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Brückenstreit - ein Glücksfall für die Demokratie (2007)

Leserbriefe in: DNN (Dresdner Neueste Nachrichten) vom 14./15. April 2007 und LVZ (Leipziger Volkszeitung) vom 20. April 2007

Das mit dem Glücksfall (von H. Johannes Wallmann © 2007)
Vor etwa vier Wochen schrieb ich, dass der Dresdner Brückenstreit ein Glücksfall für die Demokratie sei, weil viele Menschen sich vehement für die Erhaltung der Schönheit ihrer Stadt einsetzten. Es wäre Gift für die Demokratie, wenn dieses Engagement für eine nachhaltige, ökologisch und ästhetisch sinnvolle Elbquerung umsonst bleiben sollte. Inzwischen scheinen sich offenbar sogar Gesetzeslücken zu zeigen, die einer entsprechend engagierten Praxis von Demokratie entgegenstehen. Doch ist Demokratie eine unverzichtbare Basis unserer Gesellschaft und sie ist nur in dem Maße lebensfähig, wie sie als die Gestaltung des Gemeinwesens  unter Teilnahme aller Bürger verstanden wird. Auf Dauer wäre es daher verheerend,  wenn sie auf den aller Jahre stattfindenden Gang zur Wahlurne beschränkt
bliebe. Denn letztlich geht es mit Demokratie um nicht weniger, als in der Gesellschaft Kompetenz und Know how zu akquirieren, um die jeweils besten – d.h. nachhaltigsten und zukunftstragfähigsten – Problemlösungen zu erreichen. Daher sollten Mehrheitsentscheidungen im Grunde nicht das erste und einzige, sondern nur eines mehrerer Mittel demokratischer Mitgestaltung sein. Wenn es um die jeweils besten Problemlösungen geht, so ist es wesentlich, dass ihre Umsetzung nicht von den Interessenlagen (z.B. dem Machterhalt oder Geldgewinn) einzelner Personen und Gruppen blockiert wird. Zugleich gilt es sich der verschiedenen Einflussfaktoren bewusst zu werden, die zum Ergebnis einer Volksbefragung führen. Diese Einflussfaktoren greifen situationsbedingt ineinander und bewirken eine bestimmte Gemüts- und Gemengelage, die über den Ausgang der Volksbefragung entscheidet. Sie reichen von konkret zu lösenden Alltagsproblemen (wie z.B. dem Dresdner Autostau) über allgemeine gesellschaftliche Probleme bis hin zu den Interessenlagen der Mächtigen. Die Medien spielen dabei eine eminente Rolle. Denn sie sind die Führer durch den Informationsdschungel und somit selbst ein eminenter Einflussfaktor. Und auch Sensibilität und Bildung einer Gesellschaft hängen nicht zuletzt davon ab, welche Werte und Informationen (inkl. der ästhetischen) durch die Medien kommuniziert und damit gesellschaftlich reflektiert werden. Was demokratische Mehrheitsentscheidungen angeht, so sollten wir uns jedoch nicht nur ins Bewusstsein rufen, dass sie auf Einflussfaktoren beruhen, sondern auch, dass sie nicht als der letzte Maßstab für den Wert einer Entscheidung gelten können. Z.B. wurden die Kriegskredite für den 1. Weltkrieg vom Reichstag zunächst sogar einhellig gebilligt. Schon 14 Jahre nach den Millionen Toten des 1. Weltkrieges gelang es Hitler aufgrund demokratisch gewählter Mehrheitsverhältnisse, die Macht an sich zu reißen. Beide Entscheidungen – die quasi
demokratisch legitimiert waren - haben ganz Europa in tiefstes Unglück gestürzt und Zig Millionen Menschenleben gekostet. Ein anderes Beispiel ist der gegenwärtige Klimawandel, der von Wissenschaftlern schon vor ca. 35 Jahren vorausgesagt wurde und möglicherweise ebenfalls Millionen Menschenleben kosten wird. Können angesichts dessen die – wiederum demokratisch legitimierten – Entscheidungen der Regierungen, die diese Fakten ignorierten, als richtig und angemessen gelten? Und welche Gemüts-, Gemenge- und Rechtslagen sind dafür verantwortlich, wenn Ignoranz regieren kann?  Wir sehen allein an diesen drei Beispielen, dass demokratische Legitimationen  nicht gleichbedeutend mit richtigen Entscheidungen sind. Wir sehen aber auch, dass es mit demokratischen Entscheidungen im Grunde um nachhaltige und zukunftstragfähige sowie friedliebende Entscheidungen gehen muss. Denn alles andere führt – erst recht angesichts moderner Technologien, mit denen wir
(ob bewusst oder unbewusst) tief in die Lebensgrundlagen und das Ökosystem Erde eingreifen und sogar eine militärische Selbstvernichtung der Menschheit bewirken können – zu mehr oder minder großen Katastrophen. Nun ist die Elbquerung in Dresden sicher kein Fall, der den Untergang der Welt bewirken wird. Aber es ist sozusagen ein überschaubarer Präzedenzfall, an dem unsere Demokratie ihr wirkliches Gesicht zeigt. Zwar ist es verständlich, dass die Mehrheit der Dresdner die langwierige Diskussion satt hat und anstatt Stau freie Fahrt für ihr Lieblingsspielzeug haben möchte. Doch welcher Dienst würde der Demokratie (an der gegenwärtig ohnehin nicht selten gezweifelt wird) erwiesen, wenn eine Lösung durchgesetzt würde, die weder als nachhaltig, noch als ökologisch und schon gar nicht als ästhetisch sinnvoll gelten kann?  Sollten wir nicht alle Hebel in Gang setzen, um – auch im Sinne der Zukunft und nachfolgender Generationen - Ignoranz abzubauen und echtes demokratisches Engagement sowie die besten Problemlösungen zu fördern? War es nicht das, was wir mit der Wende einst wollten?

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