhang gerichteter Orientierungssinn des Menschen) nicht von den konkreten Religionen unterscheiden zu wollen? Von den Religionen wurde dieser Orientierungssinn i.d.R. domestiziert. Die sich dieser Domestizierung nicht unterwarfen, ans Kreuz genagelt, gefoltert, als Ketzer verbrannt. Es ist mE sehr wichtig, diese Dinge klar zu sehen.

HS: Die Krisis- und Katastrophenträchtigkeit der eigenen Zeit ist mir durchaus deutlich. Das Ungeheure und weitreichende gilt es in der Tat zu erkennen. Lassen wir den Verweis auf Mystik beiseite. Die Erfordernis göttlicher Wirksamkeit meint wohl genau das, worauf Heidegger zielte, wenn er in dem viel zitierten SPIEGEL-Gespräch mit Rudolf Augstein sagte: "Nur noch ein Gott kann uns retten." Ich bin als Philosoph, vielleicht macht das eine deformation professionelle aus, dazu verpflichtet und darauf bedacht, Zwischenformen und Übergänge mitzudenken. So finde ich in den großen Religionen Einzelelemente, die verdunkeln und in der Tat domestizieren, neben anderen, in denen der originäre und tiefe Geist unmittelbar sichtbar ist: Dies gilt es natürlich auch angesichts der neuen und künftigen Bewegungen neu zu erfassen. Das Verhältnis von Geist und Buchstabe drückte dies einmal treffend aus. Noch einmal: Mir liegt es an der Mehrstimmigkeit der religiösen Traditionen, die im umfassend Religiösen zum Zuge kommen müssen.

JW: Kommen wir zurück zum Problem der Kollaboration. Unter den Voraussetzungen der evolutiv neuen Situation der Moderne entstehen durch Kollaboration Fallen, denen schwer zu entkommen ist. Nur ein wirklicher Bewusstseinswandel kann das Politische Feld ändern und die Menschheit noch retten. Aber dazu braucht es kultur-struktureller Maßnahmen.

HS: Genau! Ich sehe sie, naturgemäß, vor allem auf der Ebene der Bildung. Die gegenwärtige Universität neigt eher dazu, Anpassung zu belohnen anstatt Selbstdenken. Das Umdenken, der Zweifel werden gerade nicht honoriert, Betriebsamkeit wird vorgeschützt. Manche merken inzwischen, dass ein weiterer Ort wirklicher Freiheit verschwindet. Natürlich betrifft das nicht nur Universitäten und Schulen, sondern auch weite Teile des Kulturbetriebs. Ich würde gerne viel Energie einsetzen, um diese Tendenzen umzukehren und Institutionen zu Orten der Freiheit zu machen. Derridas Schrift über die unbedingte Universität fasziniert mich bis heute. Die Kollaborationsneigung hat ganz sicher in einem versteinernden Glauben seine Entsprechung. Deswegen müssen wir bei diesen Wurzeln ansetzen!

JW: Die Kollaborationsneigung ist im Bereich der Kultur nicht weniger erheblich als im Bereich der Religion und der Bildung. Es kommt aber auf Personen an; durch sie kann sich die Situation manchmal erheblich ändern.

HS: Ja, und diese müssen wieder an Schlüsselstellen positioniert werden. So verstehe ich auch unseren Denk- und Gesprächszusammenhang, der ja ohne formale Vernetzung zustande kam.

These 7: Angesichts der menschheitsgeschichtlichen Katastrophen des 20.
Jahrhunderts steht die christliche Kultur vor der Herausforderung,
sich gegen das Entstehen vergleichbarer Katastrophen zu stemmen.

HS: Indem sie den Geist einer Liebe wieder flüssig und selbstverständlich macht, der sich nicht korrumpiert, weil er mitten in dieser Welt ist, aber eben nicht von ihr abhängt. Das war die Forderung der christlichen Parrhesia.

JW: Weshalb steht vor allem die christliche Kultur vor der Herausforderung? Wie kann ihr Sich-gegen-Katastrophen-stemmen kulturell neu verankert und neu erschlossen werden? Liebe und Widerstand! Liebe und Widerstand zähle ich übrigens zu "Intelligenz".

HS: Damit sind zwei ganz wesentliche Momente der Intelligenz genannt, in deren Strom wir uns bewegen sollten. Ich meine, dass der christlichen Kultur in ihrem Grund diese beiden Momente besonders eingeschrieben sind. Und zwar auch schon IN DER WELT, jetzt , heute beginnend. Die fernöstlichen Religionen sind viel stärker „akosmistisch“ (Max Weber), weltlos, weltfern. Allerdings sehe ich in Sri Aurobindos ‚integralem Yoga‘ auch hier eine west-östliche Kultursynthese, die solche Brüche auf ihre Weise zu heilen sucht. Dies alles hat aber auch eine organistorische Außenseite. Die kulturelle Erschließung kann wohl primär von kleinen Zellen ausgehen, gut ausgestatteten privaten Think Tanks, Zentren des Forschens und Lebens, die dann die Mainstreamkultur fluten. Dafür braucht es Leidenschaft und Geld. Die richtigen Leute müssen zusammenkommen.

These 8: Unsere Kultur – aber auch die Menschheit als Ganzes – kann sich die religiöse Schizophrenie nicht länger leisten, dass es
»zwei verschiedene Erkenntnisordnungen gibt: die des Glaubens und die der Vernunft«. Denn dies führt zu ethisch völlig inakzeptablen
Verhaltensweisen, verhindert die Entwicklung eines vollen und ganzen menschlichen Bewusstseins sowie eines zukunftstragfähigen
Wertesystems, das einen Neuen Bund zwischen Universellem-Soziellem-Individuellem zu gewährleisten vermag.

HS: Ich habe ja in meiner Religionsphilosophie das Intermedium von Religion und Vernunft auszuloten versucht, damit auch die Spiritualität der Vernunft und die umfassende Intelligenz des Religiösen! Das ist ein Exerzitium, eine Vorübung, um diese in sich artikulierte und insofern auch unterschiedene Einheit zunehmend sichtbar und lebbar zu machen! – Wir leben tatsächlich nicht in zwei Welten, sondern in einer - fragil, wunderbar, tief und umfassend. - Ganz bin ich a.) beim Bundesgedanken: Dies ist das Großartige der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte, dass Gott den Bund eingeht, dieser foedus verknüpft Freiheit und Verbindlichkeit. b.) Die von Ihnen genannte Trias ist auch mir sehr wichtig. Von größter Bedeutung ist dabei, dass das Individuelle gewahrt bleibt, es wurde ja in allen Großideologien zerstört, getötet, zernichtet. Golgatha der Individuen, sagt Hegel am Ende seiner Phänomenologie des Geistes.

JW: Die Entwicklung eines vollen und ganzen Bewusstseins ist nur möglich, wenn Theologie sich nicht als dessen Summe, sondern als dessen Teil versteht und – auch anhand der modernen Wissenschaften, Künste und Philosophien - den Logos als integrale Verknüpfungsmöglichkeit anspricht. Das Golgatha der Individuen kann angesichts der Moderne zugleich zu einem Golgatha gesellschaftlichen (soziellen) Friedens werden. Im Hinblick auf das Sozielle sei erinnert, was Sebastian Haffner über Kameraderie schrieb: „Kameradschaft verdirbt und debraviert den Menschen wie kein Alkohol und wie kein Opium. Sie macht ihn unfähig zum eigenen, verantwortlichen, zivilisierten Leben. Ja, sie ist recht eigentlich ein Dezivilisationsmittel. Die allgemeine Kameradschafts-Hurerei, zu der die Nazis die Deutschen verführt haben, hat dieses Volk heruntergebracht wie nichts anderes.“ Die allgemeine Kameradschafts-Hurerei der Rezis (Realsozialisten) war nicht besser. Wie steht es damit heute? Wohl kaum wesentlich anders. D.h., dass der „Neue Bund“ zwischen Individuellem-Soziellem-Universellem in dreifacher Hinsicht ausgewogen gestaltet sein will und dafür entsprechend struktureller Grundlagen bedarf.

HS: Vielen Dank für das Haffner-Zitat, das mir nicht geläufig war, so sehr ich diesen Autor bewundere. Das ist so überaus treffend wie die Schlussfolgerung, die Sie ziehen. Ja, es bedarf einer Ausgewogenheit, die so etwas wie ein Tanz ist, selbst ein künstlerisches Gebilde, eine Performance in der Zeit. Die höchste Kunst sei die Lebenskunst, sagte Nietzsche und Brecht stimmte ihm erstaunlicherweise zu.

JW: Zu Glauben und Vernunft: Wenn Glauben aufgeklärt-modern als Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit gedacht (und praktiziert) würde, dann dürfte es keinen Grund geben, sich der „Vernunft“ (Intelligenz – s.u.!) und einem „Neuen Bund“ zwischen Individuellem-Soziellem-Universellem zu verweigern. Lebenskunst hätte damit eine tragfähige Basis.

HS: Mich bewegt auch persönlich derzeit ein Satz von Hölderlin, „Mitleidend bleibe das ewige Herz doch fest“. Ähnlich sagt Peter Rühmkorf: „Bleib erschütterbar und widersteh“. Das ist doch eine gute Haltung.

JW: Zu "Vernunft" möchte ich Sie auf die letzten drei Sätze aus Samjatins Dystopie "Wir" (an der Orwell und Huxley anknüpften) von 1920 aufmerksam machen. Die Hauptperson, Nummer D-503, beendet seinen Bericht mit folgenden Worten: "Aufschieben ist unmöglich - weil in den westlichen Vierteln immer noch Chaos ist, Geheul, Leichen, wilde Tiere und - leider - eine beträchtliche Anzahl Nummern, die der Vernunft untreu geworden sind. Aber auf dem quer verlaufenden 40. Prospekt ist es gelungen, eine provisorische Mauer aus elektrischen Wellen mit hoher Voltzahl zu konstruieren. Und ich hoffe, wir werden siegen. Mehr noch: ich bin überzeugt - wir werden siegen. Weil die Vernunft siegen muss."

In Samjatins Dystopie ist "Vernunft" mit dem "Einen Staat" identisch, heißt das Menschenvernichtungsgerät "Maschine des Wohltäters", das Überwachungspersonal nicht Inquisition, Gestapo, KGB, Stasi, NSA usw., sondern "Beschützer", "Schutzengel". - Die gegenwärtige Sprachkrise ist nicht zuletzt durch solch zynischen (und machtpolitisch intendierten) Gebrauch der Wörter bestimmt. Solche Wörter wie Kultur, Sinn, Gott, Glauben sind davon schon sehr lange betroffen - s.a. kulturelle Bemäntelung von Verbrechen. Könnten gedankliche Qualitäten diese Sinn- und Sprachkrise überwinden?

HS: Die Zeilen aus der Dystopie: Sehr eindrücklich, sehr stark. Zur Sprachkrise: Keines der großen Worte ist davon verschont geblieben. Deshalb sollte man sie skeptisch wenden, sehr behutsam gebrauchen. Zu den "gedanklichen Qualitäten", also auch der philosophischen Dimension: Das Denken hat nicht die Bildkraft der Dichtung, die verzaubernde Klangqualität der Musik, kann aber Unterscheidungen wachrufen. Seit Platon untersucht sie Täuschung und Lüge, um der Wahrheit näher zu kommen. Und sie muss nicht einen vermeintlichen Begriff von Vernunft reproduzieren, der doch tatsächlich nur in bestimmten Funktionen und Ideologien verbreitet wird. Dies ist ihre große Stärke. Deshalb sind gedankliche Qualitäten sehr zentral - übrigens, noch immer völlig unerkannt!

JW: Die moderne Sinn- und Sprachkrise wird ohne starke Wahrheitsbindungen kaum bewältigt werden können. Im Katastrophenpotential der Moderne sehe ich übrigens eine direkte Herausforderung, den Begriff der "Vernunft" durch den Gedanken der "Intelligenz" zu ergänzen oder gar zu ersetzen - als integrale Beziehung von emotio und ratio, von linker und rechter Gehirnhemisphäre, von Religiösem und Philosophischem, von Künstlerischem und Wissenschaftlichem, von Analyse- und Synthesevermögen. Menschliche Intelligenz heißt: Sowohl als Individuum als auch als Menschheit nicht zu dumm zum Überleben zu sein. Die entsprechenden gedanklichen Qualitäten sind im Übrigen keineswegs nur für Philosophie und Theologie wichtig, sondern mindestens ebenso für Politik, “Ökolonomie”, Kultur und Ethik. In den Künsten können sich gedanklichen Qualitäten in Formen, Farben, Klängen und Strukturen vollziehen; ich habe dazu in meinen beiden anderen Büchern geschrieben.

HS: Ja, ich kann mit dem Intelligenzbegriff gut leben, wenn er denn Natur- und Geisteswissenschaft verbindet, Kunst, Philosophie bis zu Physik und Mathematik. Am Vernunftbegriff gefällt mir zweierlei, zum einen, dass er den blossen Verstand integriert und zugleich auf seine Grenzen führt. Verstand: Rechnen, Kalkül ist nur ein Moment des Ganzen. Zum anderen noch wichtiger, dass Vernunft mit Vernehmen zu tun hat: Hören, Passivität, Wahrnehmung sind mit im Spiel. Denn die unendliche intellektuelle Tätigkeit macht bankrott. Gerade für den Musiker muss diese "akroamatische Dimension der Hermeneutik" (Manfred Riedel) wesentlich sein.

JW: Das stimmt.

These 9: Die o.g. Schizophrenie kann überwunden werden, denn Religiosität, Aufklärung, Moderne und die mit ihnen einhergehenden Erkenntnisse
schließen sich nicht aus, sondern bilden eine integrale Einheit, die es zukunftstragfähig zu gestalten gilt. Seit der Aufklärung haben
sich die besten Köpfe unserer Kultur um diese neue Einheit und um entsprechende kulturelle Innovationen bemüht. Ihr Erfolg blieb
jedoch auch aufgrund der massiven religiös-konservativen Barrieren äußerst begrenzt.

HS: Ihren emphatischen Begriff von Aufklärung kann ich nur bedingt teilen. Doch man sollte nicht um Worte streiten. Habermas' ungebrochene Rede vom "Projekt Aufklärung" ist m.E. ein Zeichen der Gedankenlosigkeit, das über die "Nacht der Aufklärung" im Totalitarismus und die "Dialektik der Aufklärung", wie sie Horkheimer und Adorno benannt haben, hinweggeht - staatsphilosophisch, unwidersprochen. So meinen Sie es freilich nicht: Sie meinen ein klares umfassendes Bewusstsein. Dass gerade auch die Kunst darin einen essentiellen Ort hat, ist meine Überzeugung … Über den Begriff des Integralen müssten wir uns noch verständigen. Ich meine nach wie vor, dass Aurobindo in seinem „Integralen Yoga“ hier große, buchstäblich west-östliche Dimensionen erschlossen hat. Aber wie auch immer, im Integralen verbindet sich lebendige Ganzheit mit wohlartikulierter Unterschiedenheit. Das muss zusammengeführt werden.

JW: „Lebendige Ganzheit mit wohlartikulierter Unterschiedenheit“ verbinden sich auch für mich mit dem „Integralen“ - und zwar jenseits von Totalitarismen/Großplänen à la Nationalsozialismus, Realsozialismus, des „Einen Staates“ oder nun der Silikon-Valley-Ideologie. Die Negativ-Seiten der Aufklärung liegen allein schon angesichts der Großkatastrophen des 20./21. Jahrhunderts offen. Noch nicht einmal das Weimarer Bauhaus sehe ich unkritisch - aber es war der Versuch, kulturelle Erneuerung mittels des integralen Zusammenwirkens der Künste in Gang zu setzen (s.a. die theoretischen Schriften von Wassily Kandinsky und Paul Klee). Ich habe daher 1991 erneut auf den Bauhaus-Bauhütte-Gedanken der kulturellen Erneuerung und des integralen Zusammenwirkens der Künste zurückgegriffen und dafür Künstler aus aller Welt eingeladen, um im gesamten Stadtraum von Wuppertal Klangkunst-Projekte zu realisieren.

HS: Dass die Kritik immer nötig ist, im Sinne von Benjamins rettender Kritik und in Verbindung von Vertrauen und Verdacht (P. Ricoeur) ist mir eine sehr wichtige Ergänzung. So können wir Integralität und Unterschiedenheit verbinden. Faszinierend war mir die Kenntnis von Ihrem Wuppertaler Vorhaben, dass der Kunstraum zugleich Lebensraum ist. Ein wenig davon habe ich in meiner Münchner Ästhetikvorlesung 2013, die als mp 3 erschien, gesagt.

Ich verstehe aufgrund Ihres gestrigen Briefes (und vielleicht auch im Pfingstlicht) noch deutlicher, dass die Aufklärung eben gerade in die Weite und das Ganze hinausgeht - und damit die Hinterwelten („Kobolde“ und Dämonen) verschwinden. Natur und Geist, Freiheit und Notwendigkeit sind ja nach Schelling zueinander unterwegs, in einer großen Odyssee, auf der sich am Ende das Eine als das Andere erweist. Philosophisch wird man nach wie vor unterscheiden müssen, doch unterscheiden um zusammenzusehen. Ich sehe aus dem Denken dafür einen regelrechten Kanon, den man lehren sollte: von Spinoza über Goethe, immer wieder zu dem großartigen Cusanus, der die "Coincidentia oppositorum" zeigt und lehrt - und eben auch zu denen, die an den Widerständen vermeintlich oder tatsächlich zerbrochen sind, wie Friedrich Nietzsche. Gerade an ihren Bruchstellen kommen wir weiter… Die Symbolsysteme der Religionen sehen Sie zu Recht in deren jeweiliger Eigenzeit und deren Grenzen verankert. Jürgen Habermas sprach vom "Glutkern" der Religion, den es zu retten gilt (an diesem Punkt kann ich gut mitgehen). Habermas spricht auch von der "Übersetzung" - ich meine in einem noch zu engen Sinn. Denn für ihn geht es eben um die Übersetzung dieses Glutkerns in säkulare Sprachen und Welten, auch im politischen Raum …

JW: Dietrich Bonhoeffer formulierte: „Es wird eine neue Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend ... dass sich die Welt darunter verändert und erneuert.“ Ich sehe es so, dass es mit diesem Gedanken in Bezug auf die Künste um eine neue aufgeklärt-moderne „Sprache Gottes“ geht, die in sich das Wechselspiel zwischen Teil und Ganzem vollzieht. Entsprechend halte ich auch „Übersetzungen“ in säkulare Sprachen und Welten für geboten.

Ein kleiner Junge fragte mich: "was ist Gott?". 
Ich antwortete: "der gute Geist des Lebens." 
Er fragte weiter: "Was ist Geist?" 
Meine Antwort: "Geist ist das, was wir denken, fühlen und glauben."
(H.Johannes Wallmann 2021)
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Treffend verwiesen Sie heute am Pfingst-Sonntag auf Cusanus´ "Coincidentia oppositorum" – was Gott als einigende Einheit alles Gegensätzlichen meint. Wie Cusanus sehr schön zwischen Verstand und Vernunft unterscheidet, kann ich nicht besser als Wikipedia: „Indem die Vernunft das unterscheidende Negieren des Verstandes ... negiert, gelangt sie zum Begriff der Unendlichkeit und der unendlichen Einheit, in der die Gegensätze in eins zusammenfallen (koinzidieren).“ Das Pfingst-Lallen als Sprache dieses Geistes der „Vernunft“, als Sprache universeller Intelligenz – ein Gesang, der in unterschiedlichen Sprachen verstanden wird. Heiliger Geist - heilender Geist – universelle Intelligenz - integrale Intelligenz? Angesichts der Zerrissenheit der bisherigen Moderne liegt darin die Frage nach den gedanklichen Qualitäten einer geistigen Zusammenschau und Heilung der Welt. Gelingt diese nicht, ist angesichts der Moderne das Auseinanderfallen in zerstörerische Eigendynamiken unvermeidbar - und damit auch der Supergau.

Allerdings bevorzuge ich gegenüber „Einheit“ den Begriff des „Ganzen“, da „Einheit“ (Gott?) denken oder gar erreichen zu wollen, z.B. die Gefahr von Monotypismen sowie des „Einen Staates“ mit sich führt. Der Begriff des Ganzen erlaubt dagegen nicht nur Vielgestaltigkeiten und die top-down-, bottom-up- und between-Dynamiken, sondern wirft auch die Frage nach Perspektiven und Qualitäten auf: Wann und warum ein Ganzes als Teil, ein Teil als Ganzes zu betrachten ist, wann und warum ein Ganzes zu einem Kaputten wird. Zudem: Nichts ist im Ganzen, was nicht in den Teilen, nichts ist in den Teilen, was nicht im Ganzen ist. So gedacht, haben wir es beim Ganzen mit einem mehr oder minder intelligenten Organismus zu tun, der durch das Wechselspiel seiner unterschiedlichsten Teile, Perspektiven und Qualitäten lebt oder (wenn zu dumm zum Überleben) zugrunde geht.

HS: Bonhoeffer thematisiert ja in seiner These auch den Bruch aller religiösen Tradition. „Religio“ bedeutet im lateinischen Begriffssinn, zunächst die menschliche Pflichten gegenüber den Göttern erfüllende Arbeit. Dies hat in der Tat seine Bindekraft verloren, es liegt in Trümmern: Daraus nicht in weitere Destruktion zu kommen, oder in eine nur gelenkte Weltstaats-Einheit, das steht an! … Die Verbindung zwischen dem Einen und dem Ganzen sehe ich so, dass das Eine niemals unifiziert und verdinglicht werden darf. Es ist das verborgene und leitende Fluidum, das selbst nicht sichtbar wird. Darüber hat übrigens Immanuel Kant, leitend für die ganze nachkantische Philosophie, in seiner Kritik der Urteilskraft, der dritten Kritik, gehandelt: Während im "Mechanismus" Ursache und Wirkung klar voneinander getrennt sind, ist im Organismus auf allen Stufen Wechselseitigkeit und Durchdringung. Diese Dimension liegt auch hinter den Gegensätzen. Der LOGOS des Heraklit in seiner Gegensatzlehre, der Nous des Anaxagoras und ähnliche Strukturen deuten dies an. Der alte Kant wollte übrigens unter das Zeichen des Zoroaster (Zarathustra) seine Lehre vom Äther und der Einheit setzen. Soll die Zerrissenheit geheilt werden können, das Zerfallen der membra disiecta in Feindseligkeit und Zerstörung überwindbar sein, so bedarf es dieser übergreifenden verflüssigenden Dimension.

JW: Mir scheint, dass wir unsere Diskussion noch etwas zu abgehoben führen. Mir läge daran, die betreffenden Fragen für den "normalen" Menschen zugänglich zu formulieren. Kunst - wenn sie als "neue Sprache Gottes" aufgefasst wird - kann das möglicherweise besser als alle intellektuelle Auseinandersetzung. Aber ohne intellektuelle Auseinandersetzung geht es eben auch nicht.

HS: "Abgehoben", alltäglich, spirituell - das mögen Kritikmomente der Performance sein. Auf eins kommt es an: Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste, Hölderlin sagt das in seinem kleinen, aber ungemein eindringlichen Gedicht: „Sokrates und Alkibiades“. Kant und Platon meinten auch, dass der gemeine Mann all das auch wisse, was die Weltweisen erkannt hätten. Klar; man kann darunter bleiben. Ebenso klar: Die Philosophie hat die Aufgabe, die Zwischenstufen zu benennen, zwischen verengtem und lebendigem Denken. Wenn dies fehlt, kann auch die esoterische Vision ideologische Züge annehmen.

JW: "Wer das Tiefste gedacht" - damit haben Sie Recht. Ich denke jedoch auch an das Höhlengleichnis und an Platons Forderung, dass jene, die draußen im Licht der Erkenntnis sind, wieder zurück sollen, um die anderen Höhlenbewohner zu animieren, sich ebenfalls aus der Höhlen-Ideologie zu befreien. Vielleicht kriegen wir solches ja doch noch irgendwie hin; es ist das Ziel von Kultur-Reformation, der ich seit 25 Jahren den Weg zu bereiten versuche.

HS: Nicht zu vergessen ist, dass die künftigen Philosophenkönige zunächst selbst zum Ausstieg aus der Höhle genötigt werden müssen, und dann auch wieder dazu, aus dem hellen Licht zurückzugehen in die Höhle. Gerade das ist unbedingt erforderlich - und es wäre großartig, ja ein Überlebensimperativ, wenn wir damit weiterkämen.
Dass Widerstand und Liebe, aber auch Widerstand und mystische Versenkung in das Eine und Ganze eng zusammenhängen, ist meine Überzeugung. Und das Religiöse in den verschiedenen Timbres und Ausführungen berührt sich ja in der mystischen Erfahrung besonders: Myein: Schließen der Augen und Sinne im Eintreten in diesen Fluss. - Wie stehen Sie zu Sri Aurobindo? In meinen jetzigen Überlegungen zu einer Weltphilosophie wird er zur eigentlichen Schlüsselgestalt. Ich meine, dass er einen Apex der Integralität in Theorie und Praxis gesetzt hat, die auch für uns heute von größter Bedeutung ist, nicht zuletzt im Spannungsbogen von Ost und West. Er ist Pionier und die Quelle des Integralen Bewusstseins.

JW: Mit Sri Aurobindo kam ich quasi über Karlheiz Stockhausen in Berührung, wobei mir Stockhausen dabei zu weit ging (er stamme vom Sirius). Das war ein Punkt, weshalb ich entschied, mich - trotz Yoga-Übungen - vor allem von der christlichen Kultur her mit Mystik zu beschäftigen, z.B. Meister Eckhart, Cusanus, Jakob Böhme bis hin zu Pascal, Hölderlin, vor allem aber eben der Musik. In ihrem integralen Zusammenschwingen unterschiedlicher Teile liegen mehr als genug „Geheimnisse“, die allerdings sehr aufgeklärt und modern betrachtet werden können. - Darf ich Sie bitten, kurz und genau zusammengefasst den integralen Ansatz von Sri Aurobindo und seine Konsequenzen im praktischen Leben zu beschreiben?

HS: Er artikuliert sich, wie ich ihn verstehe, wesentlich als Synthese östlicher und westlicher Wege; Person und Freiheit und ein Trans- und Überpersönliches verbinden sich darin. Er weist insofern verschiedenen Übungs- und Yogawegen, dem Praktischen, dem Kriegerischen, dem Denkenden, der liebenden Hingabe ihren Ort zu. Das ist, zumindest dem Anspruch nach, immer zugleich Praxis.

JW: Inwiefern sehen Sie im Begriff des Integralen von Sri Aurobindo eine Überwindung der Schizophrenie zwischen Glauben und Vernunft? Ich meine mit dem Begriff des Integralen u.a. ungespaltene Intelligenz, volles und ganzes Bewusstsein.

HS: Ich meine, dass dies seine eigentliche Absicht war und dass seine Schriften vor allem aber seine Lebensform in diesem Sinn richtungweisenden Charakter haben. Die Seinen haben’s aber nicht ergriffen, konnten’s nicht. Manche dumpfe Erwartung: dass man selbst unsterblich werden könnte und ins Supramentale segeln.

These 10: Nicht zuletzt aufgrund dieser Schizophrenie entwickelten sich durch die modernen Technologien (die tief in kleinste Teilchen, 
z.B. in Atome, Gene und Ozon - und damit in die allgemeinen Lebensgrundlagen - eingreifen) jene Eigendynamiken, die gegenwärtig
dabei sind, das Leben auf diesem Planeten zu vernichten. Auch der Klimawandel ist ein Resultat dieser Eigendynamiken und der ihnen
zugrunde liegenden Mentalitäten. Aber er ist bei weitem nicht die einzige Bedrohung. 

HS: Man wird eben die Technologien nicht mehr einhegen können, ebenso wenig wie die Kriege und Terrorbedrohungen der Gegenwart. Man muss sie über- und verwinden: durch ein konkretes Ideal der geeinten Menschheit. Die Wahrheit schreit dennoch nicht in den Atomkernen: Darin leidet mit Römer 8, die geknechtete Kreatur. Die Wahrheit ist die Forderung nach Erlösung und Auflösung dieser Dissonanz.

JW: Ja, die Wahrheit ist der Weg und und das Leben! Aber „Was ist Wahrheit?“. Wie das konkrete „Ideal der geeinten Menschheit“ (Sri Aurobindo) degenerieren kann, haben Nationalsozialismus, Realsozialismus ebenso wie der Islamismus vor Augen geführt. Momentan heißt dieses „Ideal“ Kapitalismus und führt neue Großkatastrophen mit sich - von der Ökokatastrophe bis hin zur digitalen Totalüberwachung. Ich behaupte, dass sich die modernen Technologien nur insofern „einhegen“ und umkonfigurieren lassen werden, wie die o.g. Schizophrenie überwunden wird und die damit verbundenen neuen Weltsichten (Ganzheit mit wohlartikulierter Unterschiedenheit!) kultur-strukturell untersetzt werden.

HS: Völlig bei Ihnen! Das Problem ist, wenn eine Ideologie oder Zielsetzung sich für dieses Eine erklärt und anmaßt, es zu sein. Das hat Rousseau schon mit seiner „volonté generale“ gesehen, die dann natürlich genauso gebraucht wurde. Geben wir vielleicht wirklich den Begriff des EINEN auf - wo er materialisiert wird, droht das totalitäre Gespenst - und reden wir von Ganzheit.

JW:

Von Ganzheit reden oder auch nur vom Ganzen, das ständig gefährdet ist, zu einem Kaputten zu werden, wenn es nicht gelingt, die Schizophrenie zwischen den organismischen Lebensgrundlagen und den modernen Technologien zu überwinden.

HS: Genau, deshalb können wir auch nicht mehr an einem Zwei Kulturen-Konzept (C. P. Snow) festhalten.

JW: Denn an dem Zwei-Kulturen-Konzept festzuhalten, würde bedeuten, an der Schizophrenie festzuhalten. D.h., dass den Künsten und Geisteswissenschaften keine mindere Bedeutung als den Natur- und Technikwissenschaften zukommt und sie deshalb auch entsprechender Finanzierung bedürfen. Allerdings müsste auch in den Künsten und Geisteswissenschaften „das Ganze“ und „Integrale“ als notwendig anerkannt und entsprechend neu gedacht werden.

HS: Darin sehe ich sogar ein ganz zentrales Anliegen der von Ihnen nachdrücklich und mit völligem Recht eingeforderten Kulturreformation.

These 11: Durch ihre – aus religiösem Konservativismus gespeiste - Ignoranz gegenüber Aufklärung und Moderne verschärfen
Religionsführer und Kirchenverantwortliche nicht nur die tiefgreifenden Probleme der Welt, sondern rauben unzähligen Menschen
die Möglichkeit, jenseits von Traditionen und Gewohnheiten eine aufgeklärte und freiheitlich-verantwortliche Religiosität leben und
entfalten zu können.

HS: Sie denken ja oft gar nicht nach! Sie wissen oft nicht, was sie tun. Ja, zu dem Schritt in einen Bereich jenseits der Gewohnheiten! Traditionen sind m.E sehr ambivalente und zwiespältige Gebilde. In ihnen liegt, oft in den verdrängten Glutströmen, viel Gutes und Zukunftsweisendes - es gibt einen Höhenweg über Zeiten und Kulturen hinweg. Dies meinte Nietzsche mit seinem Diktum vom „Monumentalischen!“ Es ist das Denkmal, Denkzeichen, das uns erinnert. Man muss – und sollte – das Rad nicht neu erfinden wollen; daraus könnte eine neue Hybris erwachsen. Doch die Versteinerungen sind aufzubrechen, auf ein übergreifendes Ideal. Rettende Kritik also im Umgang mit dem, was vor uns liegt, Hermeneutik des Vertrauens und des Verdachts, vor einem klaren Kompass ins Künftige, die offene Meerfahrt.

JW: Solange die Lösung aller Probleme vom Lieben Gott erwartet wird, werden sie nicht gelöst, sondern auf den St.-Nimmerleins-Tag verschoben – angesichts der Moderne heißt das: in die Großkatastrophe. Es gibt jenseits der Traditionalismen die Möglichkeit modernen Glaubens als Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit. Dieses Eingeständnis bedeutet letztlich die Suche nach und die Hoffnung auf gegenseitige(r) Ergänzung. Zwar kann auch eine modern gedachte/praktizierte Religiosität bestimmte Riten und Traditionen akzeptieren, will diese aber metaphorisch aufgeklärt-modern verstehen können. Traditionalistische Dogmen und Gewohnheiten stehen dem entgegen, sind aber Abgrenzungs- und Selbsterhaltungsstrategien ideologischer Religionsführer.

HS: Soweit d’accord. Geist und nicht Buchstabe! Verflüssigung (Hegel) nicht Verfestigung.

JW: Ja!

These 12: In ihrem Buch „Atheistisch an Gott glauben“ schreibt Dorothee Sölle: „Theologie als kritische Selbstverständigung ist
bestimmt durch jenes Ereignis, das Nietzsche das ´große neuere´ genannt hat; das ´Ereignis, daß >Gott tot ist< und daß ´wir´
ihn ´getötet´ haben. [...] Nietzsche begreift jene Tötung als letzte Konsequenz aus dem christlichen Gottesgedanken selbst, wie er
sich in der abendländischen Metaphysik zweier Jahrtausende entwickelt hat. Durchdenkt man diese Konsequenz, so fragt sich´, ob
Säkularisierung etwas ist, das, dem christlichen Glauben und seinem Wesen entgegengesetzt, diesem aufgezwungen wird und das ihn von außen
her zerstört, oder ob sie ein Vorgang ist, der sich folgerecht aus dem Wesen des christlichen Glaubens ergibt.´ [Friedrich Gogarten] 
Die zweite Deutung hat sich seit Friedrich Gogarten, Dietrich Bonhhoeffer und Paul Tillich in der evangelischen Theologie der
Gegenwart immer stärker durchgesetzt.“ Wie ging die kirchliche Praxis mit dieser Deutung um?

HS: Ich finde den Gedanken sehr richtig, auch wenn ich zum Werk von Dorothee Sölle ambivalent stehe. Ihre politischen Nachtgebete haben auch Formen der Gewalt sanktioniert, die m.E. nicht gerechtfertigt ist. Doch der Punkt ist ja in der Tat: Dass christlicher Glaube die Kenose, den leidenden und sterbenden Gott, ins Zentrum rückt, letztlich sich nicht als Religion „durchsetzen“ will, sondern in die Entäußerung eingeht. Wenn das Kreuz zum Triumphzeichen wird, ist dies eine ungeheure Revolution. Ja, Säkularisierung, das „Etiamsi Deus non daretur“ ist insofern ein unhintergehbares Moment christlichen Glaubens selbst.

JW: Bitte erläutern Sie Kenose genauer.
 

HS: Menschwerdung, Preisgabe der äußeren Macht - Jesu Weg vollendet sich am tiefsten Punkt, da tritt die Umkehrung ein.

JW: Und was bedeutet das „Etiamsi Deus non daretur“?

HS: Davon sprachen schon die neuzeitlichen Naturrechtler. Recht und Gerechtigkeit müssen auch gelten, wenn es Gott nicht gäbe, so die Formulierung im wörtlichen Verständnis. Bonhoeffer hat das auf ein Leben in der Welt verstanden, das die Schalen der Religion nicht mehr braucht: Ein großer Gedanke, auch wenn er - bedingt durch die Zeitläufte des 20. Jahrhunderts - nur Fragment blieb.

JW: Wenn das Kreuz zum Triumphzeichen (s.a. Kreuzzüge) wird, ist dies in meinen Augen eher ein ungeheurer Verrat an dem, was „dieser“ Jesus lebenspraktisch vertrat. Das in These 12 angesprochene Problem zielt auf den Traditionalismus der Kirchen, den es aufgeklärt-modern zu überwinden gilt.

HS: Das Traditionalismusproblem ist ja zwischen uns unstrittig. Doch würde ich hinzufügen: Ebenso schlimm wie der Traditionalismus ist die Anbiederung an jeweilige Zeittendenzen. Mit dem Kreuz ist es natürlich eine Crux: Zur Lebenspraktik, die Sie zu Recht betonen, gehört diese äußerste Hingabe, und das Ganze ist tief dialektisch. Heißt: Der Triumph ist die innere Überwindung der Sündenbock- und Hassmechanismen selbst. Der Triumph besticht ja gerade durch den Verzicht auf Waffen. René Girard hat in seinen Büchern darauf hingewiesen - Durchbrechung der Tötungsmaschinerien. Wo der Triumph wieder nach außen gewendet wird, ist er schon verraten. Das ist ganz einfach, im Grunde, aber in zweitausend Jahren nicht begriffen worden.

JW: „Kenose“ scheint (ebenso wie die von Habermas geforderte Übersetzung von religiösen Inhalten in säkulare Sprache) darauf zu deuten, dass Gott und Welt als ein Ganzes, als integrale Einheit zu denken sind – egal, ob sie sakral oder säkular beschrieben werden. D.h. (auch hinsichtlich dessen, dass es auf den Geist und nicht den Buchstaben ankommt) dass ein säkulares Sprechen und Vollziehen von Religion als keineswegs minderwertig anzusehen ist. Im Gegenteil, sie „entäußert“ sich damit in die Sprache gegenwärtigen Lebens.

HS: Ein sehr schöner, tiefer Gedanke: Und genau darin feiert sie Auferstehung, Freude. Wie in der Liebe, wo die Durchlässigkeit des Anderen das Schönste, Tiefste des Eigenen zutage bringen kann.

JW: Der „Tod Gottes“ aus Liebe. Und Liebe als tiefursprüngliches Ergänzungssehnen.

HS: Ja, eine sehr treffende Kennzeichnung der Liebe, auf allen Ebenen.

These 13: Im Sinne moderner Theologie ist es an der Zeit, sich von dem alten Denkmodell „Gott“ zu lösen und „Gott“ nicht länger
als alten Herrn zu begreifen, der vom Himmel aus die Geschicke steuert, sondern ihn als Begriff für universelle Intelligenz zu
denken, aus der die hohen Ordnungen des Weltalls und das Leben selbst hervorgingen und der es sich auf allen Ebenen menschlichen Lebens zu
öffnen gilt. So gesehen, ist „Gott“ nicht tot, sondern äußerst lebendig - allerdings ganz anders, als bisher gedacht.

HS: Gott ist zu denken und zu erfahren: soweit d’accord. Er ist alles in allem. Auch der kosmische Christus ist als umfassende Liebesmacht und Energie so zu fassen. Die Bezüglichkeit Gottes in sich selbst, die als Vater, Sohn und Geist manifestiert ist, ist m.E. von großer Bedeutung. Deshalb würde ich auch der Personalität und Überpersonalität Gottes in einem betonen, da kommt der integralen Dimension zentrale Bedeutung zu.

JW: Infolge von These 11+12 geht es mit These 13 darum, das alte Denkmodell „Gott“ zu überwinden. Mein Vorschlag ist, Gott neu als allgegenwärtige - aber (in Antwort z.B. auf Auschwitz) nicht allmächtige! - universelle Intelligenz zu denken, deren Lebendigkeit wir in dem Maße erfahren, wie wir uns ihr öffnen. Der Generationenzusammenhang Vater/Mutter – Sohn/Tochter ist dabei ebenso von Bedeutung wie der gemeinsame (heilende) Geist, ohne den sich weder der Generationenzusammenhang leben lässt, noch die ökologischen Lebensgrundlagen dauerhaft gesichert werden können. Übersieht ein gemeinsamer Geist die Problematiken der Moderne und ihrer evolutiv neuen Situation, dann ist er den modernen technologischen Eigendynamiken unterworfen und wird so dazu beitragen, das Leben zugrunde zu richten. Erkennt er die evolutiv neue Situation, dann wird er nach tragfähigen Ansätzen und Lösungen suchen, um das Leben auf diesem Planeten dauerhaft zu gewährleisten.

der Geist geht der Wirklichkeit voran

HS: Ich kommentiere das jetzt nicht weiter. Mir geht es darum, dass wir uns nicht selbst als Religionsstifter betätigen. Selbst von mir hochgeschätzte Geister wie Rudolf Bahro sind dem nicht ganz entgangen. Und dann erwacht man schnell wieder in einer Ideologie.

JW: Ideologien "müssen" geglaubt werden, Ideen-Logiken dagegen wollen argumentiert und hinterfragt sein. Das ist der entscheidende Unterschied. Doch macht argumentative Verstandestätigkeit noch nicht einmal die Hälfte unseres Intelligenzpotentials aus. Gott – säkular als universelle Intelligenz („höher als alle Vernunft“) gedacht – kann als ein Begriff für den entscheidenden Teil dieses Intelligenzpotentials gelten, das so lebendig ist, wie es ideologiefrei, konstruktiv-kritisch, hinterfragbar bleibt. In diesem Sinne können eben auch die Künste eine „neue Sprache Gottes“ sein - wie Bonhoeffer schrieb.

HS: Das meine ich. Nun ist die Philosophie eben auch Übung, eine eigene Yoga-Form, wenngleich im Westen vielfach vergessen. Sehr schön auch der Satz im Kolosserbrief: „In Christus sind verborgen alle Schätze der Weisheit“. Keine Unter- eine Überbietung.

JW: Und das funktioniert auch dann, wenn Jesus ganz diesseitig als Mensch gedacht wird (s.o. zu „Kenose“) und alle Menschen als potentielle „Gottes Kinder“ (potentielle Teilhaber an „universeller Intelligenz“) zu verstehen sind und schon allein dadurch „Leben in der Bude“ ist.

These 14: Die natürlichen Lebensgrundlagen auf der Erde und die Intelligenzpotentiale des Menschen sind das große Geschenk der
Evolution und der in ihr wirkenden universellen Intelligenz. Die Evolution kann als Beleg für das Wirken dieser universellen
Intelligenz verstanden werden.

HS: Mit dieser These habe ich Schwierigkeiten, vor allem mit der undifferenzierten Apotheose „der Evolution“. Ich gebe zu, dass ich darin einen holistischen Naturalismus fürchte, der gerade der Individualität und dem vielspältigen Universalen (in uno versari) widerspricht! Sie müsse Evolution schon so fassen, dass sie auch die geisthafte und individuelle Dimension einschließt. Ich finde hier einige Ansätze des ganz alten Karl Popper hilfreich, Whiteheads Process and Reality geht in die Richtung, denkt aber eben Geist und Subjektivität nicht! Bemerkenswert ist Bergson. Auch hier hat Aurobindo manches beigetragen. Es ist sehr zentral, doch mit Darwin retten wir die Welt nicht!

JW: Wie in These 15 nochmals unterstrichen, betrachte ich das Leben hier auf der Erde – ebenso wie den Kosmos – als ein großes evolvierendes Selbstorganisationssystem. Dass dessen Entwicklung per „Evolution“ geschehen ist und geschieht, kann unabhängig davon angenommen werden, ob Darwin in allen Dingen recht hatte oder nicht. Ich kann nur empfehlen, Darwin zu lesen, z.B. wie er das Wachsen von Wald beschreibt. Zur Evolution zähle ich allerdings auch die „Evolution“ von Geist und Kultur sowie von Machtstrukturen. Habe in INTERGALE MODERNE aufgezeigt: Wenn die Menschheit Zukunft haben und dauerhaft überleben will, sind alle vom Menschen geschaffenen Funktionen, Formen und Strukturen (auch z.B. Politik, Kultur, Ökonomie, Technologien, Philosophien, Religionen, Wissenschaften, Künste) darauf zu befragen, inwiefern sie sich gegenüber der Evolution und dem Ökosystem Erde als teleonomisch fittest erweisen oder falsifiziert werden. Mit  teleonomisch geht es um „Strukturen, Leistungen und Tätigkeiten, die zum Erfolg eines (biologischen) Projektes beitragen."  Dies gilt gleichermaßen für alle anderen „Projekte“ - z.B. kulturelle, demokratische oder „ökolonomische“.

HS: Dem Hinweis, Darwin zu lesen, werde ich gerne nachkommen. Dass Sie Teleonomie einführen, ist mir sehr sympathisch. Mich haben das Buch meines einstigen Münchner Lehrers Robert Spaemann, Die Frage Wozu? und eben vor allem Kants Organismusbegriff hier sehr geprägt. Weniger sympathisch ist mir der Fitness- und Erfolgsbegriff. Der Kosmos ist auch ein großes Spiel, ein sehr ernstes natürlich. Sprechen wir uns nach meiner Darwin-Lektüre wieder.

JW: „Fittest“ sehe ich nicht als „Fitness- und Erfolgsbegriff“, sondern als ein sich Bewähren-müssen auch des modernen Menschen gegenüber der Evolution, die ihn andernfalls hinwegfegt. Wichtig, denn seine technologische und machtpolitische Überheblichkeit ließ ihn das leider allzu oft vergessen. Es kommt dann z.B. viel Wasser - das soll es ja schon einmal gegeben haben!

HS: Merci für die Präzisierung.

These 15: „Gott“ als Begriff für höchste universelle Intelligenz, als Begriff für das Ganze, als Begriff für einen Neuen Bund zwischen
Individuellem-Soziellem-Universellem, als Sinnbild der Liebe sowie höchster ethischer Maßstäbe, als Begriff für eine neue Einheit
zwischen Mensch und Natur, wäre für eine zukunftstragfähige Selbstorganisation menschlichen Lebens auf der Erde von grundlegender
Relevanz.

HS: Völlig d’accord, wenn Sie zu Selbstorganisation das um sich Wissen, sich Erkennen hinzufügen!

JW: Selbstverständlich ist das um sich Wissen, sich Erkennen inbegriffen und notwendiger Bestandteil dieses modernen Gottes-Begriffs. - Vielleicht sollten wir ihn doch noch etwas kritischer zu diskutieren versuchen?

HS: Sehr berechtigt scheint mir 1. der Bund, 2. die Liebe in Ihrer Konzeption und dann wieder die faszinierende Trias Individuell-Soziell-Universell. Hegel sprach vom Einzelnen-Besonderen (also Soziell) und Allgemeinen. Das ist einander sehr nah. Die Crux wird sein, wie das je eigene und das gemeinschaftliche Bewusstsein Person sind: Persona formuliert ja eh immer den Zusammenhang von Geist und Leib, und inweifern sie Bild der göttlichen Person sind. Die ist dann nicht der außen bleibende Alte Mann oder das Über-Ich, sondern Inbild meiner, unsrer selbst.

JW: Ich denke, dass nur das „Ich“, das „Du“ und das „Wir“ als Personen gedacht werden müssen. Denn das Sozielle setzt sich aus einer Vielzahl von Personen zusammen, die gemeinsam einen gesellschaftlichen/kulturellen Körper bilden und ihren gemeinsamen Nenner im Universellen finden können. Gott als Person zu denken, betrachte ich nur als eine Hilfskonstruktion, hilfreich für den Kinderglauben sowie als personifizierter Ansprechpartner heilenden Geistes, dessen potentielle Teilhaber wir sein sollten.

These 16: In solch modernem theologischen Sinne können sich modern undaufgeklärt denkende Christen als erwachsen gewordene „Kinder
Gottes“ verstehen, die in vollem Umfang für ihr Tun und Lassen sowie die Erhaltung der ideellen und materiellen Lebensgrundlagen
verantwortlich sind.

HS: Jene eigenständige Mündigkeit ist ihnen ja auch dezidiert aufgetragen!

JW: D.h., dass dieses Neuverständnis und der „alte Auftrag“ sich nicht widersprechen. Ich möchte allerdings unterstreichen, dass die „Kinder Gottes“ wache und intelligente und lebensfreudige Kinder sein müssen, die nicht mit einer Schafherde verwechselt werden dürfen, die von priesterlichen Hirten zu betreuen ist (was leider allzuoft üblicher Kirchen-Ungeist ist).

HS: Ja, sie sind eine Bürgerschaft, ein freies Volk aus sozialen Individuen! Ganz wichtig, Liebende und Geliebte.

JW: Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Aus Liebe erwächst Verantwortung, Liebe macht erwachsen.

HS: Und sie macht sehend.

These 17: Jede Mutter gebirt mit ihrem Kind einen potentiellen Teilhaber an universeller Intelligenz. Deshalb erwirbt jeder Mensch mit seiner
Geburt genuine Rechte der Teilhabe an den Lebensgrundlagen und den  allgemeinen Austauschkreisläufen. Zugleich erwirbt jeder Mensch die
Pflicht, dafür einzutreten, dass entsprechend der Goldenen Regel jedem einzelnen Menschen diese Teilhabe gewährt wird. Das u.a. heißt
modernes Christsein und ist eine Voraussetzung zur Entwicklung von „Christussubstanz“.

HS: Ich meine in der Tat, dass Menschenwürde in eine solche universale, aber in sich spezifizierte habeas corpus-Akte münden muss. Das muss nicht nur deklarativ, sondern rechtlich und ethisch in die Magna Charta der geeinten Menschheit eingehen.

JW: Teilhabe an höchster universeller Intelligenz - an Gott – setzt Teilhabe an den Lebensgrundlagen und Austauschkreisläufen voraus. Da jeder Mensch ein potentieller Teilhaber Gottes ist, erwirbt er genuin auch entsprechende Rechte der Teilhabe an den Lebensgrundlagen und Austauschkreisläufen.

HS: Ja, in der Tat. Teilhabe muss dann rechtlich kodifiziert sein und einklagbar, in einem Weltrecht, das den Frieden stabilisiert und in dem sich ein neues Bewusstsein politisch valide dokumentiert.

JW: Könnten Sie bitte „habeas corpus-Akte“ erläutern?

HS: Bedürftigkeit und Fähigkeit schon unseres Leibes erfordern einen Schutz- und positiven Rechtsraum. Das gilt universell. Je nach konkretem Leib werden diese Rechte aber unterschiedlich aussehen, für einen Mann anders als für eine Frau. Der alte Kalauer: Baron Rothschild und der Bettler haben beide das Recht unter einer Seinebrücke zu schlafen. Für Rothschild wird es kaum relevant werden.

JW: Aber auch ein Rothschild – oder ein anderer Milliardär auf der Titanic-Moderne - wird einräumen müssen, dass in einem Bettler u.U. ein Genie (ein individueller Teilhaber an höchster universeller Intelligenz) stecken könnte, dessen Erkenntnisse oder Weisheiten für die Bewältigung der evolutiv neuen Situation und für das gemeinsame „Raumschiff Erde“ möglicherweise von einzigartiger Bedeutung sein könnten. Wenn der Milliardär seine Milliarden für sich behält, wird er (bzw. seine Nachkommen) mit ihnen untergehen wie alle anderen Menschen auch. Er hätte umsonst gelebt, weil er mit dem Leben nur sich allein gemeint hat. Die Gewährleistung der Teilhabe aller Individuen an den Austauschkreisläufen bildet daher eine Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe an höchster universeller Intelligenz. Diese ist unverzichtbar für die Bewältigung der evolutiv neuen Situation (s.a. Höhlengleichnis) sowie für ein entsprechend gemeinsames Arbeiten an dem Boot namens „Raumschiff Erde“, in dem wir alle ohne Ausnahme sitzen.

HS: Mir leuchtet in diesem Sinne sehr ein, dass Gott in den verschiedenen Weltreligionen und ihren Symbolsystemen manifest, das Geheimnis dieser Welt ist und dass, wo die Entzauberung (M. Weber) totalisiert wird, die Gespenster und Ungeister aus den Tiefen enstpringen. Die große Aufgabe, da bin ich sehr bei Ihnen, ist doch, wie wir dieses Weltgespräch so erfahren und erfassen können, dass auch die jeweils anderen Weltsichten und Weltecken gesehen werden können. Dazu bedarf es der großen Fragen und Entwürfe, die aber gerade darum, weil sie es wagen, ins Offene hinauszusegeln, nicht verhärten und nicht totalitär werden. Ein kleiner Pragmatismus, der das Gefährliche meidet, weil es gefährlich ist, ist dem nicht gewachsen Mich beschäftigt Guardinis späte Frage, wie am Ende der Neuzeit oder nach diesem Ende, die Macht zu kultivieren ist.

JW: Begreift man den Menschen als potentiellen "Teilhaber an höchster universeller Intelligenz", dann kann Vernunft ersetzt werden durch Intelligenz, wozu nicht nur Liebe und Widerstand, sondern auch Teilhabe gehört. Teilhabe heißt auch Weltgespräch und „um die Weltecken sehen“ und ist angesichts der evolutiv neuen Situation unverzichtbar, muss aber quasi ideologiefrei geschehen. Nur so kann sich (auch angesichts der Allmacht des Geldes) ein transkulturelles Bewusstsein herstellen. - Zu den Gespenstern und Ungeistern: In Tarkowskis Film Solaris verschwinden die Kobolde, die die Astronauten in ihren Kabinen bedrängen, erst in dem Moment, in dem sich die Astronauten mit dem "Weltmeer" - mit dem Ganzen, "Höheren", Universellen – synchronisieren. Auf der Basis eines solchen gemeinsamen „Synchronisierens“ ließe sich (nicht zuletzt hinsichtlich der bewussten Vermeidung des global möglichen Supergaus) möglicherweise sogar Macht kultivieren.

These 18: Christus war ein sehr weiser, mutiger und pazifistischer Widerstandskämpfer. In ihm manifestierte sich spirituelle
„Christussubstanz“ - wie Joseph Beuys es nannte. Diese „Christussubstanz“ ist in jedem Menschen angelegt und kann als
Quelle aufgeklärten Christentums verstanden werden. Deshalb sollte sich modernes christliches Denken und Handeln nicht
gesellschaftlichen Gepflogenheiten unterwerfen.

HS: Ich habe mit der „Umgestaltung in Christus“ große Sympathie, sie ist ja ein Gedanke bereits der ersten Christen. Liebe und Widerstandskraft hängen eng zusammen. Wie würden Sie, so frage ich gleichwohl, weil Sie ja auf eine einzelne Religionen übergreifende Religiosität zielen, die „Christussubstanz“ in anderen Religionswelten und ihrer Integrationskraft verankert sehen – oder ist Christliches hier eo ipso unviersal? Ein letztlich abstraktes „Weltethos“, das die zweite Tafel des Dekalogs überall auffinden will, wie bei Hans Küng, finde ich unzureichend. Sie vermutlich auch.

JW: Jede Religion konkretisiert das Religiöse auf je eigene Weise und bringt ihre je eigenen Aspekte in die Gesamtweisheit der Menschheit ein. Keine sollte den Anspruch erheben, besser als die andere zu sein. Sie alle sollten dazu beitragen, dass sich Menschen aller Kulturen/Religionen angesichts des Katastrophenpotential der Moderne sowie der Globalisierung wachen Geistes verhalten und sich ihrer Verantwortung für das Leben als Ganzes auf diesem Planeten bewusst werden. Das impliziert auch, sich gesellschaftlichen Gepflogenheiten ggf. nicht zu unterwerfen, ja Widerstand zu leisten. Jesus war darin ein Meister! Christussubstanz? In der Kurzfassung: Liebe, Intelligenz und Widerstand!

These 19: Neu und aufgeklärt gilt es auch das Religiöse überhaupt zu denken:  Als inneren - auf Gesamtzusammenhang gerichteten -
Orientierungssinn, der im Menschen das Sehnen nach dem Ganzen und dem Ganzheitlich-Gebunden-Sein der Teile (und somit menschlichen
Lebens selbst!) bewahrt.

HS: Gut, ich widersetze mich diesem Gedanken gar nicht, und habe ihm im Lauf unseres Briefwechsels sogar immer mehr abgewinnen können. Ich meine aber, dass „das Religiöse“ nicht ein abstraktes Esperanto sein darf, sondern aus der Pluralität der Sprachen der verschiedenen Religionen kommt. Das habe ich auch in meinem jüngsten Buch ‚Weltphilosophie‘ (2016) skizziert.

JW: Es geht bei diesem Gedanken nicht um ein „ein abstraktes Esperanto“, sondern um den allgemeinen Wesenskern des Menschen, der sich auf sehr unterschiedliche Weise konkretisieren kann. Würde das Religiöse als allgemeiner Wesenskern des Menschen erkannt, würde es sich neu, frei und modern konkretisieren/artikulieren können. Die Pluralität der Sprachen und der religiösen Traditionen halte ich dabei tatsächlich für wichtig, wenn sie denn als gegenseitige Ergänzung und entideologisiert begriffen werden, anstatt in Ideologien und Machtansprüchen zu verhärten.

HS: Ja, die Ränder müssen sich öffnen, die Überschneidungen und Überlappungen, die Ähnlichkeiten und Differenzen ins Gespräch finden. „Seit ein Gespräch wir sind…einst aber sind Gesang wir“ sagt Hölderlin wunderbar tief und konkret.

JW: Ja, Gesang / Musik / Schwingung – die universellste der Sprachen – kann den inneren auf Gesamtzusammenhang gerichteten Orientierungssinn, kann das Sehnen nach dem Ganzen vielleicht am unmittelbarsten in sich vollziehen und mit Intelligenz-Energien versorgen, allerdings auch das Gehirn mit Klischees und Gewohnheiten verballhornen.

HS: Nun in concreto: Was sind für Sie die "universelleren Aspekte und Metaphoriken", der bleibende Mehrwert der Religionen, in Ihrem Plural. Wir werden dies nicht erschöpfen können, wohl aber sollten wir auch hier einen kleinen Leitfaden und Kanon skizzieren.

JW: Ohne das Religiöse (wie es aufgeklärt verstanden werden kann) hätte der Mensch seine bisherige Evolution wahrscheinlich kaum bestehen können. In diesem Orientierungssinn und dem „Sehnen nach dem Ganzen“ sehe ich daher das, was Habermas den „Glutkern der Religion“ nennt. Aber ich halte es eben für unabdingbar, zwischen dem allgemein Religiösem und den konkreten Religionen zu unterscheiden. Denn Religionen (staatspolitisch intendiert) waren vor allem Domestizierungsinstrumente … Vor Intelligenz und Widerstand kann Liebe ("Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst" - wobei die zweite Hälfte leider allzuoft vergessen wurde und doch sehr wichtig ist) als ein universeller Faktor christlichen Glaubens gelten. Es ist sicherlich die liebevollste Fassung der Goldenen Regel: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“ Was Metaphoriken angeht, so kann das Nachdenken über den Tod – im Sinne von Lessings Ringparabel dreisprachig in mein Glocken-Requiem XXI eingearbeitet – vielleicht als ein Beispiel gelten:

. Aus dem jüdischen 18-Bitten-Gebet: »Du, Gott, hast Macht über Tod und Leben, und Du lässt Hilfe sprossen. Du bist treu, Leben angesichts des Todes zu schaffen. Gepriesen seist Du, Ewiger. Du schenkst Leben angesichts des Todes.« 

. Aus dem Koran (6.Sure 95/97): »Siehe, Allah lässt keimen das Korn und den Dattelkern, hervor bringt er das Lebendige aus dem Toten und das Tote aus dem Lebendigen. [...] »

. Aus der Bibel (Mose 30,19): »Leben und Tod, Segen und Fluch sind dir vorgelegt, damit du das Leben erwählst für dich und deine Nachkommen [...].«

Solche Unterschiede auf ein Ganzes bezogen gestaltet – wäre darin Bonhoeffers „neue Sprache Gottes“ zu sehen?

HS: Mir gefällt Ihre Formulierung von den Unterschieden, "auf ein Ganzes bezogen gestaltet" - und ich finde auch die Zitation aus dem Glocken-Requiem überaus überzeugend. Metaphern tragen ja hinüber, sie ermöglichen im Sinn des Pfingstwunders Übersetzung und lassen uns damit auch über-setzen. Eben dies setzt voraus, dass die verschiedenen Sprachen in ihrer Konkretion bestehen bleiben. Diese neue Sprache: ich sagte ja schon in meinem ersten Brief, dass ich sie nicht utopisch sehe, sondern a-topisch, noch ohne Ort, vielleicht in gewissen Vorklängen, aber sich verdichtend und einmal einlösend. Dass es dabei im Sinn der 19. These um den Fluss des Lebens selbst geht, findet meine volle Zustimmung.

These 20: Das Religiöse und das Philosophische bedingen sich gegenseitig. Ohne das Philosophische – als Streben nach Freiheit und integraler
Erkenntnis - gerät das Religiöse in Gefahr, in ignoranter Ideologie, Machtpolitik  und gesellschaftlicher Reputation zu erstarren. Ohne das
aufgeklärt verstandene Religiöse gerät andererseits das Philosophische in Gefahr, sich in den Labyrinthen des Intellekts zu verlieren.

HS: Dieser Gefahr unterliegt eine Philosophie, die sich nach Weltbildern oder den Weltvorstellungen einzelner Ideologien und Wissenschaften richtet, in der Tat. Sie hört damit auf, fürchte ich, überhaupt Philosophie zu sein. Philosophie ist ja Abstraktionskritik, Verflüssigung, eigentliche Garantin der Aufklärung, die wir meinen (also auch minnen: also lieben!).

JW: Dass Philosophie als eigentliche Garantin der Aufklärung praktiziert werden sollte, ist ein sehr schöner Gedanke – gerade angesichts der gegenseitigen Bedingtheit von Religiösem und Philosophischem. Wie die konkreten Religionen vom allgemein Religiösen, so möchte ich auch die konkreten Philosophien vom allgemein Philosophischen unterschieden wissen. Denn dadurch ermöglicht sich Überblick und Unterscheidung. In INTEGRALE MODERNE habe ich es so formuliert: Während das Religiöse das unbewusste Sehnen nach dem Ganzen und nach dem ganzheitlich Gebundensein der Teile bewahrt, strebe das Philosophische bewusst nach Erkenntnis und Freiheit zur Erfüllung dieses Sehnens.

Das Religiöse bewahre im Menschen das Sehnen nach dem Ganzen und das ganzheitlich Gebundensein der Teile,
das Philosophische strebe nach Erkenntnis und Freiheit zur Erfüllung dieses Sehnens.

HS: Dazu passt, wenn auch negativ formuliert, Friedrich Schlegels Paradox: Es ist gleichermaßen schlecht, ein Philosophisches System zu haben wie keins zu haben. Das hört sich etwas hyperironisch an. Doch im Ernst, der Gedanke vom allgemein Philosophischen ist mir sehr sehr sympathisch. So hat das doch bei Platon angefangen, so verwahrt sich Philosophie selbst dagegen, Ideologie zu sein. Ich sehe es so (mein Buch „Was Philosophie ist und sein kann“ Basel 2015): Philosophie lebt zwischen Wissenschaft und Weisheit, sie ist mehr und weniger als beide! 

JW: Da Ihnen der Gedanke vom allgemein Philosophischen sympathisch ist – vielleicht können Sie sich mit dem Gedanken vom allgemein Religiösen doch noch umfassender anfreunden? In Ihrem Prolog zu „Zwischen Religion und Vernunft“ formulieren Sie treffend, „dass am Religionsphänomen sich klärt, was Philosophie sein kann und was nicht; und dies sowohl im Blick auf ihre Traditionen und den systematischen Zuschnitt einer Konzeption des Ganzen, der sich mit ihr verbindet, wie auch im Blick auf die Situation, die durch die Gegenwartsphilosophie vorgegeben ist.“ Das ist mir ebenso sympathisch, wie Ihre Erinnerung an Platon und Hegel, dass Philosophie „Gottesdienst“ sei („nicht aber im Sinne polytheistischer Gottesverehrung“).

HS: Ich freue mich über diese Resonanz. Ja, die Klärung ist in jedem Fall wechselseitig zwischen dem Philosophischen und dem Religiösen und gibt dann auch dem letzteren eine neue Mächtigkeit.

JW: Ich glaube nicht, dass das Religiöse mächtiger als das Philosophische sein darf. Im Gegenteil, es bedarf zwischen beiden einer wirklichen Balance und gegenseitigen Befruchtung. Andernfalls fallen wir wieder zurück in schon gehabte idoelogische Verhältnisse, deren Folgen von der Inquisition bis Auschwitz und GULAG reichten.

These 21: Mittels einer Kultur, die als Werte- und Intelligenzübertragungssystem funktioniert, sowie mittels moderner
theologisch-philosophischer Orientierungen würde es möglich, ein lebendiges modernes religiöses Leben und Wertesystem zu entfalten,
in das alte religiöse und philosophische Weisheiten (z.B. die Goldene Regel) ebenso einbezogen werden können wie die modernen
Künste, Wissenschaften und ethisch zukunftstragfähige Maßstäbe politischen und wirtschaftlichen Denkens und Gestaltens.

HS: Ja, genau: Wir haben ja, Deo volente, in Denken und Kunst noch ein paar Jahre, und können in Freiheit einige junge Leute noch an der Hand nehmen. Das ist die große Aufgabe der Zukunft, nur synästhetisch mit Philosophie, Religion, Kunst, Wissenschaft zu leisten.   

JW:Wie viele Jahre wir angesichts der evolutiv neuen Situation noch haben, ist ungewiss; auf dieser Hoffnung würde ich mich daher nicht ausruhen. Aber gehen kann es tatsächlich nur synästhetisch sowie inter- und transdisziplinär. Ich setze trotz allem Hoffnung auf die Kraft eines lebendigen modernen religiösen Lebens sowie auf einen aufgeklärt-modernen Glauben als Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit. Denn die pazifistische Kraft des Religiösen ist vielleicht die stärkste Kraft, um neuen Totalitarismen wirksam zu begegnen und moderne Technologien sowie alle Formen der Machtausübung „einhegen“ zu können. Doch darf man sich gerade angesichts einer solchen Hoffnung keinen Illusionen hingeben. Eine wirkliche Umorientierung ist ohne die Schaffung entsprechender kultur-struktureller Grundlagen kaum zu bewerkstelligen. Das betrifft nicht zuletzt das, was und wie die Medien kommunizieren.

HS: Ja: völlig richtig. Nicht mit Lenin, aber eben doch: Was tun? Ich habe oben von den kleinen Keimzellen und ihrer Vernetzung etwas angedeutet. Das ist noch viel zu marginal, ich sehe aber, dass es angesichts des weitgehenden Desasters öffentlicher Institutionen stärker greift. Man könnte von einer „Graswurzelbewegung“ sprechen, einem Rhizom, einem Netz, das sich immer stärker ausweitet. Ich will hier nicht beim Optativ stehen bleiben, sondern im Rahmen dessen, was möglich ist, mitwirken.

JW: In diesem Zusammenhang noch ein Gedanke. Wenn menschliche Intelligenz bedeutet, sowohl als Individuum als auch als Menschheit nicht zu dumm zum Überleben zu sein, dann bedarf es dafür der Teilhabe an universeller Intelligenz. Intelligenz ist – wie bereits gesagt - jedoch keineswegs lediglich universell oder Intellekt oder Rationalität; sie resultiert u.a. aus der gegenseitigen Potenzierung von Individuellem-Soziellem-Universellem. Um Intelligenz entwickeln zu können und fruchtbar werden zu lassen, bedarf es nicht nur des „um die Weltecken“ sehenden geistig-kulturellen Austauschs, sondern entsprechender kultur-struktureller Voraussetzungen. Denn die Macht von Strukturen ist sehr groß. Daher bin ich skeptisch, dass eine „Graswurzelbewegung“ dies allein aus sich heraus stemmen könnte, zumal ihre Mitglieder i.d.R. den Anforderungen des Geldverdienstes, der Institutionen bzw. der Sozialsysteme unterworfen sind. Ohne eine europäische Kultur-Reformation, mit der Kultur neu als Werte- und Intelligenzübertragungssystem konfiguriert und praktiziert wird, werden kaum zukunftstragfähige geistig-kulturelle Grundlagen zur Bewältigung des Katastrophenpotentials der Moderne geschaffen werden können.

These 22: Sowohl avancierte Wissenschaften und Künste, Philosophien und Theologien, als auch Demokratie, Politik, Wirtschaft und Technologie
können nur in dem Maße als zukunftstragfähig sowie als Energien und Manifestationen universeller Intelligenz gelten, wie sie dieser
aufgeklärt-modern entsprechen und dabei aller Fachidiotie abschwören. Dadurch werden sie zu Elexieren der Sicherung der
Lebensgrundlagen sowie der Kultur eines neuen und aufgeklärten religiösen Bewusstseins.

HS: Uneingeschränkt Ja!: Doch dazu brauchen wir neue Eliten, auch ein neues Bewusstsein, und Stätten der Synousia, aus denen eine wirkliche Bürgerbewegung hervorgeht. Das Posse, das Können!, ist der große Begriff des Cusanus für die Realisierung des nur Möglichen. „Mugget!“ sagt Luther. Möge unser Dialog hier auch in der Praxis weiterführen zu wirklicher Gründung und Umorientierung!*

JW: Die sinnlosen Ich-Bezogenheiten des gegenwärtigen Ausverkaufs der Lebensgrundlagen sind offensichtlich, „Stätten der Synousia“ daher unverzichtbar. Ich habe mit meinen größeren Projekten (bis hin zum Forschungskonzept von World- und Integral-Games) gezeigt, dass solche „Stätten der Synousia“ neu geschaffen werden können, ohne damit die Fußball- oder Unterhaltungsindustrie zu meinen. Und vielleicht können – so sie sich einer modernen Wechselbeziehung von Religiösem und Philosophischem nicht weiterhin verschließen – auch traditionelle Religionsstätten dafür genutzt werden. Die Künste bieten dafür reichhaltige und behutsame Möglichkeiten.

HS: Ganz sicher. In diesen Strom müssen wir springen.

JW: Diesen Strom müssen wir zum Fließen bringen. Vielleicht ließ sich dann tatsächlich die allseits verbreitete Fachidiotie überwinden.

HS: Das ist eine richtiggehende Geisel unserer Zeit. Sie wird universitär und in den Schulen noch immer gezüchtet. Diese Bastionen gilt es aufzubrechen.

JW: In meinen Jürgen-Fuchs-Zyklus habe ich deshalb folgende Zitate aufgenommen: Buckminster Fuller: Spezialistentum ist in Wirklichkeit nur eine verkappte Form der Sklaverei, wobei der „Experte“ dazu verleitet wird, seine Versklavung hinzunehmen.“ Bei Andrej Sacharow / Anton Tschechow heißt es: wir pressen tropfenweise den Sklaven aus uns heraus'“.

HS: Ja, wie treffend das ist, zeigt ein Blick in die heutige Bologna-Universität, die droht von einem Ort weiter und freier Bildung zu einer Stätte bloßer Ausbildung zu verkommen.

These 23: Mittels kritisch-historischer Theologie sowie entsprechend neuen theologischen Deutungsperspektiven können alte „Große
Erzählungen“ metaphorisch neu und aufgeklärt-modern verstanden werden.

HS: Oder rational metonymisch: Genau, am Umgang mit den Heiligen Schriften liegt viel. Eine einfallslose historische Kritik bringt den Geist zum Töten. Ein abstrakter Biblizismus ist oft aus demselben Guss. Ich bin sehr bei Ihnen, die Großen Erzählungen (siehe Lyotard) nicht aufzugeben, sondern zu verwandeln. Thats it: Die Juden mit ihrer unendlichen rabbinischen Auslegungstradition können hier Vorbildcharakter haben.

JW: Metaphorisch verstehen oder metonymisch verstehen oder oder oder verstehen, um damit geistige Substanz zu retten und neu zu erschließen. Ja, ich glaube auch, dass es große Traditionen gibt, die dafür als Vorbild gelten können.

HS: Merci. Dieser Satz ist mir sehr wichtig!

JW: Auf der Basis ließe sich der Geist alter „Großer Erzählungen“ neu erschließen und eine neue „Großen Erzählung“ (etwa die einer Integralen Moderne?) genauer ausbuchstabieren.

These 24: Während es sich für die Entwicklung einer modernen Religiosität von zukunftsdestruktiven Traditionen und Gewohnheiten zu trennen
gilt, heißt es sich bewusst zu bleiben, dass Spiritualität und religiöse Kulturtechniken – wie Gebet und Meditation – nicht aufgegeben
werden dürfen, denn sie sind Lebenselexiere und haben sich seit Jahrtausenden bewährt. Es gilt - auch um der Zukunft willen - 
sie nicht länger religiös-konservativen Vereinnahmungen zu überlassen.

HS: Gewiss, und sie sind auch gewiss menschheitlich. Doch sie kommen aus verschiedenen Sprachen und Integrationswelten. Die Wahrheit ist eben symphonisch.

JW: Es geht mit These 24 nicht zuletzt um die historischen Entstehungsgeschichten der Kulturen/Religionen und damit einerseits um die Trennung von zukunftsdestruktiven Traditionen und Gewohnheiten, andererseits um die Erhaltung der zukunftstragfähigen Weisheiten, die von den unterschiedlichen Kulturen/Religionen als Teile in die Gesamtweisheit der Menschheit einzubringen sind, um gegenüber der evolutiv neuen Situation bestehen zu können. Z.B. Gebet und Meditation – aber auch andere Riten - können aufgeklärt-modern verstanden und neu praktiziert werden, anstatt lediglich religiös-konservativ festgenagelt oder modernistisch aufgepeppt zu sein. Was die Frage der Mystik angeht, so sollte darüber neu nachgedacht werden, denn sie muss ihr Faszinosum keineswegs verlieren, wenn sie ebenfalls aufgeklärt-modern verstanden und neu praktiziert wird. Alle Kulturen/Religionen können mit der Komplexität ihrer Symbolsysteme dazu beisteuern, ohne damit in alte Gläubigkeiten zurückzufallen.

HS: Ja. Diese Komplexität und dieser Reichtum, diese Nuanciertheit ist wundervoll.

JW: Danke, dass Sie das sagen.

These 25: Wenn das Leben auf diesem Planeten dauerhaft gewährleistet werden soll, befinden sich die Weltreligionen gegenüber der
gesamten Menschheit in einer umfassenden Verantwortung, das Schisma zwischen Religiosität, Aufklärung und Moderne zu überwinden, sich
im Wettbewerb um die besten Beiträge für eine zukunftstragfähige Gestaltung der Welt als Geschwister zu verstehen und
unmissverständliche Schritte in Richtung einer umfassenden Entideologiserung religiöser und kultureller Traditionen zu
unternehmen. Zumal Aufklärung und Moderne (sowie deren große Katastrophen) aus ihr hervorgingen, kommt dafür der christlichen
Kultur – und auch den aus ihr hervorgegangenen säkularen Kulturstrukturen – eine ganz besondere Verantwortung zu.  

HS: Dem habe ich nichts hinzuzufügen, außer dass Verantwortung von Antwort kommt, auf eine Anrede, die je schon an uns ergangen ist. Mitspieler sind wir, wie Rilke irgendwann einmal sagt. Das ist heute eine sehr ernste und zugleich befreiende Sache.

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* Ergänzung 2023: Jenseits aller intellektuellen/philosophischen Diskussionen ergreifen gegenwärtig viele junge Menschen mit konkreten Aktionen die Initiative; sei es "fridays für future" oder "die letzte Generation". Sie haben meine unbedingte Solidarität! Denn sie folgen ihrem inneren auf´s Ganze gerichteten Orientierungssinn und setzen alles ein, damit das Leben auf diesem Planeten weiterhin gewährleistet wird. Die gesamte Gesellschaft sollte sie akzeptieren, unterstützen, bewundern und ihnen dankbar sein, anstatt sie um kleinlicher Interessenlagen willen zu diffamieren, zu kriminalisieren und zu verfolgen. Denn sie sind sehr mutig, setzen ihre Lebenszeit und sogar ihre eigenen Körper ein. Sie thematisieren so mit Vehemenz die Frage des Überlebens auf diesem Planeten, die leider von der Masse der Menschen um System-Anpassung und alter Gewohnheiten willen verdrängt wird.

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Den 25 Thesen voran ging 2007 der Text "Das Religiöse und die Moderne" (bitte hier anklicken)

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s.a. H. Johannes Wallmann: NEUE FAUSTUS-MEPHISTO-DISPUTE (Produktion NDR-Kultur 2007)

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s.a. H.Johannes Wallmann: GLOCKEN REQUIEM DRESDEN

 

 

 

 

 

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