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RIVOLTO für Vl., Fl., Fg., Klav. (1983)

Dauer: 28 Min. | UA: Berlin (Theater im Palast), 11.11. 1983, gruppe neue musik weimar | Rundfunkaufnahme: Ensemble Kontrapunkte Wien, Radio DDR 1985 | Aufführungsmaterial vorhanden

zu „rivolto“ - Ausschnitt aus Wallmanns „Die Wende ging schief“, S. 139-140:

„Der 10. November 1983 war der Höhepunkt der Feierlichkeiten zu Martin Luthers 500. Geburtstag, der in der DDR mit großem Pomp begangen wurde und bei dem Susanne als Dolmetscherin eingesetzt war. Am Tag darauf fand im TiP (1) mit meiner Weimarer Gruppe die Uraufführung meines »rivolto« statt. Mit »rivolto« (Titel und Musik waren durchaus auch politisch gemeint) setzte ich einen kleinen symbolischen Sprengsatz in den Palast der Republik, und es war mir weitgehend klar, dass dies nicht ganz ohne Folgen bleiben konnte. Für mich war es jedoch eine Gretchenfrage, an diesem Ort nicht einzuknicken. Auf dem Programm standen ein Streichquartett von Hans-Peter Jannoch, eine Komposition für Streichquartett und Klavier von Thomas Böttger sowie eben mein »rivolto« für Flöte, Violine, Fagott und Klavier. Die Stücke wurde zweimal aufgeführt, dazwischen fand ein Werkstattgespräch mit den Komponisten statt, das von Frank Schneider geleitet wurde. Im Vorfeld des Auftrages hatte meine Musik in dem Ruf gestanden, modern zu sein, aber trotzdem gut zu klingen. Mit »rivolto« verfuhr ich nun aber genau umgekehrt: die Intervalle, aus denen ich sonst die Klänge komponierte, füllte ich diesmal chromatisch auf und ließ sie auf dem Klavier quasi mit der Handkante schlagen. »rivolto« heißt Umkehrung, und Umkehrung ist das Gesamtprinzip des Stückes bis in kompositorische Details. Doch thematisiere ich mit dieser Komposition nicht nur das Prinzip der Umkehrung, sondern auch das dionysische Prinzip, mit dem in heftigen irregulären Rhythmen die Fetzen fliegen. Im Gegensatz etwa zu meinen Kompositionen »moderabel«, »Synopsis« oder »mit acht tönen« (in denen das apollinische Prinzip dominiert) ist »rivolto« eine Komposition, die von soziellen und individuellen Faktoren dominiert ist; ein Stück, das trotz seiner strengen Strukturen durchaus unter »Ausdruckshandeln« (ein Begriff, mit dem der Philosoph Johannes Heinrich Kunst zu definieren sucht) eingeordnet werden könnte.

Als ich kurz vor dem Konzert das kleine Programmheft aufschlug, las ich, dass sich Friedrich Goldmann dazu hergegeben hatte, einen Text über mich zu verfassen, der als ein Verriss meiner kompositorischen Arbeit interpretiert werden konnte.

Peter Jannoch nannte es »lieblos«; ich war schockiert, versuchte aber, es wegzustecken. Das Publikum dieses gut besuchten Konzertes nahm die Uraufführung von »rivolto« jedoch überraschend gut auf. Ich glaubte ein gewisses Einverständnis mit meinem kritischen Ansatz sowie eine entsprechende Unterstützung zu spüren. Die musikalische Leitung des TiP und die SED-Genossen dagegen werteten »rivolto« als Skandal und Provokation. Und so war es von mir angesichts des maroden SED-Systems durchaus auch gedacht. Während der kontroversen Diskussion schrie der Musik-Chefdramaturg aggressiv in die Diskussion: »Wallmann, Sie sind ein Revoluzzer, wir kennen Sie!« Mit Frank Schneider, der die Diskussion leitete, kam ich von diesem Abend an nicht mehr zurecht. Die beiden anderen Komponisten sollten im Gespräch offenbar gegen mich ausgespielt werden. Ich war auf hundert, verspürte keinerlei Ambitionen, mich anzudienen und war bereit, in Kauf zu nehmen, dass dieses Konzert mein letztes im TiP sein würde. Die psychischen Belastungen dieses Abends waren für mich jedoch extrem, so dass mir die zweite Aufführung von »rivolto«, in der ich selbst den Fagottpart übernommen hatte, nicht in der hohen Qualität gelang, die ich von mir selbst erwartete. So traf ich nach diesem Konzert die Entscheidung, Fagott nicht mehr öffentlich zu spielen.

Anderthalb Jahre später schrieb mir der Komponist Helmut Zapf über seine Komposition »Contra-Punkte«, dass diese durch mein »rivolto« angeregt worden sei. Wie er mir später erzählte, habe ihn »rivolto« dazu geführt, seine gesamte Kom- positionsmethode umzustellen. 1989 setzte er nach und schrieb anlässlich der 200- Jahr-Feier der Französischen Revolution auch selbst ein Stück namens »rivolto«, das am 20.4.1990 uraufgeführt wurde. Die »Revolution« hatte um sich gegriffen.“

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(1) TiP - Theater im Berliner "Palast der Republik"
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"Was mich (ein „Niemand“?) angeht, so kommt in der - von Frank Schneider beeinflussten - Weimarer2) DDR-Musikforschung und ihrer Publikationsreihe "KlangZeiten - Musik, Politik und Gesellschaft"3) weder mein Name noch die "gruppe neue musik weimar" vor, die - wie Du weißt - 1975-85 von mir initiiert/geleitet wurde, oder mein Wuppertaler KLANGZEIT-Projekt, an dessen Titel sich diese Reihe bediente. Geschweige denn mein "rivolto"4) ...

Wenn auch nicht gerade den Titel "rivolto“, so hattest Du als Verlagslektor des DVfM Leipzig diese Komposition in Auftrag gegeben und in Verlag genommen. Dass Du sogar die Druckausgabe (1984er Zweitfassung) durchzusetzen vermochtest – dafür habe ich Dich bewundert und als integer verehrt; s.a. mein o.g. Brief an Dich. Oder geirrt? Dir ist sicherlich bekannt, dass Georg Katzers Meisterschüler Helmut Zapf den Titel "rivolto" 1989 für eine Komposition übernahm, die er im Hinblick auf das französische „1789“ schrieb – ein Auftrag des Dresdner „Zentrum für zeitgenössische Musik“ von Udo Zimmermann (der u.a. Mitglied der SED-Bezirksleitung Dresden war). So konnte die ddr-oppositionelle/anti-totalitäre Intention meines "rivolto" und die damit verbundene Biografie aus dem Bewusstsein der Neuen Musik und ihren Konzertprogrammen getilgt werden ..."

Denn seit der "Wende" wurde bisher (2021) ausschließlich Helmut Zapfs "rivolto" reflektiert und aufgeführt.

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