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Akustische und optische Ökologie – angewandte Ästh-Ethik

H. Johannes Wallmann (INTEGRALE MODERNE)

Akustische und optische Ökologie – angewandte Ästh-Ethik


Wir leben in einer Lärm-Gesellschaft. Das Getöse, das die Gesellschaft umgibt und ihr die Sinne verstopft, ist der Ausdruck des akustischen und optischen Bilderkrieges, der gegenwärtig um die Beherrschung der menschlichen Seele und des menschlichen Geistes tobt. Dieser prämoderne Bilderkrieg, der mittels einer unglaublichen Flut und einer ebenso unglaublichen Inflation von Formen, Farben, Klängen und Informationen geführt wird, ist nicht nur physischer, sondern auch psychischer Natur. Er drängt den einzelnen Menschen in das Gefängnis seiner individuellen Sehnsüchte und spaltet ihn nicht nur von der Realität, sondern auch von Wahrheit und Schönheit sowie der Wahrnehmung der universellen Relationen unseres Seins ab. Er verhindert es, dass die Individuen das Ganze mittels ihrer Wahrnehmung zu durchschweifen suchen und sich integralen (d.h. gleichermaßen individuellen-soziellen-universellen) Informations- und Energieflüssen öffnen. Auf diesem Bilderkrieg- und Lärm-Schlachtfeld fungieren die optischen und akustischen Reize nicht selten als eine Art Schmierseife, die dazu dient, Macht zu erlangen, zu sichern und die wirklichen Interessen der Mächtigen zu verschleiern. Die damit einhergehende gewaltige Masse an akustischem und optischem Abfall zieht eine horrende geistig-kulturelle Verwirrung und entsprechenden ökologischen Verschleiß nach sich. Diese gilt es zu vermeiden, wenn wir überleben wollen. Das Nachdenken über akustische und optische Ökologie – als angewandter Ästh-Ethik – kann dazu beitragen.

Effekte freisetzen, die niemals destruktiv wirken. Weil Ästh-Ethik bedeutet, nur jene Effekte freizusetzen, die niemals destruktiv auf Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen wirken und weil Ästh-Ethik auf die Entideologisierung und Befreiung der Wahrnehmung sowie auf die integrale Entwicklung der Intelligenz des Menschen setzt, kann es mit ihr keineswegs darum gehen, einer blassen und unkreativen Welt das Wort zu reden. Vielmehr kann Ästh-Ethik als eine ziemlich fitte Strategie gelten, um aus der unglaublichen Vielfalt der Möglichkeiten jene auszuwählen, die positive Auswirkungen auf die Entwicklung unserer Intelligenz und auf unser Orientierungs-vermögen sowie auf die Erhaltung der organismischen Lebensgrundlagen haben. Als Ökologie der Wahrnehmung geht es mit Ästh-Ethik nicht zuletzt darum, unsere Wahrnehmungsorgane vor dem Dauerfeuer von Information zu schützen, ihnen Zeiten und Räume der Stille sowie des Innehaltens zu gewährleisten. Sowohl akustische Ökologie (als die Vermeidung von akustischem Müll), als auch optische Ökologie (als die Vermeidung von optischem Müll), werden daher für die Gestaltung der Zukunft von großer Bedeutung sein.

Unsere Augen und Ohren nicht verpachten. Die menschliche Gesellschaft bedarf der Einsicht, dass sie ihre Wahrnehmung nicht mit jedem und allem zuschütten und verstopfen darf. Sie bedarf kultureller Qualitäten, Strukturen und Informationen, die zur Steigerung der menschlichen Lebensintelligenz beitragen und uns davor schützen, unsere Augen und Ohren egozentrischen Einflüssen zu überlassen. Denn so, wie wir unsere Augen und Ohren verpachten, in dem Maße verpachten wir unsere Orientierungsmöglichkeiten und lassen unseren Geist von Interessen domestizieren, die mit unseren eigenen vitalen Lebensinteressen und denen der Menschheit kaum etwas zu tun haben.

Ästh-Ethik meint daher, dass die Wahrnehmung des Menschen so frei sein muss, dass sie sich aus eigener Kraft am Logos und seinen teleonomisch fittesten Relationen (z.B. von Schönheit und Wahrheit) zu orientieren vermag. Denn die Gesellschaft der Menschen wird angesichts der evolutiv neuen Situation nur so überlebensfähig sein, wie sie sich zu einer offenen und ideologiefreien Wahrnehmung und damit zu den entsprechenden Entscheidungen und Problemlösungen befähigt. Ästh-Ethik dürfte dafür ein nützliches Instrument sein.

Die Lautsphäre als eine musikalische Komposition. Entsprechend befasst sich akustische und optische Ökologie mit den physischen und psychischen Auswirkungen der akustischen und optischen Relationen und Informationen der Zivilgesellschaft auf die „in ihr lebenden Kreaturen“. Das eine Ziel von akustischer und optischer Ökologie ist es, „die Aufmerksamkeit auf die Unstimmigkeiten zu lenken“, die zu nachteiligen Wirkungen auf die Intelligenz, die  Psyche und Physis des Menschen sowie der sonstigen Lebewesen führen. Das andere Ziel besteht darin, die akustischen und optischen Relationen der Zivilgesellschaft so zu gestalten, dass diese Unstimmigkeiten vermieden oder beseitigt werden. D.h., es geht einerseits um eine genaue Analyse und andererseits um eine Synthese und damit um die bewusste Gestaltung und Nutzung akustischer bzw. optischer Relationen und Informationen. Die Analyse bildet die Voraussetzung, um eine neue Synthese zu entwickeln. Es geht dabei nicht zuletzt um die Frage, wie Lärmquellen gestaltet werden können, so dass sie keine schädlichen Auswirkungen haben. Für die akustische Gestaltung „ist es erforderlich, sich die Lautsphäre als eine musikalische Komposition vorzustellen, die sich unaufhörlich um uns dreht, und sich zu fragen, wie ihre Orchestrierung zu verbessern sei und reiche und vielfältige Effekte freizusetzen seien, die niemals destruktiv auf Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen wirken.“ Vergleichbares trifft auch für die optische Gestaltung zu, für die es erforderlich ist, sich die Farb- und Formensphären als eine bildnerische Komposition vorzustellen, die sich unaufhörlich um uns dreht, und sich zu fragen, wie ihre Farben und Formen zu verbessern und reiche und vielfältige Effekte freizusetzen seien, die niemals destruktiv auf Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen wirken.

Unerwünscht oder wünschenswert. Der Komponist Murray Schafer, der den Begriff der Akustischen Ökologie geprägt hat, definiert Lärm mit vier Begriffen: 1. unerwünschter Laut, 2. unmusikalischer Laut (nichtperiodische Schwingung), 3. jeder starke Laut, 4. Störung akustischer Signalsysteme. In optischen Relationen wäre dieses: 1. unerwünschte Form/Farbe., 2. unkünstlerische Form/Farbe, 3. jede aufdringliche Form/Farbe, 4. Störung optischer Signalsysteme.
Weil diese Punkte zeigen, dass allgemeingültige und handhabbare Kriterien für das, was akustisch bzw. optisch als Lärm bezeichnet werden kann, relativ schwer zu fassen sind, merkt Murray Schafer an, dass „unerwünschter Laut“ die zufriedenstellendste Definition von Lärm sei. Er weist zugleich darauf hin, dass „unerwünscht“ die Möglichkeit offen hält, „dass es in einer Gesellschaft mehr Übereinstimmung als Unstimmigkeit darüber gibt“ welche Laute (resp. Formen und Farben) als unerwünscht empfunden werden. D.h., es wäre quasi mehrheitlich darüber zu entscheiden. So wird z.B. wahrscheinlich eine Übereinstimmung darüber zu finden sein, dass Lärm als Abfallprodukt bestimmter technischer Prozesse nach Möglichkeit vermieden werden sollte. Doch wie finden wir zu „ mehr Übereinstimmung als Unstimmigkeit “ betreffs bewusst gestalteter akustischer Realtionen?
Wenn wir vergleichbare Überlegungen betreffs des optischen Lärms anstellen, so zeigt sich, dass dieser von vornherein stärker aus einer willentlichen Gestaltung herrührt. Optischer Lärm ist seltener Abfallprodukt als akustischer Lärm. Und wir können wegsehen von dem optischen Lärm, wenn er nicht zu riesig ist. Doch zumindest in den Medien und in den Städten ist er riesig. Aber ist er erwünscht oder unerwünscht?
Da die Klärung dieser Frage nicht allein aufgrund mehrheitlicher Voten entschieden werden kann, wäre zu fragen, worin die mangelnde Qualität dessen besteht, was als unerwünschter Lärm bezeichnet werden kann. Konkret wäre zu klären, wozu es der jeweiligen optischen bzw. akustischen Relationen bedarf. Einmal abgesehen, dass optische und akustische Relationen aus sich heraus Qualitäten sind, ist auch hier die Antwort einfach: um zu kommunizieren. Die nächste Frage wäre: was wird kommuniziert? In den meisten Fällen lässt sich auch diese Frage unschwer beantworten. Sei es Information, Werbung oder Geltungssucht oder, oder, oder … Nun aber kommt die Frage, die sozusagen ins Zentrum zielt: Ist das, was optisch oder akustisch gestaltet und kommuniziert wird, für den einzelnen Menschen sowie für die Menschheit als Ganzes im Hinblick auf die integrale Entwicklung der menschlichen Intelligenz sowie auf die Erhaltung der organismischen Lebensgrundlagen wünschenswert oder zumindest nicht hinderlich? Welches Denken, welche Haltungen werden durch die jeweiligen optischen bzw. akustischen Relationen unterstützt und kommuniziert? Diese Fragen verlangen – nicht zuletzt im Interesse von Demokratie – nach einer klaren Antwort: Da die Verpachtung der Sinne nicht das Ziel der Kultur einer demokratischen Gesellschaft sein kann, muss eine akustische und optische Ökologie darauf zielen, die menschliche Intelligenz integral zu entwickeln und dafür Ohren und Augen im Sinne der vitalen Lebensinteressen frei von allen schädlichen Vereinnahmungen zu halten.

Kulturelle Verantwortung oder kommerzielle Gestaltung. Murray Schafer prägte auch den Begriff Akustikdesign. Wie noch in Kapitel 6.5. an Buckminster Fullers Kritik zu Design (als Kaschierung und Vertuschung der Realitäten) zu sehen sein wird, ist der Begriff des Designs in gewisser Weise verkommen. So ist mit ihm meist eher kommerzielle Gestaltung als kulturelle Verantwortung verbunden. Design als Oberflächengestaltung zur Erkennung bestimmter Marken muss daher daraufhin geprüft werden, inwieweit es sogar als Bemäntelung schädlicher Wirkungen fungiert, um deren prinzipielle Vermeidung es mit akustischer und optischer Ökologie gehen muss. Auch angesichts einschlägiger Design-Perfektionismen gilt es mit einer ästh-ethischen akustischen und optischen Gestaltung die Aufmerksamkeit auf kulturelle Verantwortung zu lenken. Darauf zielt bereits Murray Schafer, wenn er „die einfallsreiche Platzierung von Lauten zur Schaffung attraktiver und anregender akustischer Umfelder“ fordert.  So kann akustisches Gestalten „auch die Komposition von Umweltmodellen einschließen, und in dieser Hinsicht grenzt es an zeitgenössische Musikkompositionen.“ Entsprechend knüpft Murray Schafer auch mit den nachfolgenden Sätzen an den kulturellen Fragestellungen akustischer und optischer Ökologie an: „Wenn man Musik nicht mehr ungestört im Freien hören kann, wird sie in Konzertsälen gespielt. Dort, hinter dicken Wänden, ist konzentriertes Hören möglich. Das soll heißen, das Streichquartett und städtischer Lärm bedingen einander. DER KONZERTSAAL ALS ERSATZ FÜR DAS LEBEN IM FREIEN“.
Ich möchte an dieser Stelle von einer wunderbaren Aufführung von Morton Feldmans viereinhalbstündigen „String Quartet (II)“ berichten. Die Hörer, die die Aufführung dieser überwiegend leise und still klingenden Komposition besuchten, waren von vornherein auf eine relativ lange Zeit des Zuhörens eingestellt und hatten sich dementsprechend ausgerüstet. Aufmerksam und gelöst saßen sie auf Stühlen oder lagen auf dem Fußboden und hörten den vier konzentriert spielenden Musikern zu. Die musikalischen Strukturen und die Entspannung dieser in sich selbst gelösten Musik ließ viele Ohren vor Erwärmung rot werden, zum Teil die gesamte Aufführung hindurch. Ich bemerkte es, weil auch ich die Wärme in meinen eigenen Ohren aufsteigen spürte. Diese Musik war eine wunderbare Erfahrung der Schärfung der Wahrnehmung für die feinen Variationen der Musik einerseits und der Befreiung und Entspannung, die damit einhergehen kann, andererseits. Eine kosmische Musik, die sich in ihrer ganzen Gelassenheit vermittelte. Ich bin sicher, dass vergleichbare Formen von Musik und den aus ihr resultierenden Atmosphären in einiger Zukunft auch für das Leben außerhalb des Konzertsaals, FÜR DAS LEBEN IM FREIEN, eine immer größere Rolle spielen werden (eben weil die akustischen und optischen Einflusszonen, die wir um uns herum schaffen, von eminenter Bedeutung für die Intelligenz und das Verhalten des Menschen sind).

In der Stadt. Akustische und optische Ökologie sind in besonderer Weise auch im Hinblick auf die Gestaltung von Architektur und Städteplanung relevant. Denn Architektur und Städteplanung bilden die Strukturen, die die ästhetischen Erfahrungen von Auge und Ohr im öffentlichen Stadtraum prägen. „Architektur siedelt wie Bildhauerei an der Grenze zwischen Sicht und Schall. Um ein Gebäude und um ein Gebäude herum gibt es bestimmte Stellen von besonderer visueller und akustischer Wirkung. Sie liegen auf den Brennpunkten von Parabeln und Ellipsen oder im Schnittwinkel von Ebenen. Von diesen Stellen aus sind der Redner und der Musiker am besten zu hören. Hier entfalten auch Skulpturen ihre ganze bildliche Kraft …“. Entsprechend gilt es Innen- und Außenräume nach Kriterien zu gestalten, durch die auch Auge und Ohr, optische und akustische Relationen, wieder in ihrem unmittelbaren Zusammenhang begriffen werden. Insofern tragen Architektur und Städteplanung ausschlaggebend zur Verstärkung oder zur Abschwächung von akustischem oder optischem Lärm bei, denn sie können die Verläufe von Schall und Hall und damit die Übertragung von ästhetischen Informationen maßgeblich beeinflussen. „Die Architekten der Vergangenheit wussten sehr viel über die Schallwirkungen und setzten sie im positiven Sinne ein, während ihre heutigen Nachfolger wenig Ahnung davon haben und sich deshalb nur im negativen Sinne mit ihnen befassen.“ Murray Schafer hat recht damit! Es reicht für die Zukunft nicht aus, Städte und Architekturen akustisch per Schalldämmung oder Schallüberdeckungsverfahren zu definieren oder den akustischen Bereich gänzlich unbeachtet zu lassen. Denn es gilt mittels der akustisch und optisch wahrnehmbaren Relationen von Architektur und Städteplanung positive physische und psychische Auswirkungen hervorzurufen.

Sensible Verbindung. Natürlich ist bei all dem auch der energetische Aspekt von akustischer und optischer Ökologie zu beachten. Denn wenn wir im Sinne einer akustischen und optischen Ökologie planen und gestalten, werden dafür vielleicht zunächst etwas mehr Investitionen benötigt, doch letztlich führt akustische und optische Ökologie – durch die mit ihr einhergehende Entlastung der Wahrnehmung und Fokussierung der Sinne auf Wesentliches - zu einer hohen Effizienz der eingesetzten Energien und Ressourcen. Da Energien und Ressourcen begrenzt sind, kommt es darauf an, sie so zu nutzen, dass sie zahlreiche Synergien erzeugen. Entsprechend sollte alle akustische und optische Gestaltung im Sinne einer akustischen und optischen Ökologie dazu beitragen, den physischen und psychischen Lärm, der gegenwärtig noch auf uns niederprasselt, so weit als möglich zu vermeiden oder zumindest auszugleichen. Das bedeutet u.a., den qualitativen Energie- und Informationscharakter auch von Kunst und künstlerischer Gestaltung unter Gesichtspunkten akustischer und optischer Ökologie zu reflektieren und sich der Frage zu stellen, welche Energien und welche Informationen ein Künstler in die Gesellschaft hineingibt und hineingeben sollte.
Ästh-Ethik – als angewandte akustische und optische Ökologie sowie als Reflektions- und Regelwerk einer kulturell bewussten Gestaltung der menschlichen Lebenswelten – bekommt dafür eine enorme Bedeutung. Den Künstler der Zukunft stellt sie in eine entsprechend große Verantwortung. Aber auch die Gesellschaft muss mittels ihrer kulturellen Kommunikation einen Sinn dafür entwickeln, dass sie die physischen und psychischen Auswirkungen ihrer optischen und akustischen Kreationen auf die menschliche Entwicklung zu bedenken hat. Lernt sie dies, so entstünde für jeden einzelnen Menschen zunehmend eine Bewusstheit, die eigene Wahrnehmung als kostbares Gut sowie als sensible Verbindung zwischen Innen und Außen zu verstehen und vor Missbrauch und Vermüllung zu schützen.

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