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Computermusik und "Glasperlenspiel" (1989)

"...Ruhe, Kraft und Würde ausstrahlend ... erschien er im Festsaal ... eröffnete Akt um Akt seines Spiels mit den rituellen Gebärden, schrieb zierlich mit leuchtendem Goldgriffel Zeichen um Zeichen auf die kleine Tafel, vor welcher er stand, und alsbald erschienen die selben Zeichen in der Spiel-Chiffrenschrift, hundertmal vergrössert, auf der Riesentafel der hinteren Saalwand, wurden von tausend flüsternden Stimmen nachbuchstabiert, von den Sprechern laut ausgerufen, von den Fernmeldern ins Land und in die Welt hinaus entsendet..."

Hermann Hesse, aus dessen "Glasperlenspiel" diese Sätze stammen, hat mit der Idee des Glasperlenspiels dem "Zwölftonspiel" und anderen Überlegungen des Komponisten Joseph Matthias Hauer ein DenkMal gesetzt, über das es sich nachzudenken lohnt. Die "Riesentafel", ein grosser Bildschirm  - heute bis hin zur Computergrafik oder Laserplastik weiterzudenken -  und die Medien als die heutigen "Fernmelder" würden zukünftig eine weltweite Teilnahme an einem etwaigen "Glasperlenspiel" gestatten. Seit Jahrzehnten beschäftigen sich Wissenschaftler mit Spieltheorien und befassen sich Künstler mit vergleichbaren Überlegungen. Es ist heute denkbar, akustische und optische Kosmen von Material und Regeln zu schaffen, deren unterschiedliche Teile die unterschiedlichsten Kombinationen eingehen können und - im Spiel von Material und Regel - selbsterneuernde Organismen  bilden.

"Das Glasperlenspiel ist ... ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur, es spielt mit ihnen, wie etwa in den Blütezeiten der Künste ein Maler mit den Farben seiner Palette gespielt haben mag. Was die Menschheit an Erkenntnissen, hohen Gedanken und Kunstwerken in ihren schîpferischen Zeitaltern hervorgebracht, was die nachfolgenden Perioden gelehrter Betrachtung auf Begriffe gebracht und zum intellektuellen Besitz gemacht haben, dieses ganze ungeheure Material von geistigen Werten wird vom Glasperlenspieler so gespielt wie eine Orgel vom Organisten, und diese Orgel ist von kaum auszudenkender Vollkommenheit, ihre Manuale und Pedale tasten den ganzen geistigen Kosmos ab, ihre Register sind beinahe unzählig, theoretisch lieûe mit diesem Instrument der ganze geistige Weltinhalt sich im Spiele reproduzieren."

Konkretisieren wir diese Idee für die Musik, so sind zwischen verschiedenen Spielern Spiele denkbar, die z.B. mit Computern Über elektroakustische Klangrealisationen ästhetisch wahrnehmbar werden könnten. Auf einer technisch neuen Ebene würde mit diesen Spielen an sehr alten Relationen aus  Vorzeiten der Musiknotation und der alten indischen oder der alten chinesischen Musik angeknüpft, ohne dass neuestes Denken der europäischen Musikentwicklung dabei negiert werden müßte.

Die Spiele könnten innerhalb eines Zimmers gespielt werden, könnten - über entsprechende Kommunikationssysteme - aber auch Spieler verschiedener Orten miteinander  verbinden. Eine neue ästhetische nonverbale Kommunikation würde zwischenmenschlichen Beziehungen neue Impulse geben können.  Elektronische Musik, Computermusik
erhielte so einen kulturstrukturellen Sinn, der Über klangfarbliche 'Bereicherungen' und die Nachahmung des bekannten akustischen Instrumentariums weit hinausreichen könnte. Wenn für die Realisierung solcher Spiele entsprechende (Computer)Instrumente entwickelt würden und in die Familienhaushalte kämen, dann würde auch eine neue Möglichkeit von "Hausmusik" entstehen - mit einer kaum hoch genug einzuschätzenden Auswirkung auf die ästhetische Kreativität. Die Spieler, die auf Grund von Material und Regeln des
jeweiligen Spiels sich miteinander im Spiel befänden, könnten in Echtzeit ihre Individualität und Spontaneität akustisch wahrnehmbar ins Spiel einbringen, könnten sofort wahrnehmen, ob und wie sie in der Lage sind, sich als Teile des Spiels zu erweisen und die unterschiedlichen Teile des Spiels mittels Kenntnis und Intuition zusammenzufügen. Je nach der Meisterschaft der Spieler würde es schîne und interessante Konstellationen und Wendungen geben, die für den Zuhörer des Spiels umso fesselnder wären, je mehr dieser selbst in die Tiefe solcher Spiele eingedrungen ist.

Und hier geht es schon in die Dimensionen eines "Glasperlenspiels", denn es ist denkbar, daß solche akustisch und optisch spielbaren Spiele - von Meistern gespielt - zum kulturellen Höhepunkt einer Stadt, eines Landes, ja mehrerer Länder würden und Millionen über die Medien daran Anteil nähmen, um in der Tiefe ihrer Seele davon berührt zu werden. Staunend würde man vielleicht erfahren können, daß man Teil eines organismischen, Kosmos' ist und daß man mit ihm über die ästhetische Wahrnehmung in Verbindung treten kann. (Vorausgesetzt, daß die elektroakustische Farbklanglichkeit sehr viel sensibler gestaltet werden kann, als es bisher möglich ist.)

Wo aber sind die Computermusiker, die mit Hilfe ästhetisch/philosophischer Überlegungen (unter Verzicht auf individuelle Ideologismen) auf solche - vielleicht ganzheitlich zu nennenden - kulturellen Dimensionen orientieren? Wo existiert etwa ein "Spielerdorf" mit der  systematischen Forschungs- und ErFindungsarbeit, die aus solchen Überlegungen
resultieren müßte? Wo findet eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Wissenschaftlern in Bezug auf die Erfüllung geistig-kultureller Funktionen überhaupt statt? Und wo sind die Initiativen der einflußreichen Politiker, Kulturverantwortlichen und Mäzene, um dafür die materiellen Voraussetzungen zu schaffen, eine geistig-kulturelle Erneuerung in entscheidendem Umfang zu fördern und in die Medien zu bringen?

Computermusiker sind im allgemeinen noch immer so stark mit der Lösung technischer Detailprobleme befaßt, als daß sie die Verbindung zum geistig-kulturellen Ganzen (in dem auch die Erfindungen um die Computermusik erst ihre sinnvollen Bezüge und kulturellen Funktionen erhalten können) wahren könnten. In einer Gesellschaft, die Geldgewinn und den Erfolg im Detail sogar Über die Wahrung der natürlichen Grundlagen unseres Überlebens erhoben hat, ist ihnen das auch kaum anzulasten. Es stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob die Wahrung und Entfaltung der geistig-kulturellen Dimensionen unseres Lebens nicht als die Übergeordnete Aufgabe der verschiedendsten Bereiche der Geisteswissenschaften und Künste gelten müßte. Die Künstlern allein wären damit aussichtslos überfordert. Wenn das Spielerdorf Kastaliens nicht vom Lebensalltag so getrennt und zu elitär abgeschottet gewesen wäre, könnte es vielleicht als eine Metapher dafür gelten, wie die Lösung dieser Åbergeordneter Aufgabe angegangen werden könnte.

Hesse hat eine phantastisch erscheinende geistig-kulturelle Dimension vorgezeichnet, die mit Hilfe neuer Medientechniken erreicht werden könnte. Er hat die Wahrheit und Schönheit einer Kultur angesprochen, der die europäische und westliche Zivilisation mit Hilfe gewonnener Technik entgegengehen könnte, wenn sie sich nicht stattdessen an sie und in ihr verlieren würde. Im Roman konnte die "Glasperlenspiel"-Idee nicht von Dauer sein und sich nicht aus dem Bann des Elitären lösen, weil Hesse vielleicht zu wenig auf die erneuernden schöpferischen Impulse, auf künstlerische Kreatürlichkeit, auf die  "Blüte der Künste" eines jeden Zeitalters, und zu sehr auf "intellektuellen Besitz" und auf eine einmalige "Blütezeit der Künste" orientiert war - so, als könnten Blumen nicht in jedem Jahr neu blühen.  Aber ohne die Bewußtwerdung des "ganzen ungeheuren Materials von geistigen Werten" konnten weder das "Zwölftonspiel" Joseph Matthias Hauers, noch das Glasperlenspiel Hermann Hesses zur Idee werden. Am Beispiel Kastaliens fährt Hesse aber auch vor Augen, wie belanglos das "ganze ungeheure Material" werden kann, wenn nicht eine starke Verbindung zwischen ihm und den Wirklichkeiten des Lebensalltages existiert. Und im Bewußtsein des Mangels dieser Verbindung liegt vielleicht auch Hesses Resignation. Wenn Technik als ein Instrumentarium zur Ermöglichung unserer geistig-kulturellen Optionen begriffen wird und auf ein ökologisch verträgliches Niveau gebracht werden kann, dann bietet uns technisches Instrumentarium außergewöhnliche
Möglichkeiten, diese Verbindung zu gewährleisten. Doch unter den beeindruckenden technischen Möglichkeiten unserer Zeit scheint mit der Besinnung auf die Wahrung unserer ökologischen Lebensgrundlagen auch die Besinnung auf das "ganze ungeheure Material von geistigen Werten"  verloren gegangen zu sein. Und um diese Besinnung muß es zunächst wieder gehen. Sie ist eine Aufgabe, die als Anforderung an die unterschiedlichsten Bereiche von Kunst, Wissenschaft und Politik begriffen werden muû. Mit ihrer Lösung böte sich die Chance, die geistig-kulturelle Dimension - als eine der wesentlichen Grundlagen und als Sinngeber menschlichen Lebens - zu entfalten und zu bewahren und zugleich der Entwicklung zu einer Computersklavengesellschaft gegenzusteuern.


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