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audio & textheft Jürgen-Fuchs-Zyklus

Textheft sowie Text- und Hörbeispiele aus

H. Johannes Wallmann: ICH-SCHWEIGE-NICHT - Jürgen-Fuchs-Zyklus - Musik im Raum für Sopran, Bariton, Saxophonquartett und Percussion mit Texten von Jürgen Fuchs bis Edward Snowden und Fotoprojektionen von Harald Hauswald

Nebenstehend 13 der 25 Sätze als Hörbeispiele - Aufnahme der UA am 3.10. 2014 Berlin || Rundfunk-Aufnahmen: MdR Kultur am 15.10.2014 in der Aula der Universität Jena.!)

CD - Satzauswahl

Aufgrund des großen Werkumfangs enthält die CD des Werkes (erschienen 2015) eine Satzauswahl der Uraufführung in der Gethsemane-Kirche Berlin sowie Satz 18 der MDR-Aufnahme in Jena.

Textheft 

die gesamten Texte des Jürgen-Fuchs-Zyklus sind im Textheft abgedruckt, das als PDF hier rechts unter dem Bild steht.

weitere Informationen zu diesem Werk (bitte hier anklicken)

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Text-Auszüge:


Satz 19: die zu fall gebracht werden sollten

Die zu Fall gebracht werden sollten, die fallen, möchten aufgefangen werden. 
Sie möchten weinen und von der Gefahr berichten, der Gewalt, dem Schmerz. ... 
Sie möchten umarmt werden, gedrückt und gelobt: Dass ihr am Leben seid! Ihr 
guten, mutigen Leute habt richtig gehandelt. (Jürgen Fuchs)

Satz 20: die lager

Wir sind in Deutschland, stimmts?
in Gera habe ich ihr Wörterbuch zuerst gesehen, ihr Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit ... Wir haben über LTI gesprochen, Klemperer, und über Primo Levi, der die Sprache der deutschen Kzs mit den Gulag-Ausdrücken verglich, die Solschenizyn zitierte.
In all dem gab es eine Regie. In Richtlinien und Dienstanweisungen erkannten wir sie wieder, in ihrem Wörterbuch, in ihren Begriffen und Satzkonstruktionen.


Planung von Internierungslagern
Kz. hieß die Stasi-Einteilung
Kennziffer, von 1.4.1. bis 1.4.3., Tausende von Namen, politische Unsicherheitsfaktoren im Spannungsfall ...
Das >K< haben sie großgeschrieben, das >z< klein 
Aber die Buchstaben >K< und >z<, klein und groß geschrieben oder groß und klein,
die bedeuten schon was in Deutschland.
Als wir die Dimension von >Lager< begriffen,
auch von KZ und Pionierlager,
als Solschenizyn das Wort Gulag aussprach,
als Pinochet seine dunkle Brille aufsetzte, später Jaruzelski ... 
schlugen wir zu, kauend.
Das Eigene griffen wir an, schluckend. ... 

 

Die Kraft zerkaut,
die Leichtigkeit geschluckt,
die Freundlichkeit weg, das Jung-Sein, die Lässigkeit, das gute Gefühl.
Aber wo die Achillessehne der Diktatur war, wußten wir,
und wo das Blatt lag, das verwundbar machte.

 

Die Toten
ca. 70 Millionen Tote durch Mao zu Friedenszeiten
29-46 Millionen Tote in den sowjetischen GULAGs (von 1919 bis zum Ende)
1-2 Millionen bestialisch Erschlagene in Kambodscha
Millionen Gequälte, Versklavte, Ermordete in den nordkoreanischen KZs
Ungezählte – mittels Zersetzung - gebrochene Biografien durch das MfS der DDR.

 

Was hat es für unsere Zukunft für Folgen,
wenn angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus
die Verbrechen des Realsozialismus übergangen werden?* 

 

Es ist undenkbar, dass zwei Diktaturen in Deutschland nichts miteinander zu tun haben.
Es ist undenkbar, dass Begründungszusammenhänge, auch Mittel, Maßnahmen und Methoden, auch mentale Strukturen, 
völlig getrennt voneinander existieren innerhalb einer räumlich und zeitlich nahen „Landschaft“.
 Es wird eher so sein, dass die Nähe den Aufschrei und das Tabu produziert. ... 
Woher Mitleid, Mitgefühl nehmen, aus welcher Ecke, unter welcher zugepflasterten Straße sie hervorkramen?
 
Wieviel von der Welt der Konzentrationslager ist tot und kehrt nicht mehr wieder?
Wieviel ist wiedergekehrt oder ist dabei wiederzukehren?
Was kann jeder einzelne von uns tun, damit in dieser von vielen Gefahren bedrohten Welt zumindest diese gebannt wird?

Wir sind in Deutschland, stimmts?

 
 Satz 21: ich schweige nicht (epitaph und neue fuge)
 
ich schweige nicht
"denn Zukunft lässt sich nur so gut gestalten
 wie Vergangenheit aufgearbeitet ist*
 

Satz 22 – brücke 17-19: *entsklavung

Zitationen - nur zu lesen / vorzulesen:

*Und was sagte R. Buckminster Fuller?: „Spezialistentum ist in Wirklichkeit nur eine verkappte Form der Sklaverei, wobei der „Experte“ dazu verleitet wird, seine Versklavung hinzunehmen.“
Was sagte Andrej Sacharow mit Anton Tschechow?: „wir pressen tropfenweise den Sklaven aus uns heraus'“ 
Was sagte Alexander Solschenizyn?: „Warum also schweige ich? Warum schleudere ich nicht die Wahrheit in die betrogene Menge, jetzt, in meiner letzten öffentlichen Stunde?*

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GEMA
Für alle Hörbeispiele auf dieser Website gilt: "Es gelten die Vorschriften des deutschen Urheberrechts in seiner jeweiligen Fassung. Alle Rechte der Urheber an den geschützten Werken, die auf der Website enthalten sind, bleiben vorbehalten. Ohne ausdrücklich Genehmigung durch die GEMA darf eine weitergehende Nutzung der Werke, über das Anhören der eingestellten Musikwerke hinaus, nicht erfolgen."
 
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Mit den im Fuchs-Zyklus enthaltenen Zitaten von Widerständigen und Denkern aus aller Welt 
skizziert dieser Zyklus nicht zuletzt eine internationale Linie geistig-kulturellen Widerstehens.
 
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"Klartext und Metaphorik" - Matthias Entreß im Gespräch mit H. Johannes Wallmann über den Jürgen-Fuchs-Zyklus 

(Auszug aus Kapitel 2 des Buches "KUNST - EINE TOCHTER DER FREIHEIT? von Susanne & H.Johannes Wallmann (HG:), Kulturverlag Kadmos, 2017)

Matthias Entreß (M.E.): Hast du als Komponist, der allein schon durch seine beschädigte Studienlaufbahn sozusagen per definitionem ein Dissident war, die Nähe kritischer Dichter gesucht? Wie bist du an Jürgen Fuchs gekommem, und wie zu diesen Texten? Und dann, wieso hat es Jahrzehnte und einen politischen Systemwechsel gebraucht, um kompositorisch auf diese Texte zuzugehen?

H. Johannes Wallmann (J.W.): Am ersten Oktoberwochenende 1976 hatte mir Jürgen Fuchs bei unserem Besuch in Grünheide seine Gedichte ans Herz gelegt und mir eine ganze Reihe seiner Manuskriptseiten mitgegeben. Jung und noch ganz auf Reiner Kunzes Gedichte orientiert, erkannte ich damals zwar ihre große Wahrhaftigkeit aber noch nicht ihren literarischen Rang. Ich sah sie - ebenso wie Lutz Rathenow und viele andere - vor allem als Klartext.

M.E.: Ich verstehe das Wort Klartext, wenn ich zum Beispiel die Beinahe-Prosa von „die brücke“ lese, aber der Gestus, der durch die abbrechenden Sätze, wie stammelndes Denken, angedeutet wird, macht es zu einem innerlichen Monolog. Was machte den Zugang zu diesen Texten als Wort-Gesang so schwierig?

J.W.: Angesichts einerseits der realsozalistischen Propaganda-Lyrik, die verlogen und Klartext war lediglich im Hinblick auf die Machtansprüche der damit verbundenen SED-Ideologie, andererseits der Lyrik von Reiner Kunze, die metaphorisch von unglaublicher Schönheit, großer Wahrhaftigkeit und zugleich hochpolitisch war, lag für mich als Komponist eine erhebliche Schwierigkeit darin, dokumentarische Klartexte zu komponieren. Zumal für mich Ideologiefreiheit und Mehrdeutigkeit (Zaal Andronikashvili nennt es Bedeutungsvielfalt) von Musik seit jeher eine wesentliche Rolle spielen, stand mir als Musiker die Metaphorik z.B. der Werke von Reiner Kunze oder das Abstrakt-Konstruktiv-Konkrete Kurt W. Streubels deutlich näher. Mit Kompositionen zu Werken dieser beiden Künstler (oder auch mit „rivolto“ (1983) sowie meiner 1984 geschriebenen Komposition zu Orwells „1984“) hatte ich schon in der DDR künstlerisch überaus deutliche Klartext-Zeichen gesetzt. Allerdings lagen auch diesen Kompositionen keine so unmittelbaren Klartexte wie jene von Jürgen Fuchs zugrunde. 

Es war mir zudem klar, dass es angesichts von Jürgen Fuchs´ Leben und Werk einer erstklassigen Balance zwischen lyrischer Metaphorik und faktischer Dokumentation bedarf. Jenseits von Liedermachern und fern vom Polit-Jargon der Eisler-, Dessau- oder Biermann-Ästhetiken hatte ich diese Balance aber kompositorisch nicht wirklich für möglich gehalten. Erst im Mai 1999 am Grab von Jürgen Fuchs wusste ich und verspürte ich eine Verpflichtung, eines Tages eine Lösung zu finden und seine Texte zu vertonen. Die o.g. Schwierigkeit war damit allerdings keineswegs ausgeräumt. Ich beschäftigte mich von da an jedoch immer wieder mit seinen Texten, die mir je länger je mehr nicht nur hinsichtlich ihrer (dokumentarischen) Wahrhaftigkeit, sondern auch künstlerisch als völlig unverzichtbar und literarisch von hoher Qualität erschienen. 

M.E.: Also war Fuchs' Lyrik sozusagen Aktion, während Kunzes nur Lyrik und Nicht-abbildende Kunst, eben „Kunst“, nur heimlich reflektierendes Leben waren. Fehlte dir, bitte entschuldige die Provokation, da noch der „Mut“? Ich meine, Klartext in einer Diktatur ist Selbstmord, oder?

J.W.: Wahrhaftigkeit von Kunst ist in gewisser Weise immer Selbstmord; leider auch nach der Deutschen Einheit. Sobestehen seitens der Musikwelt, die sich einer angemessenen Aufarbeitung ihrer Verstrickung in die SED-Diktatur bisher weitestgehend entzieht, gegen Klartexte massive Barrieren. Die Unterscheidung, die du zwischen Reiner Kunze und Jürgen Fuchs triffst, wird beiden allerdings nicht gerecht. Ich sehe in Reiner Kunze, seitdem ich ihn 1971 das erste Mal erlebte, einen Dichter, der die Probleme der traurigen und spotthäßlichen SED-Diktatur mit einer unglaublich schön und zutreffend ausgeschliffenen assoziativen Metaphorik zu erfassen vermochte. Wir verstanden das damals unmittelbar. Fuchs dagegen gehört zur nächsten Schriftsteller-Generation. Er kam aus einem Umfeld, das – im Gegensatz zu Reiner Kunze oder meinen Eltern oder Kurt W. Streubel - die realsozialistischen Repressionserfahrungen der 50er und 60er Jahre nicht derart gemacht hatte. Ich sehe es so, dass er nach der Niederschlagung des Prager Frühlings hoffte, die Situation mittels Klartext quasi in Richtung eines Berliner Frühlings voranbringen zu können. Das war das verbindende Element zwischen uns. Klartext heißt aber nicht, nur zu sprechen und zu schreiben, sondern auch entsprechend zu leben. Darauf reagieren Diktaturen höchst aggressiv, wie man nicht nur an seinem Beispiel sehen kann. Und tatsächlich - ein Fuchs-Zyklus in der DDR wäre unaufführbar gewesen. Es auch nur zu versuchen, hätte unsinniges Märtyrertum bedeutet. Aber „Leben wollte ich“ (wie es in Satz 25 heißt) und deshalb zog ich pur und stellte gemeinsam mit meiner Frau (auch um in der DDR nicht lebendig beerdigt zu werden und zugleich einen persönlichen Beitrag zur Veränderung und zum Mauerfall zu leisten) einen kulturpolitisch begründeten DDR-Ausreiseantrag. Wir hatten uns entschlossen, anstatt unserer Wahrhaftigkeit unsere Hierbleib-Ideologie (wie ich es in meinem Buch Die Wende ging schief nannte) aufzugeben.

M.E.: Fuchs hat „Magdalena“ nach dem Mauerfall geschrieben – mit dem Ende der Diktatur war die Sache nicht einfach erledigt, sondern Dissidenten wie Fuchs und du schienen sich der Aufarbeitung verpflichtet gefühlt zu haben und das bis heute. Das stört die Friede-Freude- Eierkuchen-Stimmung ja fast genauso, wie eure Werke in der DDR von den entsprechenden Stellen als störend empfunden wurden. Empfunden in Anführungszeichen.

J.W.: Ja, das stimmt, wobei ich mich diesbezüglich nicht mit Jürgen Fuchs vergleichen will; ich stand in der „zweiten Reihe“. Wir sind am Leben und versuchen nun die Dinge weiterzuführen, für die Jürgen Fuchs und andere (auch z.B. meine Eltern) mit frühem Tod und schweren Krankheiten bezahlen mussten. Was die Aufarbeitung der SED-Diktatur – auch gerade im Bereich der Kultur – angeht, so stört sie zwangsläufig all jene, die den realsozialistischen Totalitarismus kleinreden und damit ihre SED-Parteinahme bzw. ihr realsozialistisches Mitläufertum vertuschen oder bemänteln wollen. Zumal es im Musikbereich seit der Wende bisher keinerlei angemessene Aufarbeitung gab, musste ich zunächst meine künstlerische Position stärken, um überhaupt eine Chance haben zu können, in dieser Sache gehört zu werden. Dass Walter Schmitz, Professor für Neuere deutsche Literatur- und Kulturgeschichte der TU Dresden, am Beginn des Symposiums beklagte, dass auch sein Fach „bisher beschämend wenig zu Jürgen Fuchs zu sagen hatte“ und dies einen „unerfreulichen Befund“ nannte, ist für die bestehende Situation nicht weniger bezeichnend als die Gedanken zu dieser Frage von Herta Müller am Anfang dieses Buches. Aber während bezüglich der SED-Verstrickung des Musikbereiches in der Musikwissenschaft seit dem Mauerfall – ähnlich wie nach dem Ende des Nationalsozialismus - Verschleierungsmethoden vorherrschen, gibt es im Bereich der Literatur immerhin einige wenige Professoren, die sich für das künstlerische Schaffen von Jürgen Fuchs interessieren und einsetzen.

M.E.: Was zeichnet die Texte von Jürgen Fuchs in künstlerischer Hinsicht aus?

J.W.: Lyrik und Prosa, Metaphorik und Klartext ergänzen sich bei Jürgen Fuchs auf ideale Weise - auch in Hinsicht darauf, dass Kunst um ihrer eigenen Wahrhaftigkeit willen durchlitten sein will wie ein Dokument (so Warlam Schalamow). In der Kunst bedarf Schönheit unbedingt der Wahrhaftigkeit; andernfalls wird sie unwesentlich und zur Nebensache. Fuchs´ “Magdalena” z.B. sah ich unter diesem Aspekt ab einem bestimmten Zeitpunkt sogar als ein Pendant zu Joyce´ “Ulysses”. In Erkenntnis meines eigenen Irrtums -

M.E.: Ästhetik und Dokumentaristik betreffend?

J.W.: auch die lyrischen und literarischen Qualitäten betreffend - störte es mich dann zunehmend, dass unter ”der großen Dringlichkeit der Verhaltensgrammatik, wie sie in seinen Büchern steht” (Herta Müller) die Qualitäten seines künstlerischen Schaffens in der öffentlichen Wahrnehmung so gut wie ausgeblendet blieben. Ich nahm mir daher vor, dem möglichst kraftvoll gegenzusteuern. Bei der Komposition meines Reiner-Kunze-Zyklus DER BLAUE VOGEL (2007/2008) platzte dann kompositionstechnisch „der Knoten” und ich entdeckte, dass sich Metaphorik und Klartext gegenseitig – ob nun musikalisch oder literarisch - auf hochinteressante Weise kombinieren lassen und ergänzen können, wenn denn (und das ist entscheidend!) beide in den großen Fragen ihren gemeinsamen Nenner haben. Ein eigentlich ganz einfacher Gedanke, doch hatte es gedauert, bis er gereift war. 

M.E.: Wie stellt sich denn konkret, beim Komponieren und beim Hören diese Konvergenz von Text (also dem Leben und Leiden, was in ihm steckt) und Musik dar?

J.W.: Beim Komponieren sind es gleichermaßen gedankliche wie handwerkliche Fragen. Das Problem für mich war – wie gesagt – sprachliche Klartexte zu vertonen, denn das hatte ich bis dahin so direkt nicht getan, wobei ich bereits 1984 in „Variante 1984“ zu Orwell da schon ziemlich nah dran war. Alles künstlerische Schaffen ist jedoch nicht nur eine Frage des Handwerks und der impliziten Gedanklichkeit, sondern immer auch eine Frage der eigenen Identität und Individualität. Zeitgeschichte ist davon nicht zu trennen. 

M.E.: Gut. Ich sehe aber auch, daß du dich persönlich in ganz ungewöhnlicher Weise einbringst. Wie schon bei anderen Werken, aber hier vielleicht noch mehr, spürt man dein persönliches Engagement. Für mich ist das ein beeindruckendes Merkmal von Authentizität.

J.W.: „Kunst ist der Notschrei jener, die an sich das Schicksal der Menschheit erleben. Die nicht mit ihm sich abfinden, sondern sich mit ihm auseinandersetzen“ - so Arnold Schönberg. Und Herta Müller schrieb: „Ich habe mir nie vorgenommen, zu schreiben. Ich habe damit angefangen, als ich mir nicht anders zu helfen wusste.“ Weil es mir ähnlich erging (und mir Musik ein Lebenselexier ist) habe ich diese beiden Texte in Satz 13 des Fuchs-Zyklus aufgenommen.Situationen - die authentisch nach Problemlösungen schreien – werfen letztlich auch ästhetische Fragestellungen neu auf. 

M.E.: Inwiefern?

J.W.: In einem Rundfunk-Interview zu meinem Kunze-Zyklus habe ich einiges zum „Schrei des Ichs“ - zum Schrei des Individuellen – gesagt. Vielleicht ist es auch ein „Schrei des Ichs“, dass ich es im Sinne der Freiheit von Kunst nun u.U. sogar für angezeigt halte, Metaphorik zugunsten von Klartext – der andernfalls unterbleiben würde – einzuschränken. 

M.E.: Ist nicht sogar eine beiläufige Metaphorik, also die Allgemeingültigkeit einer Beobachtung, eines Berichts, einer gewollten Metaphorik, die mir jetzt gar manipulativ erscheinen möchte, vorzuziehen?

J.W.: Möglicherweise kann genau dafür das Schaffen von Jürgen Fuchs stehen, der – wie Lilo Fuchs betont - “so sehr gern weiter Gedichte oder Theaterstücke” geschrieben hätte, aber aufgrund der schwierigen politischen Umstände in seinen letzten Lebensjahren über unverzichtbare Klartexte nicht mehr hinauskam. Diese allerdings sind bei Jürgen Fuchs (wie die Nobelpreisträgerin Herta Müller sowie namhafte Literaturwissenschaftler bezeugen - z.B. Wolfgang Emmerich oder Walter Schmitz) von hoher literarischer Qualität und wohl kaum beiläufig. Für mich war es ein Qualitätssprung und ein Geschenk, mit der Vereinbarkeit von Klartext und Metaphorik einen kompositorischen Schlüssel zum literarischen Schaffen von Jürgen Fuchs gefunden zu haben. 

M.E.: Da hat es „Klick“ gemacht...

J.W.: Es war eher wie ein Bogen, der sich mit allen Fasern über Jahre zunehmend auf das Treffen ins Schwarze gespannt hatte. Nachdem ich 1999-2010 einen glücklichen Kompositionsmarathon (zuletzt mit dem Konzert-Zyklus SOLO-UNIVERS) bewältigt hatte, war es dann endlich so weit. Noch im Dezember 2010 schrieb ich “leben” für Sopran, Bariton, Saxophonquartett und Füßestampfen nach einem Text aus “Magdalena” und sandte ihn zum 19. Dezember 2010 (dem 60. Geburtstag von Jürgen) in einer ersten Fassung an Lilo Fuchs. Dieser Satz (der spätere Satz 25), mit dem es um den Lebenswillen und die Liebe selbst geht, wurde zum Bezugspunkt und zum Finale des gesamten Zyklus´. Nachdem ich einige Zeit mit der Reflexion seines - geradezu seherischen Gedichtes - “die gelbe landschaft” zugebracht hatte, entschloss ich mich, Lilo Fuchs zu fragen, ob ich die treffend ausgewählte Inschrift seines Grabsteins ICH SCHWEIGE NICHT als Titel für den gesamten Zyklus nehmen dürfte. Sie stimmte zu. Ich war darüber erleichtert, denn diese drei Worte stehen nicht nur für das Leben und Werk von Jürgen Fuchs, sondern es wohnen ihnen gleichermaßen hohe Aktualität wie große Fragestellungen inne. 

M.E.: Mich interessiert es immer sehr, wie die Bewältigung der Herausforderungen, die auf einen Künstler durch seine Arbeit zukommen, geleistet werden. Ist das Plan und Strategie oder Musenkuß?

J.W.: Ich glaube, es ist Plan, Strategie und Mußenkuss (da habe ich wohl besonderes Glück), vor allem aber ein tief innerliches Streben, mit der eigenen Individualität, Intelligenz, Kreativität etwas zur rationalen-emotionalen (ich nenne es: integralen) Reflexion und Stabilisierung der großen Human-Fragen beizutragen. Jede meiner Kompositionen vollzieht diesbezüglich eine ganz eigene musikalische Gedanklichkeit. Was den Fuchs-Zyklus angeht, so dauerte die konkrete Entwicklung (auch der Text-Recherchen und der Textzusammenstellung) sowie die Komposition der 25 Sätze relativ lang, verlief in mehreren Etappen und war erst im Frühsommer 2014 abgeschlossen. Auch im Hinblick auf Arnold Schönbergs “Ein Überlebender aus Warschau” lag für mich in diesem Werk eine kompositorisch hochinteressante und gedanklich brisante Herausforderung, der sich – soweit mir bekannt - bisher kein Komponist so gestellt hat. 

M.E.: Komponieren ist neben dem Erfinden von Musik ja das Auffinden, Anpassen und Einfügen in das Gebilde eines Werks. Ich kann es mir nicht anders vorstellen, als daß du, vielleicht aus Leidensdruck, aus einer lebenslangen und nicht freiwillig begonnenen Sammlung von Erlebnissen und Erkenntnissen anderer Menschen, sprachmächtiger natürlich, zurückgreifen kannst.

J.W.: Ich glaube nicht, dass Komponieren aus Leidensdruck sich lohnen würde und ein Leben lang durchhaltbar wäre. Wenn keine Freude dabei ist, sollte man es besser bleiben lassen. In meinem Schaffen entstehen Kompositionen aus einer tiefinnerlichen Gestaltungs- und Empfindungsfreude. Ich höre quasi – ähnlich wie Pan im Grundmythos der Musik (s.u.) – auf die vom Wind (und Zufall) erzeugten Töne und knüpfe an ihnen an. Von daher ist Komponieren als Wechselspiel zwischen Teil und Ganzem - top down, bottom up, between - ein hochspannender gegenseitiger Aufschaukelungsprozess der systematischen Anordnung und Zusammenhangsbildung von Gedanken, Tönen, Klängen, Rhythmen, Dauern, Farben, Geräuschen. Was Erkenntnisse sowie die Gedanken-, Bild- und Sprachmächtigkeit anderer Künstler/Denker angeht, so entstehen mit Ihnen willkommene Synergien. Daher werden in dem Zyklus über die Gedichte und Texte von Jürgen Fuchs hinaus große Fragen angesprochen und quasi Brücken in die Zukunft gebaut, deren Gedanken von der Aufklärung bis zur Moderne, von Friedrich Schiller bis zu John Cage, von Rosa Luxemburg über Dietrich Bonhoeffer, Hannah Arendt, Martin Luther King, R. Buckminster Fuller, Alexander Solschenizyn, Andrej Sacharow, Vaclav Havel, Herta Müller, Jafar Panahi, Ai Wei Wei oder Nadeshda Tolokonnikowa (Pussy Riot) bis hin zu den Whistleblowern Julian Assange und Edward Snowden reichen und eine große geistig-kulturelle Linie sowie einesystemübergreifende weltweite Problematik verdeutlichen. Der Brücke-Gedanke (der musikalisch in Satz 2 konstituiert und im Verlauf der anderen Sätze fortgeführt wird) geht übrigens auf Manès Sperber zurück.

M.E.: Wie soll das Publikum nur diese Fülle von Zusammenhängen aufnehmen, verarbeiten. Mir ist allerdings klar, daß da eine durchgehende Bitterkeit herrscht, die man wohl wahrnehmen kann. Aber trotzdem – ein Wort zu Dramaturgie, bitte!

J.W.: Bitterkeit? Der große Vorzug von guter (wahrhafter) Kunst ist, dass sich die in ihr enthaltenen ästhetischen Informationen sowohl rational als auch emotional erschließen lassen. Es ist daher keineswegs notwendig, dass das Publikum die Fülle der Zusammenhänge rational aufnimmt. Diese sehe ich eher als die strukturelle und energetische Basis eines Kunstwerkes, das sich eben auch rein emotional vermitteln kann. Hörer, die sich näher interessieren, haben allerdings die Möglichkeit, auch rational eine ganze Reihe von Entdeckungen zu machen. Dass ästhetische “Informationsübertragung” integral gut funktionieren kann, beweisen bezüglich des Fuchs-Zyklus die interessanten Interviews, die in verschiedenen Städten nach den Aufführungen des Werkes per Video aufgenommen wurden und nun im Internet zu finden sind. Von Bitterkeit war da seitens der Hörer*innen ebenfalls keine Rede. Und auch mir selbst geht es mit diesem Werk keineswegs um Bitterkeit, sondern um eine konkrete Berührung und Reflexion der großen Humanfragen, die sich angesichts der modernen Totalitarismen stellen ... Was “Dramaturgie” angeht, so ist diese bei mir eher gedanklicher und strukturell-energetischer Natur. Entsprechend auch die Klammer des Gesamtwerkes: Das leise innerliche Summen des Publikums (jeder auf seiner beliebigen Tonhöhe), das der Dirigent in den Sätzen 1 und 24/25 - ggf. auch in Satz 13 - per Handzeichen durch den jeweiligen Aufführungsraum changieren lassen soll. 

M.E.: Vielleicht ist Dramaturgie nicht der richtige Begriff, weil Dramaturgie allzusehr über die Anpassung an Erwartungshaltungen funktioniert, also auch irgendwie manipulativ ist. Du hast viel von Metaphorik gesprochen. Gibt es in der Musik selbst eine Metaphorik?

J.W.: Musikalische Gedankenführung kommt meines Erachtens kaum wirklich ohne Metaphorik aus. Wenn sie ganz nah am “Stoff” (am konkreten Wechselspiel zwischen der jeweiligen Idee und dem jeweiligen musikalischen Material ist) kann Metaphorik die Ausformulierung musikalischer Gedanken gleichermaßen gewährleisten wie synergetisch vertiefen. Von Kurt W. Streubel habe ich u.a. folgenden Rat beherzigt: Nicht darstellen, sondern vollziehen. D.h. für mich als Komponisten, dass die jeweiligen musikalischen Gedanken nur insofern als solche tragen, wie sie sich in der Komposition musikalischer Strukturen und Energien vollziehen. Von Streubel habe ich auch gelernt, dass Abstraktion und Konkretion für die Zusammenhangsbildung von höchster Bedeutung sind.

M.E.: Kannst du ein Beispiel geben?

J.W.: Was den Fuchs-Zyklus angeht, so schlagen die vogelrufartigen Motive der Saxophone/ Klarinetten in Satz 1 einen Bogen zu Satz 13 - dem auf Zukunft orientierten philosophischen Zentrum des Werkes „vergiss nicht, dass du flügel hast“ - bis hin zu Satz 23 “als taube sehr weiß”. Satz 13 ist der zentrale Satz. Er beruht auf dem Gedanken, dass das Leben ein großes Selbstorganisationssystem ist, an dem wir alle mehr oder minder stark mitwirken. Konkret basiert Satz 13 kompositorisch auf einem musikalischen Selbstorganisationssystem; ich schrieb es bereits 1986 (nachdem wir unseren DDR-Ausreiseantrag gestellt hatten). Es heißt „gleich den vögeln“ ­- und Vögel betrachte ich als Sinnbilder und Boten der Freiheit. Die vier Saxaphonisten/ Klarinettisten haben in diesem Stück die Aufgabe, anhand des musikalischen Materials (für das sie unterschiedliche Verantwortlichkeiten übernehmen) ein Ganzes zu bilden, das mehr als die Summe seiner Teile ist. Das ist musikalisch leichter gesagt als getan. Textlich sind dem Satz 13 - neben Friedrich Schillers „denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit“ - Zitate von verfolgten Künstlern aus aller Welt sowie den Komponisten Arnold Schönberg, Olivier Messiaen, John Cage und aus meiner Schrift „INTEGRALE MODERNE – Vision und Philosophie der Zukunft” beigegeben. Diese Texte erklingen jedoch nicht (werden auch nicht vorgelesen), sondern können zum Stück von jedem Hörer selbst gelesen und reflektiert werden.

M.E.: Also du verlangst explizit eine aktive Erschließung des Stoffs und des Hintergrunds.

J.W.: Nein, verlange ich nicht; es bleibt jedem selbst überlassen, ob er sie liest oder nicht; sie bilden “lediglich” den geistigen Hintergrund von Satz 13. Bei Interesse kann dieser näher befragt und reflektiert werden, muss es aber nicht. Musikalisch ist Satz 13 eher leicht und von einer großen Freiheit durchweht, vollzieht in sich Selbstorganisation und musikalisch verantwortlichen Gestaltungswillen.

M.E.: Selbstorganisation und Gestaltungswille bilden ja ein interessantes Gegensatzpaar – musikalisch, aber auch politisch! Und in beidem ist Selbstorganisation ein Risiko, aber der Gestaltungswille hängt davon ab, ob er gut- oder böswillig ist. Aber hier geht es um das Ideal eines richtigen Lebens, stimmts? Und auch dein Komponieren selbst wird zu dessen Metapher.

J.W.: Während es mit Satz 25 (dem Finale) um den Lebenswillen und die Liebe selbst geht, geht es mit Satz 1 und dem Fuchs-Gedicht “PAPIER – asyl aller worte” um einen Gestaltungswillen, der in sich Vergangenheit (“Papier, Asyl aller Worte”), Gegenwart (“lass dich beschreiben von meiner Feder”) und Zukunft (“zur Rettung”) vereint. Und um die Metapher Tinte – das blaue Blut, das zur Rettung (dieses Wort erklingt wie Papier im Vogelruf-Modus) gespendet wird. Rettung sehe ich u.a. darin, das Totalitäre zu dokumentieren, um es für die Zukunft zu vermeiden - was für das richtigeLeben im falschen stehen kann.

Darüber hinaus möchte ich auf drei metaphorische Details von Satz 1 aufmerksam machen, die für das gesamte Werk von Bedeutung sind. Zunächst, dass dem gesummten Klang des Publikums die Windmaschine beigegeben ist. Darüber hinaus ist bereits in Satz 1 eine Zwölfton-Reihe zu hören, die im gesamten Werk immer wieder auftaucht - als Sinnbild für das sensibel und differenziert zu gestaltende Ganze, damit es nicht zu einem Kaputten wird. 

M.E.: Einerseits wird das Publikum durch das Summen eingebunden in die musikalischen, oder vielleicht mehr in die seelischen Vorgänge – es wird eigentlich zum Konsens verpflichtet, aber andererseits ist die Musik durchaus komplex, was ja auch ihre Qualität ist, komplex, und sensibel zu sein – aber sie wiederum verweist den Hörer aufs Rezipieren. Ich will diese Bemerkung gar nicht als Kritik verstanden wissen, aber ich habe es im Konzert so empfunden, daß das Summen uns Hörer zu Statisten macht. Aber die Hörer sind gut, wenns um Hören, nicht, wenns ums Singen geht. Was erwiderst du darauf?

J.W.: Für mich stellte sich mit dem Fuchs-Zyklus und angesichts der mit ihm verbundenen Totalitarismus- und Moderne-Problematik die Frage, ob und wie sich – auch über Satz 13 hinaus - Teilhabe und Mitverantwortung wenigstens ansatzweise musikalisch vollziehen lassen (ich hatte dazu bereits in den 70ern z.B. mit “Ampelspiel” für Publikum experimentiert). Dein Hinweis auf “seelische Vorgänge” trifft es, denn ich sehe “Seele” als ein Schwingungsfeld - individuell-soziell-universell. Im Fuchs-Zyklus nun dazu quasi eine der einfachsten Varianten: Die Anwesenden waren gebeten, leise(!) in sich hineinzusummen. Dieses In-sich-Heneinsummen betrachte ich als etwas sehr Positives, das negative Einflüsse in gewisser Weise zu neutralisieren vermag (ich habe das von meiner Frau gelernt). Keiner war jedoch gezwungen, mitzusummen. Anstatt an Statisten hatte ich klanglich an Teilhabe gedacht und empfand es geradezu berührend, wie viele Hörer ihren individuellen leisen Summton anstimmten und welch hochsensible Schwingungsfelder daraus resultierten. So war klanglich eine Öse hin zu dem Grundverständnis gelegt: Wir alle sind Mitgestalter – und sei es noch so minimal. Bei den unterschiedlichen Aufführungen kam mir das Summen übrigens viel zu knapp weg; ich hatte kompositorisch an längere Summ-Phasen und schöneres räumliches Wechselspiel der unterschiedlichen Summ-Klangfelder gedacht. Aber so war nun mal die Interpretation (auch angesichts der Länge des Stückes). Wenn Du Dich bei diesem Summen als Statisten empfunden hast, dann ist mir das höchst unangenehm. 

M.E.: Ich fragte mich bloß, ob dir die Wirkung eines solchen Mitmachens auf die Hörer bewußt war. Jetzt verstehe ich zwar, was es bezweckt, aber ich glaube, wer nicht vollkommen vertraut mit dem Werk und deinen Intentionen ist, kann es mißverstehen. Aber ich habe dich unterbrochen. Bitte fahr fort mit der Analyse.

J.W.: Gegen Mißverständnisse gibt es wohl kaum Schutz. Auch würde ich von Zweck in diesem Zusammenhang lieber nicht sprechen wollen, eher von Sinn und Zusammenhangsbildung. Zudem hoffe ich, dass die Mitsummer ihr innerliches Summen selbst als Teilhabe empfanden. Da das räumliche Wechselspiel dieses Summens mit dem Anreißen der Röhrenglocken verbunden ist, sei auf ein weiteres Detail hingewiesen: Bereits in Satz 1 werden die Röhrenglocken mit einem Schilfrohrbündel in Schwingung versetzt. Das Schilfrohrbündel bezieht sich auf einen Grundmythos der Musik: Als Pan die Syrinx verfolgt und nach ihr greift, fleht diese die Nymphen an, sie in Schilfrohr zu verwandeln. So hält Pan statt der Person seiner Liebe und seines Sehnens lediglich Schilf in Händen (so heißt übrigens eine andere meiner Kompositionen). Doch der Wind streift über das Schilf und erzeugt leise Töne. Pan hört diese und wird davon ergriffen. Er bricht nun das Schilfrohr, stuft es fein ab und erzeugt auf der so entstandenen ersten Schilfrohrflöte gleich dem Wind, doch mit dem lebendigen Atem der Liebe, nun selbst leise Töne. Im Kontrast zu den alten Kultinstrumenten, zu "Geräuschen dumpfer, brüllender, rasselnder Art" (Heinz-Klaus Metzger), bringt Pan somit eine wohlgeordnete Tonreihe hervor. Dass Pan so sensibel und intelligent ist, die vom Wind erzeugten Töne zu hören und zugleich zu erkennen, dass er sie fein abstufen und ordnen kann, ist ein eminenter Vorgang und eine sehr schöne Metapher für Gestaltungsfähigkeit und Gestaltungswillen. Zumal Glocken von alters her (z.B. in der altchinesischen Kultur) zum Klingen gebracht wurden, um Unheil abzuwenden und die Partitur verlangt, die Röhrenglocken mit dem Schilfrohrbündel in Schwingung zu versetzen, treten in Satz 1 zwei Metaphern zueinander in Beziehung: Gestaltungswillen und Unheil abwenden.

M.E.: Und der Wind - das mitfühlende Publikum? Verwandelt sich das Summen des Publikums, welches den Wind darstellt, zu einer gemeinschaftlichen Gestalt, als deren Ausdruck die Glocken ertönen?

J.W.: Windgeräusche stehen in diesem Werk für den “Wind der Veränderung”. (“Nach der Superstringtheorie bringt der Wind der Veränderung das ganze Universum wie eine riesige Äolsharfe zum Klingen“ - so sagt es der Astrophysiker Brian Greene.) Zwar ertönt in Satz 1 die Windmaschine gleichzeitig zum Summen des Publikums, ist akustisch aber eine relativ starke äußere Kraft. Ich würde sie daher nicht mit dem innerlichen Summen der einzelnen Individuen des Publikums gleichsetzen wollen. Vielmehr treffen hier innerliche und äußerliche Kräfte aufeinander. Das Anreißen der Röhrenglocken mit dem Schilfrohrbündel sehe ich als Inspirationsmoment für den Gestaltungswillen, Unheil bewusst abzuwenden. Denn dass ein gemeinsames Schwingungsfeld tatsächlich auch nach hinten losgehen kann, wissen wir aus der Totalitarismus-Geschichte von Nationalsozialismus und Realsozialismus.

M.E.: Du bist ja ein Pfarrerssohn und in deinem Werk haben Glocken bereits eine große Zuwendung erfahren, im Glockenrequiem.

J.W.: Neben ihren klanglich hochinteressanten Ober- und Untertonspektren sehe ich sie durchaus auch kritisch. Denn Glocken waren eine Materialreserve und wurden in Kriegen immer wieder abgehängt und zu Kanonen und Bomben umgegossen. Vom Hamburger Glockenfriedhof während des 2. Weltkrieges gibt es davon beeindruckende Fotos. Dies ist bezeichnend für die Ambivalenz der christlichen Kultur, in deren Folge - von den Kreuzzügen, über die Inquisition, die Kolonialisierung bis hin zum GULAG-System und zu Auschwitz - enormes Unheil entstand.

M.E.: Die Bedeutung, die du den Dingen in deinem Komponieren gibst – also ich meine, in diesem alles zusammenfließen lassenden Prozeß – erscheint nach all diesen Erklärungen als sehr intimes künstlerisches Verhalten - ist das ein Vorbild zur Bewältigung?

J.W.: Anstelle einer Vorbild-Funktion interessiert mich konzise kompositorische Arbeit. Auch mit dem Jürgen-Fuchs-Zyklus geht es mir um musikalische Sinn- und Zusammenhangsbildung … Da wahrhafter Gestaltungswille an den Realitäten nicht vorbeikommt, folgt auf Satz 1 unmittelbar der Abgrund- und Brücke-Gedanke von Satz 2, der u.a. das “ständige Abwehren einer sehr verschiedenartigen und vieldeutigen Korruption” thematisiert. Musikalisch basiert Satz 2 einerseits auf Wind-, Zisch- und Atemgeräuschen, andererseits auf Klängen, die in feinsinnigen Schwingungsfeldern ebenso wie in rhythmischen Schichtungen, in klanglichen Brückenpfeilern ebenso wie in großen tragenden Klangverschiebungen hörbar werden und hin bis zu einer – fast mystisch klingenden – Gong-Zwölftönigkeit reichen. Satz 2 endet zum hellen Klang der Triangel mit den Worten: “Identität halten, den Lebenszusammenhang halten!”... Danach Satz 3, in dem erstmals ein Text der Anderen auftritt, in diesem Fall von Rosa Luxemburg. Ihr Text unterstreicht die Notwendigkeit von Freiheit als Freiheit der Andersdenkenden und ist jener Gedanke, der die DDR-Opposition einte und das SED-Regime mit seinen eigenen Mitteln schlug. 

M.E.: Das muß ja als eine unglaublich peinliche Entlarvung der Verlogenheit des Regimes gewirkt haben. Eigentlich kann darauf doch nur mit Brutalität geantwortet werden, weil es argumentativ schachmatt gesetzt wurde. Aber wie dein Stück nun weitergeht, so still, deute ich als Darstellung von “Aushalten”.

J.W.: Das Regime reagierte darauf mit aller Härte, z.B. anlässlich der Rosa-Luxemburg-Demo im Januar 1988, bei der es zahlreiche Verhaftungen gab, u.a. von Freya Klier und Stephan Krawczyk, die dann gegen ihren Willen in den Westen abgeschoben wurden. Der Agentenvorwurf gegen sie bediente sich übrigens eines Vokabulars, dass dem von 1953 gegen meinen Vater zum Verwechseln ähnlich war. Auch wir selbst standen damals in allerhöchster Bedrängnis … Wieso aber kommst du auf “Aushalten”? Im Gegenteil. Auf Satz 2 folgt mit den Sätzen 3 und 4 eine Vertiefung und Differenzierung des Freiheitsverlangens. 

M.E.: Von der gewalttätigen Reaktion direkt darauf wußte ich nichts. Mit „Aushalten“ meinte ich, eine Erkenntnis zu haben und nichts zu tun. Das wirkte ja offenbar provozierend. Ich erinnere mich an Heiner Müller, der in den ersten Jahren nach dem Mauerfall manchmal bei politischen Talkshows auftrat, wo er reaktionäre und verständnislose Teilnehmer der Runde ausreden und sich im Labyrinth ihrer Irrtümer verlaufen ließ, statt sie zu unterbrechen. Er ließ sie all die schlimmen Dinge sagen, hielt das eben aus und schuf so Erkenntnis. Er ließ alles im Raum stehen und atmete dazu. Das Summen des Publikums, die stille Musik, die im Raum verteilt ist, kommt mir jetzt wie ein dissidentes Aushalten, Ertragen vor. Du machst Musik daraus, Raum-Musik.

J.W.: Zu Heiner Müller – obwohl auch ich ihn geschätzt habe - möchte ich mich in diesem Kontext lieber nicht äußern. Aber Du hast Recht, das Summen in diesem Werk kann quasi als “dissidente“ Brücke gedeutet werden, die sich über einen Raum (und Abgrund) spannt. Die Summ-Pfeiler dieser Brücke erklingen in den Sätzen 1 und 24/25; ad libitum auch in Satz 13. 

M.E.: Aber zurück zu Satz 3!

J.W.: Satz 3 beruht auf Blas- und Windgeräuschen, die nun nicht mehr von der Windmaschine aus dem Zentrum ertönen, sondern von den Saxophonisten erzeugt kreisförmig um das Publikum herum von Musikerposition zu Musikerposition verlaufen. Hinzu tritt ein leise schwingender Klang, der auch in weiteren Brücke-Sätzen mit Texten der Anderen (Sätze 8, 10, 12, 22, 24) eine Rolle spielt. In Satz 3 kommt zudem erstmals ein weiteres nicht unwichtiges Detail zum Tragen: Während die Gedichte und Texte von Jürgen Fuchs konkret komponiert sind und gesungen, gesprochen, geraunt, geflüstert werden, werden alle sonstigen Zitate lediglich gelesen, vorgelesen oder still eingeblendet ... Mit Satz 4 (“atmen”), der sich auf gleichermaßen moderne wie natürlich-choralische Art entfaltet, wird der Freiheits-Gedanke von Satz 3 sozusagen in lebendiger Form vollzogen. Die Klangschönheit dieses Satzes macht vielleicht eine fast sakrale Perspektive zu dem hörbar, was freies Atmen bedeutet. Dabei entsteht ein großer Kontrast zu den beiden Stellen, in denen das Atmen quasi stoppt und das Fuchs-Gedicht mit folgenden Worten zu hören ist: “Hinter klein- und großkarierte / Gitter / Bringe ich meine Worte / Nicht / Sie müssen doch / Atmen”.

M.E.: So treibst du den Aufruhr der Seelen mit Leisheit auf die Spitze. Das ist extrem schmerzlich. Ich beginne zu verstehen, und das heißt auch, zu bewundern, wie es dir gelingt, die Dramaturgie der Zersetzung und des Widerstands im Leiden in Musik zu gießen. Aber daß das nicht nur ein beeindruckendes Konstrukt ist, sondern geschichtliche Realität reflektiert, wird ja durch die Fotoprojektionen, die Szenen aus dem Leben der DDR zeigen - “Lebenswirklichkeit”, die für mich als Westler ungemein befremdend wirkten, nachgewiesen. Übrigens, ich hörte eine Ostberliner Journalistin sagen, “es war doch nicht alles schlecht damals, es war auch schön”. Aber ich fand die Bilder teils ziemlich gruselig und – beengend. Die Bilder waren der Nachweis.

J.W.: Ich dachte bisher nicht, dass Satz 4 gruselig und schmerzlich ist; im Gegenteil. Ich meine, in ihm Schönheit, Freiheitsverlangen, Widerstandsbewusstsein verbunden zu haben. Das siehst Du anders?

M.E.: Nein, nicht die Musik, sondern die Fotos. Übrigens ist es durchaus gefährlich, Musikaufführungen mit visuellen Zutaten zu garnieren, da das Visuelle gegenüber dem Auditiven dominant ist. Diese Bilder aber nahm ich als „leise“ wahr, wie Erinnerungen, die mir beim Hören in den Kopf kommen können.

J.W.: An Fotoprojektionen von Harald Hauswald werden an den beiden Stellen, an denen in Satz 4 das Atmen stoppt, die drei Mächte gezeigt: Staat (Rathaus), Medien (Fernsehturm) und Kirche ... Mit dem anschließenden Satz 5 “auschwitz der seelen” (einer hochumstrittenen Formulierung von Jürgen Fuchs) erfolgt dann der Absturz in die Realität. Ich habe damit versucht, dem Horror der Stasi-Zersetzung, dem psychischen/seelischen “Golgatha der Individuen” (wie es Hegel am Ende seiner “Phänomenologie des Geistes” nannte) Ausdruck zu verleihen. 

M.E.: „auschwitz der seelen“ - solche Titel sind umwerfend, weil man sofort versteht, was gemeint ist und gegeißelt wird. Solche Worte wirken befreiend wie Rache und sind doch friedlich. Aber ich bemerke, daß du dem offenbar originalen Stasi-Text nicht die Ehre antust, in Gesang veredelt zu werden. Es ist aber dennoch musikalisch...

J.W.: In Satz 5 wandte ich erstmals ein quasi-ironisches Klartext-Vertonungsprinzip an, mit dem zu kleiner/großer Trommel (Schönberg setzt diese in “Ein Überlebender aus Warschau” ein, wenn er den Offizier auf berlinisch/deutsch schreien lässt) Stasi-Dienstanweisungen zu hören sind, die vom Bariton vorgesprochen und von den Musikern persiflagenhaft einzeln bzw. chorisch nachgesprochen werden. Zeitgleich erklingen klagend-melodiöse Sopran-Vokalisen, bis der Satz mit “ich kämpfte um mein Leben, meine eigene Person, um mein Gesicht, meine Seele” auf Klängen und Rhythmen zum Wort “Seele” endet, begleitet von Röhrenglocken.

Wie das mit Satz 3 eingeführte Kompositionsprinzip der Texte der Anderen (Sätze 8, 10, 12, 22, 24) wiederholt variiert wird, so wird auch das mit Satz 5 eingeführte Kompositionsprinzip der Stasi- und Lager-Texte in den Sätzen 11, 17 und 20 wiederholt variiert. 

M.E.: Kannst du noch ein paar Hinweise zum sonstigen Aufbau der Komposition geben?

J.W.: Vielleicht sind noch folgende Punkte interessant: Um das Zentrum herum gruppieren sich Klartext und Lyrik. Mit Satz 12 die Klartexte von Edward Snowden und Julian Assange, die alles aktualisieren und zu denen das Hauswald-Foto “Reparaturen sämtlicher Systeme” gezeigt wird. Mit Satz 14 das Fuchs-Gedicht “ich leuchte”, zu dem zwei Hauswald-Fotos zu sehen sind, aus denen eine unglaublich schöne Generationenverbundenheit leuchtet. Mit Satz 20 “lager” wird der weit über 100 Millionen Toten gedacht, die im realsozialistischen Lager umkamen. Das ist genügend Grund, um darauf Satz 21 “ich schweige nicht” folgen zu lassen, den ich als neue Fuge konzipiert habe und der mit den Worten endet: “denn Zukunft lässt sich nur so gut gestalten, wie Vergangeneheit aufgearbeitet ist”. Mit Satz 21 beginnt der Lösungsvorschlag, der mit den Sätzen 22 “entsklavung”, 23 “als taube sehr weiß”, 24 “wie eine zweite geburt” sowohl klartextlich als auch lyrisch vertieft wird und auf Satz 25 - den eigentlichen Anspruch des Werkes - “leben” hinausläuft. Es gäbe noch eine Menge zu den kompositorischen Linien sowie zu den theologischen und politischen Implikationen zu sagen. Aber das würde zu weit führen.

M.E.: Ja, denn ich möchte noch zur Aufführungsform kommen. In der Aufführung in der Berliner Gethsemane-Kirche waren die vier Saxofonisten/Klarinettisten ringsum auf den Emporen plaziert; die Sängerin hinten im Raum, der Sänger, das Schlagwerk, sowie die Projektionsleinwand für die Fotoprojektionen vorn vor dem Altar. Es ist ein wenig mehr Visuelles dabei als in deinen anderen Musik-im-Raum-Werken. Ich hatte aber den Eindruck, daß das wichtigste szenische Element nicht visuell, sondern die nachhallende Akustik dieser Kirche war.

J.W.: Die nachhallende Akustik der Berliner Gethsemane-Kirche spielte bei der Komposition keinerlei Rolle. Ich hatte zunächst – wie beim Reiner-Kunz-Zyklus gelungen - an eine Uraufführung im KMS der Berliner Philharminie gedacht. Die Uraufführung in der Gethsemane-Kirche ergab sich aus glücklichen Konstellationen. Die weiteren Aufführungen dieses Zyklus funktionierten ohne stark nachhallende Akustik sehr gut: Im Auditorium der Universität Jena (mit MDR-Aufnahme), in der Alten Börse Leipzig, im Auditorium der Hafencity-Universität Hamburg, in der Dreikönigskirche Dresden und der Französischen Kirche Bern. Es ist jedoch richtig, dass sich manche meiner Klang-Konstruktionen innachhallenden Akustiken besonders gut entfalten; ein willkommener Nebeneffekt.

M.E.: Die lange Dauer des Werks und der Eindruck einer großen klanglichen und stilistischen Einheitlichkeit ermöglichen ein tiefes Eintauchen in seine Welt. Tempo, Gesangsgestus, instrumentale Musik, und ein Text, der das Wort, welches nicht nur Macht und Gewalt repräsentiert, immer gegen das Singen und den Klang als den inneren Widerhall stellt, all das schafft einen erzählerischen Raum. – Ist das deine Intention gewesen, oder hat es sich einfach so ergeben, aus der Natur der Sache heraus?

J.W.: Vieles ist gleichermaßen Intention wie es sich auch unmittelbar “aus der Natur der Sache” heraus ergab. An einen “erzählerischen Raum” hatte ich allerdings nicht gedacht, sehr wohl aber an eine Symbiose von Metaphorik und Klartext. Wenn sich damit “ein erzählerischer Raum” eröffnet, so ist mir das durchaus willkommen. Dass sich der Text immer gegen das Singen und den Klang als den inneren Widerhall stellt, kann ich jedoch nicht nachvollziehen. Denn oft gehen Musik und Klang in diesem Werk mit dem Text, tragen und vertiefen ihn – so z.B. in Satz 4 (atmen), Satz 6 (die töne), Satz 7 (sprache) oder auch Satz 21 (ich schweige nicht), 23 (als taube sehr weiß), Satz 25 (leben). 

M.E.: Ich habe die Aufführung mehr als Ritual denn als “Musiktheater” empfunden. Musiktheater ist heute ein so weiter Begriff, daß ich mir nicht völlig verbieten kann, zu versuchen, ihn an deinem Werk zu erproben – aber mit großer Vorsicht nur und sehr skeptisch. Trotzdem möchte ich deine Meinung dazu hören.

J.W.: Ein Zuhörer/Zuschauer der Hamburger Aufführung sagte: “Für mich war das wie ein Laboratorium und ich war mittendrin. Dadurch dass man versetzt saß und sich immer wieder unterschiedlich wohin setzen konnte, fand ich das sehr eindrucksvoll”. Dass du im Gegensatz dazu die Berliner Uraufführung mehr als Ritual empfunden hast, bildet einen interessanten Gegenpool. In der umfangreichen Anlage der Komposition hatte ich eine Bühnenfassung des Werkes (z.B. mit Tanz oder Pantomime) quasi von vornherein mitgedacht. Nach den bisherigen Aufführungen ist zu konstatieren, dass tatsächlich viele Möglichkeiten bestehen, sich diesem Werk zu nähern, es zu interpretieren und “in Szene zu setzen”. Foto-Projektionen sind ebenso wenig ausgeschlossen wie Tanz und Pantomime oder Filme und Installationsobjekte - wie mit den Interpretationen von Studenten der HCU Hamburg geschehen. Hinsichtlich einer musiktheatralischen Tanz- und Pantomime-Interpretation boten wir den Fuchs-Zyklus übrigens Sasha Waltz und ihrer Tanzkompanie zur Kooperation an. Doch kam von da – auch nach ein paar nachfragenden Telefonaten unsererseits – leider keine Gegenliebe. Aber ich denke, damit ist für eine Musiktheater-Interpretation des Werkes vielleicht noch nicht aller Tage Abend.

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