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Sich von Komplizenschaft befreien! Zur nichterfolgten Aufarbeitung der SED-Diktatur im Bereich der Musik

ein Text von 2013 und eine INTEGRAL-ART-Kunstaktion 2021

 

Sich von Komplizenschaft befreien! - Zur nichterfolgten Aufarbeitung der SED-Diktatur im Bereich der Musik

 
Musik ist die universellste der Künste. Wie kaum eine andere vermag sie Grenzen von Sprach- und Kulturräumen unmittelbar zu überwinden. Gerade weil sie - wie die großen Komponisten es mit ihren Werken beweisen - sich dem Universellen in besonderem Maße zu nähern vermag, hat Musik auch eine ganz besondere Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit, die für die Zukunft von Musik – aber auch für die Zukunft von Kultur überhaupt - von entscheidender Bedeutung ist.
 

Komponisten, die das erkannt haben und es mit ihrem Beruf ernst meinen, muss es suis generis zuwider sein, mit ihrem Werk und ihrer Person einer Diktatur zu dienen, die - wie im National-sozialismus und im Realsozialismus - Musik zur kulturellen Bemäntelung ihres Herrschaftssystems und ihrer Verbrechen missbraucht. Das Ringen um Wahrhaftigkeit (das ohne hervorragendes kompositorisches Handwerk nicht gelingen kann, aber weit darüber hinausgeht) ist eine der Voraussetzungen dafür, dass sich Komponisten dem musikalisch Universellen überhaupt nähern können. Ohne solche Basis könnten Komponisten mit ihrem Werk kaum dazu beitragen, eine „ausführliche Geschichte der Zukunft“ (wie es Marshall McLuhan nennt) zu schreiben und eine moderne Synthese von Individuellem-Soziellem-Universellem (wie ich es in “INTEGRALE MODERNE – Vision und Philosophie der Zukunft” beschrieb) zu formen.

Diese Verantwortungsebene unterscheidet Komponisten grundlegend von jener der Interpreten. Denn während - in Anlehnung an Stéphane Mallarmé - Komponisten als Architekten musikalischer Intelligenzenergien sowie entsprechend geistig-musikalischer Substanz verstanden werden können, haben Interpreten quasi den Part der Bauausführung” inne, spielen die Musikveranstalter die Rolle der “Bauherren”, kommt den Musikwissenschaftlern die sorgfältige Reflektion von allem zu, was Musik ausmacht. Für die Entwicklung einer modernen Musikkultur gilt jedoch insgesamt, dass sich ihre Zukunft nur so gut gestalten lässt, wie sie ihre Vergangenheit aufgearbeitet hat. Und das betrifft Komponisten, Interpreten, Musikveranstalter, Musikwissenschaftler, Musikjournalisten gleichermaßen. Jene, die das vergessen oder vernebeln, verspielen nicht nur die Zukunft der Musik, sondern auch die ihrer eigenen Zunft. Denn es gibt neben der “Schuld der Worte” (so ein Buchtitel des Schriftstellers Gert Neumann) auch eine Schuld der Töne, der Klänge, der Musik. Sie besteht in der Bringeschuld von Wahrhaftigkeit, für die ein ernsthafter Komponist mit seinem Werk und seiner Person auch dann noch einzustehen hat, wenn ihm die Unterstützung der anderen Musikfachleute versagt bliebe. Denn es geht mit Wahrhaftigkeit gleichermaßen um Elementarfragen der Musik wie um jene der menschlichen Intelligenz sowie des Menschseins selbst. Ohne eine konzise Aufarbeitung der Vergangenheit lassen sich diese Elementarfragen nicht zukunftstragfähig beantworten, lässt sich die o.g. Bringeschuld nicht begleichen.

Ähnlich wie hinsichtlich des Nationalsozialismus blieb die Musikkultur des wiedervereinten Deutschlands diese Bringeschuld bzgl der Aufarbeitung von 40 (!) Jahren Realsozialismus bisher schuldig. Besonders im Bereich der Neuen Musik (und bis tief hinein in den Bereich der Musikwissenschaft) besetzten ehemalige DDR-Musikfunktionäre im wiedervereinten Deutschland viele wichtige Entscheiderpositionen. In ihren Einflusssphären schufen sie mit ihren Helfershelfern ein Netz fataler Abhängigkeiten und bremsten zugleich alles aus, was zu einer ernsthaften Aufarbeitung der ideologischen Instrumentalisierung von Musik und des realsozialistischen Unrechtssystems hätte führen können. Gut vernetzt – auch mit “Wessis” (die sie als ehemalige “DDR-Westreisekader” teils schon vor dem Mauerfall kennengelernt hatten und mit denen sie nach dem Mauerfall eilfertig “Geschäfte” machten) - wendeten sie zur Kaschierung ihrer realsozialistischen Verstricktheiten zahlreiche raffinierte Geschäfts-, Desinformations- und Deckungspraktiken an. Gelernt ist gelernt. Eine dieser – von Stasi-Zersetzungsmethoden geprägten - Praktiken besteht darin, Komponisten, die dem Realsozialismus ein entschiedenes Nein entgegengesetzt und die DDR verlassen hatten, zu diskreditieren, zu No-Names zu machen und möglichst aus den Zusammenhängen und dem Bewusstsein der Musikkultur zu eliminieren. Denn diese Komponisten könnten unbequeme Zeitzeugen sein. Erst recht wenn und weil sie etwas Wesentliches zur musikkulturellen Entwicklung beizutragen haben, ist solche Eliminierung geradezu ein Verbrechen an der Zukunft der Musikkultur und sollte eigentlich - zumal es das im nationalsozialistischen und im realsozialistischen Deutschland bereits genug gegeben hat – nicht tolerierbar sein. Es einfach stillschweigend hinzunehmen, bedeutet sich zum Komplizen dieses Verbrechens zu machen. Jedoch sind die o.g. Abhängigkeiten offenbar zu stark, als dass – von einigen wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen – die Musikkultur Deutschlands bisher die Kraft aufgebracht hätte, sich von dieser Komplizenschaft zu befreien. Ist es nicht im Sinne der Zukunft der Musik und unserer Kultur höchste Zeit, sich endlich auf Schillers Gedanken “Kunst ist eine Tochter der Freiheit” - und somit auf Art.5/Abs.3 des Grundgesetzes (“Kunst und Wissenschaft ... sind frei”) - zu besinnen, sowie auf jene Künstler, die auch unter totalitären Bedingungen den Mut aufbrachten, entsprechend zu handeln? Ist nicht deutlich genug, dass die Zukunft von Musik auf das Ineinandergreifen von Freiheit und Wahrhaftigkeit sowie auf die entsprechende geistig-musikalische Substanz angewiesen ist?

H.Johannes Wallmann, 21.9.2013

 

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