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Platons Höhlengleichnis (2)

„Ein Herz kerbe ich in unseren Stamm.“ (Lutz Rathenow)1

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H.Johannes Wallmann:

PLATONS HÖHLENGLEICHNIS

eine Reflexion über den Zusammenhang von Intelligenz und Freiheit, die Moderne und Musik (2)

In Platons Höhlengleichnis sind die Gefangenen in der Höhle bis zur Unbeweglichkeit gefesselt und können nur in Richtung einer Wand schauen, auf der sich rudimentäre Schatten bewegen, die im Licht außerhalb der Höhle erzeugt werden. Diese Schatten an der Höhlenwand innen von den Realitäten außen stellen für die Höhlengefangenen die einzig reale Welt dar. Ihre daraus resultierende Höhlen-Ideologie bestimmt all ihr Denken und Verhalten. Daher gibt es für die Höhlengefangenen keinerlei wirklichen Zugang zu Erkenntnis und damit keinerlei wirkliche Möglichkeit, Intelligenz zu entwickeln. Es sei denn, sich von den Fesseln und der Höhlen-Ideologie zu befreien, der Höhle zu entfliehen und damit alle verbliebenen Höhlengefangenen gegen sich aufzubringen. Würde es einem der Gefangenen tatsächlich gelingen, die Freiheit zu erlangen, um die Realitäten 

im Licht außerhalb der Höhle

wahrzunehmen und den wahren äußeren Ursprung der Höhlenwand-Schatten zu erkennen, würde er bei seiner Rückkehr von den anderen Gefangenen für seinen Realitätsbericht für verrückt erklärt. Zumal die Gefangenen innerhalb der Höhle sich „Ehrenbezeugungen“ und Belohnungen allein für ihre höhlenideologischen Interpretationen zugestehen, würde jenem, der sich davon befreit hat, keiner folgen wollen. Weil sich alle der Höhlen-Ideologie unterworfen haben, reagieren sie auf ein grundlegendes Freiheitsverlangen sowie auf Unbekanntes nicht nur ängstlich, sondern sogar aggressiv. Nicht dumm sein, heißt ihnen lediglich, sich der Höhlen-Ideologie voll und ganz zu unterwerfen, um so ihren eigenen Lebensrest in der Höhle zu sichern.

Hannah Arendt 2 zeigte – wenn auch gegen viel Protest – anhand der nationalsozialistischen Ideologie sowie der Systematik des Holocaust´s (und der von den Nazis erzwungenen Mitwirkung der Juden an diesem) auf, dass solche und ähnliche der o.g. Gefangenen-Verhaltensweisen Voraussetzung totalitärer Machtausübung und ihrer Eliminierungsmaschinierien sind. Angesichts der gravierenden Probleme unserer heutigen Welt bedeutet dies auch für uns heute letztlich, 

dass auf eigenen Vorteil (notfalls sogar auf den eigenen Lebensrest) verzichtet werden muss,
um andere Menschen und ggf. die Menschheit als Ganzes nicht der Vernichtung preiszugeben. 
Darin liegt der Elementar-Konflikt zwischen Individuum und Menschheit.

Zugleich haben wir es bei diesem Elementar-Konflikt auch mit der o.g. Beziehung zwischen Intelligenz und Freiheit zu tun. Denn ohne Freiheit ist die Entwicklung von Intelligenz ebenso wenig möglich wie ohne Intelligenz die Aufrechterhaltung von Freiheit. Wobei

Intelligenz bedeutet, sowohl als Individuen als auch als Menschheit nicht zu dumm zum Überleben zu sein.
Intelligenz heißt darüber hinaus, das Licht der Erkenntnis und Wahrnehmung darauf auszurichten, Zusammenhänge zu erkennen und mitzugestalten sowie nachhaltige Synthesen zu entwickeln. 

Zur Frage, welche Rolle Ideologie im Hinblick auf Intelligenz und Freiheit spielt, sei auf den Unterschied von Ideologie und Ideen-Logik verwiesen. Dieser besteht darin, dass Ideologien den Anspruch erheben, geglaubt werden zu müssen, Ideen-Logiken dagegen hinterfragt und argumentiert sein wollen. Genau darin liegt die Chance von Demokratie. Denn Demokratie ist auf Kompetenz- und Know-how-Akquise5a ebenso wie auf interdisziplinären Austausch angewiesen, will sie sich nicht als untauglich herausstellen. Hätte Demokratie in den vergangenen Jahrzehnten in diesem Sinne funktioniert, wären z.B. die von Fachleuten erhobenen Warnungen vor der Klima- und Umweltkatastrophe beherzigt worden. Dann hätten die Politiker der Demokratien, anstatt sich z.B. hinter der Höhlen-Ideologie wirtschaftlichen Wachstums (oder anderer „Evangelikalismen“) zu verschanzen, rechtzeitig auf die langfristig vorausgesehenen ökologischen Problematiken reagiert. Solange aber ihr „Wahlvolk“ gegenüber den Problematiken nicht aufgeschlossen ist, werden es auch die von ihnen gewählten Politiker nicht sein wollen. Dies wiederum wirft grundsätzliche Fragen hinsichtlich der gegenwärtigen „Mediendemokratie“ und unserer Kultur auf. Denn vorausschauendes politisches Handeln (und ggf. auch der Verzicht auf eigenen Vorteil) wird im Hinblick auf die großen Menschheitsprobleme und das Leben als Ganzes zukünftig immer unverzichtbarer. Darin eingeübt haben wir uns – samt der demokratisch gewählten Politiker - bisher viel zu wenig.

Wie allein an diesem Beispiel zu sehen, entfalten Höhlen-Ideologien auch in Demokratien weitaus mächtigere Wirkungen als Ideen-Logiken. Ideologien gibt es in unterschiedlichsten Schattierungen sowie Klein- und Großformen – ob als kulturelle, religiöse, rechte, linke, (national)sozialistische oder kapitalistische. Und leider: „Ideologie und traditionelles Denken gehen Hand in Hand mit der praktischen modernen Politik“ - so formuliert es im Film „Holocaust“3 Heydrichs Berater bzgl. der Planung des großen Menschheitsverbrechens.

Mit der Befreiung von Ideologien geht es gleichermaßen darum, 
sich ihren Unterwerfungs- und Versklavungsansprüchen zu entziehen 

wie Lösungsansätze für den o.g. Elementar-Konflikt (zwischen Individuum und Menschheit) zu entwickeln. Vor allem angesichts des weitverbreiteten Spezialistentums, mit dem Spezialisten für Einzelaufträge von Machthabern (den „alten Piraten“ wie R.Buckminster Fuller sie nennt) mitunter hochbezahlt werden, ist das allerdings leichter gesagt als getan. Fuller: „Spezialistentum ist in Wirklichkeit nur eine verkappte Form der Sklaverei, wobei der ›Experte‹ dazu verleitet wird, seine Versklavung hinzunehmen“ 4. Als ein Schlüssel für die Entwicklung von Intelligenz muss das Streben nach Freiheit daher immer auch ein Streben nach dem Ende von Spezialisten-Versklavungen sein. Erst recht angesichts der evolutiv neuen Situation15, in die die Menschheit mit der Moderne geriet.

Die grundlegend neue Herausforderung der evolutiv neuen Situation besteht darin, dass die Menschheit noch nie in den Jahrmillionen ihrer Evolution* technologisch so tief in kleinste Teilchen (z.B. Atome, Gene, Ozon oder in individuelle digitale Daten) und somit in das Selbstorganisationssystem des Lebens eingreifen konnte, wie das nun durch die modernen Technologien möglich geworden ist. Noch nie hatten wir Menschen daher eine so umfassende Verantwortung für das Leben hier auf der Erde zu übernehmen, wie es die evolutiv neue Situation nun notwendig macht. Gelingt es uns nicht, zu Strukturen und Methoden zu finden, dieser großen Verantwortung zu entsprechen, werden neue ungeheuerliche Katastrophen kaum noch zu umgehen sein.

Angesichts der evolutiv neuen Situation darf Freiheit nicht höhlenideologisch mißverstanden werden: Weder nur individuell (etwa egoistisch unter Inkaufnahme der Spezialisten-Versklavung), noch nur soziell (etwa unter Inkaufnahme der Vernichtung anderer Kulturen und Nationen bzw. ihrer Umwelt). Freiheit impliziert Verantwortung – und zwar sowohl im Hinblick auf jeden einzelnen Menschen wie auch im Hinblick auf die Menschheit und das Leben als Ganzes.

Angesichts des Katastrophenpotentials der Moderne werden zukunftstragfähige Lösungen nur dann erreicht werden können, wenn alle von Menschen geschaffenen Funktionen, Formen und Strukturen (ob politische Systeme, Kulturen, Religionen, Philosophien, Wissenschaften, Künste, Ökonomien, Technologien usw.) auf den Prüfstand gestellt und darauf befragt werden, inwiefern sie langfristig zum Erfolg oder Misserfolg des Projektes „Mensch“ beitragen. Das wiederum stellt uns vor die Frage, worin das „Projekt Mensch“ überhaupt besteht. Ich schlage vor, es vor allem darin zu sehen, dass 

jeder Mensch ein potentieller Teilhaber 
an höchster universeller Intelligenz 

ist. In dieser Teilhabe-Potentialität liegt nicht nur der Schlüssel zu Freiheit und Intelligenz, sondern auch die Notwendigkeit der Solidarität zwischen allen Menschen.

Höhlen-Ideologien zu entkommen, ist eine Frage der konkreten geistigen und seelischen Praxis, die sich wesentlich an der Kulturfrage entscheidet. Denn Kultur konfiguriert die Gemüter und ist eine der mächtigsten Einflusssphären, die der Menschheit zur Verfügung stehen. Doch war Kultur immer auch – zumindest in Anteilen - Höhlen-Ideologie. 

Daher steht die Menschheit heute vor der Aufgabe, Kultur zu einem modernen 
ideen-logischen Werte- und Intelligenzübertragungssystem umzugestalten.

 Die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften und Künste, aber auch die entideologisierten Weisheiten traditioneller Kulturen und Religionen bieten dafür profunde Anhaltspunkte. Ebenso bedarf es einer tiefgehenden kulturellen Aufarbeitung moderner Totalitarismen - Kolonialismus, Nationalsozialismus, Realsozialismus. So votiere ich (auch im Hinblick auf das Bestehen Europas) für eine entsprechende Kultur-Reformation - anti-totalitär & integral-modern.

Was hinsichtlich einer solchen Kultur-Reformation staatlich finanzierte kulturelle Strukturen und Methoden betrifft, so wäre es Ressourcenverschleiss, diese weiterhin zur Aufrechterhaltung von Höhlen-Ideologien sowie individueller Vorteile missbrauchen zu lassen. So wäre z.B. den öffentlich-rechtlichen Medien - anstatt weiterhin das von ihnen verbreitete (Milliarden verschlingende) Übermaß an Ablenkung, Unterhaltung, Sport zu tolerieren - eine entsprechend neue geistig-kulturelle Ausrichtung abzuverlangen. Denn eine moderne Demokratie muss um ihrer eigenen Zukunft willen (anstatt dem Mainstream und den Einschaltquoten zu folgen) das Allgemeininteresse daran erkennen und durchsetzen, dass die von ihr finanzierten Medien tatsächlich als Werte- und Intelligenz-Übertragungssystem funktionieren, paritätisch Zugänge zu unterschiedlichsten Bereichen des Denkens, Fühlens, Glaubens, Wissens, Gestaltens, Könnens und Hinterfragens bereitstellen und sich dabei als sachkundige ideen-logische Führer durch den Informationsdschungel erweisen.

Weil Platon im Höhlengleichnis an die seelischen Aspekte erinnert, die mit dem Streben nach Freiheit und Intelligenz verbunden sind, sei die Kulturfrage auch unter diesem Aspekt betrachtet. Denn Seele ist kein Begriff von vorgestern, sondern lässt sich aufgeklärt-modern als ein (multifaktorielles) psychisch-physisches Schwingungsfeld verstehen. In diesem treten 

unterschiedlichste Kraftfelder von Individuellem-Soziellem-Universellem 

miteinander in Schwingung. Platons schönster Gedanke hierzu ist, dass der Seele im Grunde alle Erkenntnis (Intelligenz) innewohnt und es nur entsprechender Gewöhnung und Übung bedürfe, bis die Seele „das Anschauen des Seienden und des glänzendsten unter dem Seienden aushalten lernt. Dieses aber, sagten wir, sei das Gute; nicht wahr?“ … 

„Aufschwung der Seele in die Region der Erkenntnis“.6

Angesichts dieses Gedankens kann - obwohl Platon den Begriff Intelligenz nicht kennt (Vernunft steht bei ihm wohl an deren Stelle) – Seele als der fruchtbare Boden betrachtet werden, von dem sich Intelligenz aufzuschwingen vermag. Einer der Irrtümer der bisherigen Moderne besteht jedoch darin, Seele weitgehend aus ihrem Vokabular gestrichen und Intelligenz mit Intellekt und Rationalität verwechselt zu haben. Diese Verwechslung ist insofern folgenschwer, wie die seelisch-emotionalen Gehirnaktivitäten des Menschen für die Entwicklung seiner Intelligenz von mindestens ebenso großer Bedeutung sind wie die rationalen. In der integralen – gleichermaßen emotional wie rational ausgewogenen – Entwicklung der menschlichen Intelligenz liegt daher die große Aufgabenstellung dessen, was modern und zukunftstragfähig unter Kultur verstanden werden kann.

In einer solchen Kultur werden die Künste (aber auch „Ästh-Ethik7) eine herausragende Rolle spielen, denn die Künste sind seelische Schwingungsfelder. Je nach ihrer Qualität haben sie daher großen emotionalen Einfluss auf die seelischen Schwingungsfelder einer Gesellschaft und ihrer Individuen. Und somit auch auf die Entwicklung des gesellschaftlichen Intelligenz-Niveaus. James Joyce spricht von „Laut und Form und Farbe“ 8 als den Gefängnistoren der Seele. Die Frage dabei ist – rein oder raus aus dem Gefängnis. Hier: rein oder raus aus der Höhlenideologie.

Da gerade auch Musik während Kolonialismus, Nationalsozialismus, Realsozialismus bis hin in unsere Zeit immer wieder als irreführende „Seelenmassage“ und hochwirksames Mittel zur Ablenkung, Unterhaltung sowie zur kulturellen Bemäntelung totalitärer Verbrechen missbraucht wurde und wird, stellt sich mit ihr auf besondere Weise die Frage nach Seele, Geist, Intelligenz und Freiheit. Deshalb zieht der während der Totalitarismen mittels Musik begangene Geistes- und Human-Verrat enorme Konsequenzen nach sich. Denn durch ihn wird die geistig-seelische Kompetenz von Musik in Abrede gestellt, bzw. auf Unterhaltung, Genuss, Ausdruckslärm, Ideologie und entsprechendes Handwerk verkürzt. Im Bereich der sogenannten Ernsten Musik trat an die Stelle aktuellen kompositorischen Ringens um geistig-seelische Kompetenz die Musik vergangener Zeiten sowie das Handwerk des „Interpreten- und Virtuosenhimmels“.

Arnold Schönberg formulierte, „daß Kunst und Handwerk 
miteinander soviel zu tun haben, wie Wein mit Wasser. 
Im Wein ist wohl Wasser drin, aber wer vom Wasser ausgeht, ist ein Pantscher.“9 

Was Unterhaltungsmusik angeht, so muss man nicht gegen sie sein, doch gegen ihr Übermaß, mit dem auch ein Übermaß an Kitsch, Klischees und Gewohnheiten verbreitet wird. So verführerisch es sein mag, dieses Übermaß verdrängt das Licht von Geist und Intelligenz und verdunkelt somit die Seele einer Gesellschaft. Der während der Totalitarismen im Bereich der sog. Ernsten Musik begangene Geistes- und Human-Verrat lässt es jedoch letztlich nicht zu, der Ernsten Musik höhere geistige Kompetenz als der Unterhaltungsmusik zuzusprechen, solange dieser Verrat und die Totalitarismusverstrickung des Musikbereiches nicht umfassend aufgearbeitet ist. Ein schweres Dilemma, das sich nicht zuletzt in der mangelhaften gesellschaftlichen Akzeptanz der sog. Ernsten Musik widerspiegelt. Auch weil die aktuellen staatlich geförderten Festivals Neuer Musik noch weit davon entfernt sind, die links-ideologische bzw. Realsozialismus-Verstrickung Neuer Musik aufzuarbeiten, betrifft dieses Dilemma zutiefst auch das aktuelle kompositorische Ringen um geistig-seelische Kompetenz. Ist es angesichts dessen – auch im Hinblick auf die Musik vergangener Zeiten - zuviel verlangt, dass sich der Musikbereich seinen Totalitarismusverstrickungen und Höhlen-Ideologien umfassend stellt? 16

Die Frage ist natürlich, welche Art von Kunst der Entwicklung von
Freiheit und Intelligenz förderlich ist. 

Zur Beantwortung dieser Frage bildet die im Grundgesetz verankerte Freiheit der Kunst eine entscheidende Grundlage (die angesichts der Macht der Veranstalter allerdings davor geschützt werden muss, zur Farce zu verkommen). D.h., jede(r) KünstlerIn soll mit seinem/ihrem Leben und Schaffen die Frage selbst beantworten können, was Kunst zur Überwindung von Höhlen-Ideologien sowie für das „Seelenheil“ einer Gesellschaft leisten kann. Ich habe dazu eine ganze Reihe von künstlerischen Projekten und Kompositionen in die Waagschale geworfen (s.a. integral-art.de). In der Vergangenheit war Joseph Beuys´ Gedanke von „Kunst als Gegenraum zur Verlebendigung des Menschen“ 10 dafür ebenso eines von vielen Beispielen wie „das Geistige in der Kunst“ 11 von Wassily Kandinsky oder der o.g. Gedanke Arnold Schönbergs.

Mit dem Streben nach Freiheit und 

Intelligenz - Erleuchtung wird sie in alten Kulturen genannt - 

sind wir beim Licht, von dem Platon im Höhlengleichnis spricht. Da Freiheit, Verlebendigung, Intelligenz, Geist, Licht und Erleuchtung (sowie Schwingungen der Seele) ohne Energie nicht zu haben sind, schlage ich vor, 

Kunst als Freiheits- und Intelligenz-Energie 

moderner demokratischer Gesellschaft zu betrachten. Was Energie angeht, so bestehen zwischen ihr und Information zahlreiche Gemeinsamkeiten. Man denke nur an die Umwandlung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Energie(gewinnung) oder daran, dass allein schon eine gute Nachricht für einen Menschen einen regelrechten Energieschub auslösen kann. Energie und Information sind jedoch nicht gleichzusetzen. So sind alle Relationen von Formen, Farben, Klängen – auch (ggf. religiös konnotierte) Schatten an der Wand – zwar immer energetischen Charakters, ihr qualitativer Informationsgehalt ist jedoch sehr unterschiedlich. Z.B. lässt die Energie von Popkonzerten u.U. viele Menschen begeistert schreien und springen, aber die damit einhergehenden ästhetischen Informationen sind allzu oft nur Varianten von bekannten Gewohnheiten, Klischees und Ritualen. Dass diese einen enormen Einfluss auf die „Seele“ einer Gesellschaft und besonders auf ihre Jugend ausüben (die berechtigterweise in musikalischen Rhythmen auch ihre Körper entdeckt) dürfte unbestritten sein. Welchen Einfluss solche Gewohnheiten, Klischees und die Rituale des Star-Kults indes auf die Gehirnaktivitäten und den Geist einer Gesellschaft insgesamt ausüben, ist weniger reflektiert. 

Zumal das Schwingungsfeld Musik nach Kierkegaard „eine geistigere Kunst ist“12 

wage ich die These, dass sich die Vereinseitigung auf musikalische Gewohnheiten und Klischees auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung von Geist und Intelligenz fatal auswirkt. Sind solche massenhaft verbreiteten Gewohnheiten und Klischees ein emotional wirkendes Opium und konstituierender Teil der gegenwärtigen kulturellen Höhlen-Ideologie der westlichen Welt? Darf eine demokratische Gesellschaft ihnen dann in ihren Medien so breiten Raum geben?

Da das musikalisch-kompositorische Ringen um Geist, Freiheit und Intelligenz letztlich ein Ringen um die Seele, um die Intelligenz und Freiheit der jeweils lebenden Gesellschaft ist, kann dies weder durch Musik vergangener Zeiten noch durch Ablenkung und Unterhaltung ersetzt werden. Auch kann dieses Ringen nur gelingen, wenn der im Musikbereich begangene Geistes- und Human-Verrat als solcher tatsächlich thematisiert und geächtet wird. Im Nachgang von Nationalsozialismus und Realsozialismus gelang es jedoch bestimmten Musik-Spezialisten, genau dies zu verhindern. Der daraus resultierende Schaden für die Musik selbst sowie für die geistig-kulturelle Entwicklung der Gesellschaft ist verhängnisvoll, ebenso verhängnisvoll ist der dabei entstehende Gewinn für Höhlen-Ideologen aller Art (die i.d.R. ohnehin mit viel Strukturmacht und Geld ausgestattet sind). Um der Zukunft willen darf dieser verhängnisvolle Schaden nicht stillschweigend hingenommen werden.

Um zu dessen Behebung einen Ansatzpunkt zu bilden, ging ich zurück in die „Höhle“ und führe seit ca. einem Jahrzehnt eine Auseinandersetzung um die bisher völlige unterlassene Aufarbeitung der Totalitarismusverstrickung des Musikbereiches. Ein hochinteressantes Dokumentenkonvolut hat sich daraus ergeben. In unserem Buch „KUNST – EINE TOCHTER DER FREIHEIT?“13 sind wir darauf näher eingegangen. Wahrscheinlich aber haben wir die verbliebenen Höhlengefangenen umso mehr gegen uns aufgebracht.

Was die künstlerische Seite angeht, so zeigen die Erfahrungen meiner künstlerischen Projekte, dass viele Menschen die Bereitschaft hätten, sich in Kunst als Freiheits- und Intelligenzenergie einzuüben. Ein gewisser geistig-seelischer Schutz vor Höhlen-Ideologien könnte so entstehen. Würden Intellektuelle und Künstler zudem Platons Forderung folgen, dass jene, die sich aus der Höhle befreien sowie Erkenntnis und Intelligenz erlangen konnten, in die Höhle zurückkehren, um auch die verbliebenen Höhlengefangenen zu befreien, dann könnte daraus u.U. eine große Menschheitsbewegung werden: Sich aller Höhlen-Ideologien zu entledigen, ohne dabei die Weisheiten der alten Kulturen und Religionen sowie die ethischen Wurzeln menschlichen Seins als überflüssig abzutun. Ob Intellektuelle und Künstler willens und in der Lage wären, dafür allem Geistes- und Human-Verrat abzuschwören und den, der in ihrer eigenen Branche geschah, konkret aufzuarbeiten? Oder bildet dagegen die Höhlen-Ideologie und der Aufstiegs-Egoismus eine unüberwindbare Barriere?

Wenn Platon hinsichtlich der Befreiung der verbliebenen Höhlengefangenen die Frage stellte, „wollen wir ihnen Unrecht zufügen und schuld daran sein, daß sie schlechter leben, obwohl sie es besser könnten?“, so geht es angesichts der evolutiv neuen Situation der Menschheit heute und künftig allerdings nicht mehr nur um schlechter oder besser leben, sondern um das Überleben auf diesem Planeten überhaupt. Sich auf diese große Aufgabe zu besinnen, bedeutet 

sich aufzuschwingen und den Höhlen-Ideologien die Basis zu entziehen. 

Das macht Menschsein und künstlerisches Gestalten m.E. letztlich aus ... und im Sinne der Zukunft liebenswert.

„den Wind anzünden, die Welt erleuchten“ 
(Lutz Rathenow)14

 

H. Johannes Wallmann, 12. Januar 2019 / durchgesehen: 5.11.2019

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 s.a. Kunst - eine Tochter der Freiheit? Im Vis à vis alter und neuer Totalitarismen -Jürgen Fuchs-Symposium, Böll-Stiftung Berlin 2015

 s.a. HÖHLENGLEICHNIS gesamtkunstwerk nach philosophischen gedanken von platon bis hannah arendt sowie texten von lutz rathenow und h.johannes wallmann

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Quellen:

1 Zitat aus dem „HÖHLENGLEICHNIS – Lutz-Rathenow-Zyklus“ von H.Johannes Wallmann; Musik im Raum für Alt, Tenor und Kammerensemble

2 Hanna Arendt: „Eichmann in Jerusalem“, Piper München 2011

3 „Holocaust“ (1978/79) von Marvin J. Chomsky

4 Richard Buckminster Fuller: „Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde“, Amsterdam / Dresden 1998, Hsg. Joachim Krausse, S. 29.

5 H. Johannes Wallmann: „INTEGRALE MODERNE – Vision und Philosophie der Zukunft“, Saarbrücken 2006, S. 98 ff.

    6 Platon: „Phaidon – Politea“ in „Sämtliche Werke 3“, Rowohlt Hamburg 1988, Hsg.Ernesto Grassi/Walter Hess (in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher), S.224 ff.

7 H. Johannes Wallmann: „INTEGRALE MODERNE - Vision und Philosophie der Zukunft“, a.a.O., S. 190.

8 James Joyce: „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“, Berlin 1979, S. 236.

9 Arnold Schönberg: „Harmonielehre“, Wien 1966, S. 490.

10 „Provokation – Lebenselement der Gesellschaft“. Diskussion vom 27.01.1970. Joseph Beuys Medien-Archiv https://www.youtube.com/watch?v=9DIxoM_5NyE

11 Wassily Kandinsky: „Über das Geistige in der Kunst“, Benteli-Verlag Bern 1952

12 Sören Kierkegaard: „Entweder – Oder“, Verlag von C. Ludwig Ungelenk Dresden 1909, Hsg. Viktor Eremita (in der Übersetzung aus dem Dänischen von O. Gleiß), S.75

13 Susanne & H.Johannes Wallmann (Hsg): „KUNST – EINE TOCHTER DER FREIHEIT?“, Kulturverlag Kadmos Berlin 2017

14 Zitat aus dem „HÖHLENGLEICHNIS – Lutz-Rathenow-Zyklus“ von H.Johannes Wallmann; Musik im Raum für Alt, Tenor und Kammerensemble

 

15 H. Johannes Wallmann: „INTEGRALE MODERNE – Vision und Philosophie der Zukunft“, Saarbrücken 2006, S. 7 ff.

 

16 ein Anfang wurde z.B. gemacht mit der Ausstellung im Bachhaus Eisenach „Luther, Bach – und die Juden“, 2016

    * man kann Evolution auch als einen modernen Begriff für „Schöpfung“ verstehen



weitere Information: integral-art.de

















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