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zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Musik-Bereich

hier soll ein kleines Dokumentencenter entstehen, das u.a. Dokumente enthalten soll, auf die der Autor sich u.a. mit seinem Buch DIE WENDE GING SCHIEF bezieht.

Allgemein

Jene, die davon gekommen sind, haben gegenüber jenen, die ermordet oder vergiftet wurden oder deren Biografie mittels Haft und Zersetzung gebrochen wurde, eine ganz besondere kulturelle Verantwortung, das Bewusstsein für die Verbrechen des Realsozialismus und seine Unrechtsstaaten wach zu halten. Erst recht angesichts des Putin-Systems in Russland, des Kampfes der Menschen in Belarus gegen die Lukaschnko-Diktatur und besonders des verzweifelten Kampfes viele junger Menschen in Hongkong gegen den chinesischen National-Realsozialismus.
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Was hat es für die Zukunft für Folgen, wenn angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus 
die Verbrechen des Realsozialismus übergangen werden? (nach einem Gedanken von Jürgen Fuchs)
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Urheber-Dokumentation: rbb-Fernsehen am 9.10. 2019 mit H. Johannes Wallmann zum Mauerfall 1989 und zur Aufarbeitung der SED-Verstrickung des Musikbereiches


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"Kunst - eine Tochter der Freiheit? Im Vis à vis alter und neuer Totalitarismen" -  ein interdisziplinäres JÜRGEN-FUCHS-SYMPOSIUM in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin, 20.-22. November 2015

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Leider steckt die Aufarbeitung der SED-Diktatur im Kulturbereich im Allgemeinen und im Musikbereich im Besonderen heute (25 Jahre nach dem Mauerfall) noch immer in den Anfängen oder liegt sogar völlig darnieder. Es wird - nicht nur in Thüringen - geflissentlich vergessen oder gar in Abrede gestellt, dass die SED-Ideologie und ihr Unrechtsstaat die Künste zur Ideologie-Produktion bzw. Kaschierung ihrer Macht und ihres Unrechts missbrauchte. Wieviele Künstler vermochten sich dagegen zu verwahren und ihrer freiheitlichen Verantwortung in der DDR tatsächlich gerecht zu werden - wie z.B. ein Kurt W. Streubel? Warum wird gelebte DDR-Systemkritik und Widerständigkeit im Bereich der Kultur seit dem Mauerfall bis heute mehr oder minder zum Nichts gemacht? Ist das kein großer Schatz, den es im Sinne von Artikel 5/Abs.3 des Grundgesetzes für die Zukunft unserer Kultur zu heben gelten müsste? Wird eine Gesellschaft ihren Fehlern der Vergangenheit nicht fast zwangsläufig auch in der Zukunft erliegen, wenn sie diese verdrängt? Und haben wir es in der Kultur - von der Kirche bis hin zu den Künsten - gegenwärtig nicht genau mit solchen Verdrängungs-Situationen zu tun? Nicht zuletzt deshalb DIE WENDE GING SCHIEF (Kulturverlag Kadmos, 2009).

Als Komponist hat für mich naturgemäß die Aufarbeitung der SED-Diktatur im Musikbereich Vorrang. Daher sei an dieser Stelle auf meine diesbzgl. Schriften/Briefe, Fakten, Dokumente sowie Kompositionen und Kunstaktionenhingewiesen:

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Thüringer Presse zum "Fall Wallmann" 2012

. 3.11. 2012 btr. Weimar: Presse-Erklärung zur Absage der Filmpremiere „auf der suche nach der zukunft – integral-art und philosophie des komponisten h. johannes wallmann“ : "Aus Protest gegen die in Weimar und Thüringen bisher nicht bzw. ungenügend erfolgte Aufarbeitung der SED-Diktatur im Bereich der (Neuen) Musik im Besonderen sowie im Kultur-Bereich im Allgemeinen sagen wir hiermit die für den 3.11. 2012, 17 Uhr, im Weimarer „mon ami“ geplante o.g. Filmpremiere ab. - Berlin, am 24.10. 2012, Susanne und H. Johannes Wallmann"

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. Thüringer Allgemeine, Seite 3, 15.11. 2012: "Ein sehr spezielles Kapitel im Leben Wallmanns ist sein Studienabschluss in Weimar an der Musikhochschule. Eine Lebenszeit der Misstöne. "Ich bin", sagt er im TA-Gespräch, "leise exmatrikuliert worden." Unmittelbar zuvor wurde er verpflichtet, Lieder zu den Ostberliner Weltfestspielen einzureichen. Wallmann nahm dafür seine „Drei Lieder nach Texten von Reiner Kunze“, der einer der namhaftesten DDR-Oppositionellen war. Obwohl der als spätbürgerlich-dekadent bezeichnete Student alle Abschlüsse gemacht und sein Diplomarbeit im Juni 1974 verteidigt hatte, bekam er das Diplom nicht ausgehändigt. Erst im Frühjahr 1975 erhielt er nach mehrfachem Drängen eine Urkunde. Aber eben "nicht den Diplom-Abschluss, sondern lediglich das Staatsexamen, auf dem die Diplomarbeit nun Hausarbeit genannt wurde. Nach dem vielen vorangegangenen Ärger nahm ich das schlussendlich hin", erinnert sich Wallmann in seiner Biografie.

Doch schlussendlich war nicht schlussendlich. Jahrzehnte später, wir schreiben 2008, stieß der Komponist in seiner Weimarer Studentenakte auf die Kopie seines Diploms, ausgestellt am 12. Dezember 1974. Wie den Akten zu entnehmen, hatte Dozent Günter Lampe diese Diplomarbeit mit 1 bewertet, wurde dafür jedoch gemaßregelt, die Arbeit danach auf die Note 2 herabgestuft.  Wallmann sagt, dass er auch ohne Diplom arbeiten und leben könne. Aber er will sich mit dem "aus politischen Gründen an mir 1974 begangenen Diplom-Betrug" nicht abfinden. Denn er sieht sich nicht als Einzelfall, erinnert an ein prominentes Diplom-Beispiel, an Wolf Biermann und die Berliner Humboldt-Universität. Die Methode, ideologisch unliebsame Absolventen in der DDR  möglichst große Steine in den beruflichen Weg zu legen, hatte System. In der Weimarer Liszt-Hochschule ist in den Archiven die heutige Aktenlage nur eine sehr unvollständige. Dazu gehört auch, dass es vom Wallmann-Diplom eben nur ein Duplikat gibt. Was aber Wallmann, der eine ernsthafte Aufarbeitung der SED-Diktatur im Musikbereich erreichen möchte, von der Hochschule erwarten darf: Dass einem sehr guten Studenten, aus dem ein hoch angesehener Komponist wurde, endlich die Urkunden-Kopie im würdigen Rahmen übergeben und damit ein umrühmliches Stück Schulgeschichte abgeschlossen wird.

Weimars Hochschulpräsident Prof. Christoph Stölzl, der nicht nur einmal mit Wallmann korrespondiert und gesprochen hat, sagt: "Wir werden das gern und in einer anständigen, feierlichen Form tun, wenn er das möchte." Bei solch einem spannenden Leben könne er sich sehr gut auch ein Podiumsgespräch oder eine andere Veranstaltung vorstellen. Er sei offen für jeden Dialog. Da auch Wallmann im TA-Gespräch dies für vorstellbar hält („es kommt auf die Details an“), darf man auf eine befriedende Lösung hoffen. Allerdings, so scheint es dem Betrachter: Es genügt nicht, dass Türen offen sind. Man muss auch bereit sein, durch diese gemeinsam in einen neuen Raum der Verständigung zu gehen. ...

H. Johannes Wallmann erinnert sich noch ganz genau an die Zeiten- und Weltenwende 1989. "Da haben Freunde mir gesagt, jetzt werden sie wohl für dich und deine Musik den roten Teppich in Thüringen, in Weimar auslegen. Daran habe ich schon damals nicht geglaubt und hätte es auch nicht gewollt." "Aber", sagt der deutschlandweit geschätzte Komponist Wallmann, "dass seit der Wende auf Thüringer Festivals kein einziges Werk von mir aufgeführt wurde, ist schon symptomatisch."

Jüngst erst wieder ist er mit einem Versuch gescheitert, mit seinem Jürgen-Fuchs-Zyklus, der zum diesjährigen Tag der deutschen Einheit uraufgeführt werden sollte. Musik im Raum. Ein Werk für Sopran, Bariton, Saxophon-Quartett und Percussion zu Gedichten und Texten von Jürgen Fuchs, dem Unerschrockenen, der Namensgeber der Straße am Erfurter Landtag ist. Die Uraufführung fand nicht statt. Die Unterstützung, das Geld, fehlte. Die Landtagspräsidentin bedauerte, dass sie keine Mittel zur Projektförderung habe ...“

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Auszüge aus H.Johannes Wallmann: DIE WENDE GING SCHIEF - oder warum Biografie mehr als nur eine rein persönliche Angelegenheit ist (Kulturverlag Kadmos, 2009):  

„spätbürgerlich-dekadent“. „Im Ästhetik-Seminar der Hochschule erhielt ich – war es Zufall? - den Auftrag, über Schönbergs „spätbürgerlich-dekadente Ästhetik“ im Verhältnis zu der realsozialistischen „Volkstümlichkeit“ zu referieren; ein Referat, das ich gründlich vorbereitete. Diese Herausforderung brachte mich – im Gegensatz zu dem vom Dozenten gewünschten Ergebnis - noch näher an Schönbergs Ansatz heran. Anstatt die Musik an Gewohnheiten (wie „Volkstümlichkeit“) auszuliefern, bevorzugte Schönberg das gedankliche und ordnende Prinzip. Natürlich bekannte ich mich in diesem Referat ganz klar zu Schönbergs Gedanken und keineswegs zur realsozialistischen „Volkstümlichkeit“. Ich erinnere mich noch genau, wie völlig irritiert der Dozent auf mein Referat reagierte. Obwohl es ihm ziemlich provokant erscheinen musste, was ich da vorgetragen hatte, ließ er es nicht diskutieren, sondern kramte lange verlegen in seiner Aktentasche herum, beließ es dann aber bei der Erteilung einer Zensur. Es war dies der Zeitpunkt, von dem an mich die SED-Ideologen der Hochschule als „spätbürgerlich-dekadent“ abzustempeln begannen.  Zunehmend ging mir auf, dass ich mich in Weimar an einem historischen Ort der Moderne befand und welch große Rolle das Weimarer Bauhaus für die Moderne gespielt hat. Doch darüber wurde während meines gesamten Studiums an dieser Hochschule sozusagen kein Wort verloren. So erkundete ich mir das Bauhaus in eigener Recherche, wodurch es zunehmend zu einem wichtigen Baustein meines künstlerischen Denkens wurde.“ DIE WENDE GING SCHIEF, Seite 31)

"Marsch durch die Institutionen"? „Was die Fortsetzung meines Kompositionsstudiums anging, so hatte mich einer der beiden FDJ-Sekretäre beiseite genommen und mich wissen lassen, dass für meine Aufnahme in die Meisterklasse keine Chance bestünde, wenn ich nicht in die FDJ eintreten würde. Ich fragte mich, ob das nun der Beginn meines „Marsches durch die Institutionen“ werden sollte, aber überlegte auch, was danach von mir übrig bliebe. In den vergangenen Jahren hatte ich mich erfolgreich als Nicht-FDJler behauptet und mich auch dann geweigert, einzutreten oder ein FDJ-Hemd zu tragen, wenn es z.B. um offizielle Auftritte des Hochschulorchesters ging und das gesamte Orchester in FDJ-Kleidung spielen musste. Nicht nur einmal wurde ich dafür abgestraft.“ (DIE WENDE GING SCHIEF, Seite 48-49)

„Aus meiner heutigen Sicht gab es die Meisterschüler-Regelung des DDR-Kulturministeriums offenbar genau deshalb, weil man aus politisch-ideologischen Gründen bereit war, wichtige Begabungen bewusst aus der Förderung auszuschließen. D.h., man betrachtete seitens der SED Menschen und Begabungen als für die eigenen Machtzwecke frei verfügbares und einsetzbares Material. Wer nicht entsprechend spurte, wurde entweder zu vereinnahmen gesucht oder ausgeschlossen.“ (DIE WENDE GING SCHIEF, Seite 49-50)

Um das Diplom betrogen - 1974 von der Musikhochschule "Franz Liszt" Weimar. „Der politischen Leitung der Weimarer Hochschule war der Erfolg von „Kammermusik unkonventionell“ keineswegs recht und die Rache für diesen gelungenen Abend bekam ich wenige Wochen später zu spüren ..."  (aus: DIE WENDE GING SCHIEF, S. 62-63)

Betrügerische Rechtswidrigkeit "Doch es sollte noch besser kommen. ... Obwohl alle Abschlüsse gemacht und ich meine Diplomarbeit bereits im Juni 1974 verteidigt hatte, wurde mir die Aushändigung meines Abschlusses verweigert. Erst nach mehrfachem Drängen erhielt ich es im Frühjahr 1975 mit Datum vom 12. Dezember 1974 ausgehändigt, und zwar nicht als Diplom-Abschluss, sondern lediglich als Staatsexamen, auf dem die Diplomarbeit nun „Hausarbeit“ genannt wurde. “ (aus: DIE WENDE GING SCHIEF, S. 63)

 

Reiseverbot. Aufgrund der an mich ergangenen Einladung zum Darmstädter Ferienkurs für Neue Musik 1984 fand zwischen Friedrich Hommel, dem dortigen Leiter, und mir am 13.2.1984 ein bezeichnendes Telefonat statt, in dem er mir sagte, dass es in Arhus (Dänemark) ein Gespräch mir Dr. Spahn (dem Chef des DDR-Komponistenverbandes) und anderen DDR-Funktionären gegeben habe, bei dem gesagt worden sei, dass Darmstadt seitens der DDR wohlwollend beachtet werde und dass ein Austausch stattfinden könne. Am 11.7.84 telefonierte ich erneut mit Herrn Hommel, um ihm mitzuteilen, dass mir die Reise nach Darmstadt leider nicht genehmigt worden sei. Er bedauerte das und informierte mich, dass aus der DDR Frank Schneider und Georg Katzer nach Darmstadt kommen würden. Hommel hielt die Einladung an mich aufrecht und bat mich, ihn wissen zu lassen, wenn eine erneute Einladung angebracht sei. Brian Ferneyhough hätte meine Kompositionen lektoriert und sie zur Aufführung empfohlen. Das Arditti-Quartett London würde das Notenmaterial meines “moderabel 1” für eine Aufführung zugeschickt bekommen. Auch sei für mich ein weiteres Stipendium bereitgestellt. Bei einer kleinen Feier in diesen Juli-Tagen in Berlin (anlässlich des 55. Geburtstages des schwerkranken und daher nicht anwesenden Leipziger Musikwissenschaftlers Dr. Eberhard Klemm) sagte ein bekannter Berliner DDR-Musikwissenschaftler bezüglich der erneuten Ablehnung meines Darmstadt-Reiseantrages zu mir: „Was willst Du eigentlich, die haben Dir doch alles angeboten; weißt Du denn immer noch nicht, wie es geht?“ Er wusste, wie es geht - und fuhr an meiner statt. Das war offenbar der Austausch, wie ihn sich die Abteilung Kultur im ZK der SED vorstellte. Welcher Preis war dafür zu zahlen? Welchen Preis zahlte ich dafür? Obwohl ich mich auch für 1986 und 1988 darum bemühte, erhielt ich bis zur Wende aus Darmstadt keine erneute Einladung. Was hatte zu diesem Meinungsumschwung in Darmstadt geführt? Oder war dort alles egal? Ich hatte in diesen Jahren mit der Entwicklung von "Integral-Art" und "Integrale Moderne" sehr viel zu tun, so dass mir Reisen nicht das höchste Ziel waren. Doch Einladungen hätten uns einen gewissen Schutz gegenüber der DDR-Willkür gegeben. Aber daran waren Kulturverantwortliche im Westen, obwohl sie von der schwierigen Lage von Systemkritikern wie mir wissen mussten, offenbar in keiner Weise interessiert. Warum?  (aus: DIE WENDE GING SCHIEF, S. 148/49)

Das Problem. „Wie sich im Juli 2009 herausstellte, sollen noch 20 Jahre nach der Wende 17.000 ehemalige hauptberufliche Stasi-Mitarbeiter im öffentlichen Dienst tätig sein. Dies ist die sichtbare Spitze eines Eisberges, der in vielen Rezis (Realsozialisten) und ehemaligen IM seine Masse unter Wasser hat. Diese wird mehrheitlich ihren Mentalitäten treu geblieben sein und hatte seit 20 Jahren hinreichend Gelegenheit, das Geschehen in ihrem jeweiligen Bereich zu beeinflussen. ...  Was die ehemaligen Stasis, IM und Rezis angeht, so besteht das Problem nicht darin, dass sie in der wiedervereinten deutschen Gesellschaft ein sehr gutes Auskommen haben und goldene Renten kassieren, sondern darin, dass sie sich zu Seilschaften zusammengeschlossen haben und keine Notwendigkeit sehen, ihren konspirativen Terror zu beenden, das Unrechtssystem des Realsozialismus einzuräumen, sich für Wiedergutmachung einzusetzen ...“ (Buch-S.329)

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NEUE MUSIK vor und nach der Wende – Dr. Friedrich Spangemacher im Gespräch mit H.Johannes Wallmann 

(Auszug aus Kapitel 4 des Buches "KUNST - EINE TOCHTER DER FREIHEIT? von Susanne & H.Johannes Wallmann (HG.), Kulturverlag Kadmos, 2017)

FSp.: Sie haben sicher Staatsbürgerkunde in der Schule gehabt, wohl auch an den Sozialismus geglaubt. Wann kamen die ersten Zweifel?  

JW: Staatsbürgerkunde hatten in der Schule alle, aber geglaubt hab ich daran in der Schule zu keinem Moment. Erst später, in der Zeit des Prager Frühlings 1968, wurde für mich der Gedanke einer liberalen sozialistischen Gesellschaft interessant. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings war allerdings endgültig klar, um was es sich beim Realsozialismus handelte. Von unserer Kirchheimer „Kommune“ aus hatten wir ab 1974/75 viel Kontakt zu der Jenaer Oppositionsszene um Jürgen Fuchs. Wir diskutierten an Wochenenden in Kirchheim intensiv über Fragen eines freiheitlichen Sozialismus und über Bücher wie Wolfgang Leonhards „Die Revolution entläßt ihre Kinder.“ Außerdem hatte mein Vater mir Solschenizyns Archipel Gulag zu lesen gegeben, was auf mich ähnlich schockartig wirkte wie das Wissen um den Holocaust. 

FSp.: Sie stammen einer protestantischen Pfarrersfamilie. Wie stark ist der Einfluss Ihres Vaters gewesen?

JW: Sehr stark. Ich habe meinen Vater immer als sehr aufgeklärt und modern denkenden Theologen empfunden und hatte durch den frühen Tod meiner Mutter eine sehr starke Bindung zu ihm. Er war sehr sozialismuskritisch, ging nie zur Wahl, da die in der DDR keine Wahl war. Von 1947 bis 1954 war er Jugendpfarrer von Leipzig und wurde 1953 diffamiert, ein „Amerikanischer Agent“ zu sein. Damals stellte die FDJ den Alleinvertretungsanspruch auf die Jugend; die Junge Gemeinde (die in Leipzig unter seiner Leitung großen Zulauf hatte) wurde von der SED als der Feind hochstilisiert. Meinem Vater drohte die Todesstrafe. Für unsere Familie bedeutet das höchste Gefahr, die Dank eines standhaften Landesbischofs (der meinem Vater in seiner persönlichen Wohnung Asyl bot) jedoch abgewendet werden konnte. Meine Mutter starb nach diesen enormen Aufregungen Anfang 1954.

FSp.: Wann war Ihnen klar, dass Sie Komponist werden wollten?

JW: Schon als Kind mit ca. 10 Jahren wollte ich Komponist werden, wagte es aber angesichts eines Bachs, Mozarts oder Beethovens (über deren Meisterschaft ich mir sehr wohl klar war) nicht, dies schon zu artikulieren. Mit ca. 10 schrieb ich nichtsdestotrotz meine ersten kleinen Klavierstückchen, die ich heute noch auswendig kann. Musik war schon sehr früh ein Zuhause für mich; ich nahm jede Gelegenheit war, Musik zu hören und selbst machen zu können. Vielleicht eine Art Mutterersatz.

FSp.: Ihre Hochschulzeit in Weimar war ja nicht immer einfach. Was waren im Rückblick gesehen die größten Hindernisse?

JW: Ich hatte Glück mit meinen Lehrern und ziemlich gute Noten. Aber als ich Komposition als erstes Hauptfach studieren wollte, wurde mir das seitens der SED-Diktatur, deren ausführendes Organ mir gegenüber die Hochschulschulleitung war, unmittelbar verwehrt. Die Künste sollten in der DDR-Diktatur der „Ideologie-Produktion“() dienen und dafür galt ich den Herren als ungeeignet. Sie hatten mit dieser Einschätzung - die aber quer zu meiner Begabung und meinem Können stand – sogar Recht.

FSp.: Wie machten sich Auflagen und Verbote in der Hochschule bemerkbar? 

JW: Eben, dass ich trotz Bestnoten im Fach mein Kompositionsstudium abbrechen musste. Interessant sind auch meine Studentenakten; ich ließ sie mir 2008 kommen. Dabei bekam ich erstmals meine Diplomurkunde zu Gesicht, die mir nie ausgehändigt worden war; übrigens bis heute nicht. Auch zeigen Dokumente meiner Studentenakten, dass einige Abschlusszensuren willentlich manipuliert wurden. Ich sollte offenbar daran gehindert werden, eine Hochschullaufbahn einschlagen und unterrichten zu können (was ja fast eine notwendige Voraussetzung für den Beruf des Komponisten ist). Solche Vorgehensweisen war üblich gegen oppositionelle Studenten. Auch mit Biermann oder Jürgen Fuchs hat man sowas gemacht. Dass diese Hochschule sich bis heute um eine angemessene Aufarbeitung ihrer SED-Verstrickung drückt, ist skandalös, aber musiktypisch.

FSp.: Das MfS hatte Sie bald im Blick. Wann und wie haben Sie die Hintergrundarbeit des MfS gespürt?

JW: Das habe ich relativ früh gespürt. Vor allem wusste ich es als leitendes Mitglied der Weimarer Studentengemeinde. Damals habe ich z.B. Reiner Kunze, der wohl der namhafteste oppositionelle Lyriker der DDR war, zu Vorträgen in die ESG eingeladen. Später dann in Kirchheim, wo uns z.B. Biermann und viele Leute aus der Jenaer Oppositionsszene immer mal besuchten, war klar, dass wir beschattet wurden. Aber wir gingen darüber hinweg, was wohl die beste Art war, wenn man nicht in Angst versinken wollte. Wenn die Stasi allerdings wirklich ernst gemacht hätte, dann wären für mich – wie meinen Stasi-Akten zu entnehmen - 20-25 Jahre Knast herausgekommen. Ich hatte da offenbar auch Glück; vielleicht auch durch meine zunehmende fachliche Anerkennung und Vernetzung. 

FSp.: Haben Sie Ihre Akten später eingesehen? Wie viel wußte man eigentlich über Sie?

JW: Ja, natürlich, die Stasi wusste eine Menge. Auch wenn sie alles nicht immer richtig erfasste, entwickelte sie daraus ihre operativen Zersetzungs-Maßnahmepläne. 

FSp.: Erzählen Sie uns von persönlichen Terminen mit offiziellen Stellen oder auch den Vertretern des MfS. 

JW: Das ist ein sehr weites Feld. Ich habe darüber genug in „Die Wende ging schief“ geschrieben. Es war auf allen Ebenen ein ständiger Kampf, z.B. im Komponistenverband, in den Verlagen, im Rundfunk. Am heftigsten wurde es, als Ende 1979 die Umarmungsstrategie einsetzte. Da musste ich mir ganz genau überlegen, wie darauf zu reagieren sei, ohne dabei die eigene Wahrhaftigkeit auf´s Spiel zu setzen. Ich setzte entsprechend klare Zeichen, angefangen mit den „Reiner-Kunze-Liedern“, mit Streubel und „Synopsis“, mit „rivolto“, mit Variante „1984“ (in das ich Orwells „1984“ eingearbeitet hatte). Der 5. Satz meines Jürgen-Fuchs-Zyklus (2010-14) trifft die Situation damals ziemlich genau: „Ich kämpfte ... um mein Leben, um meine eigene Person, um mein Gesicht, meine Seele“.

FSp.: Wie gestaltete sich Ihre künstlerische Arbeit in dieser Zeit. Worum ging es Ihnen als Komponist – sagen wir am Ende des Studiums?

JW: Kompositorisch interessierte mich von Schönberg über Strawinsky bis hin zu Webern und Stockhausen alles, was nicht dröge war. Musik war für mich eine Art Zuhause und Lebenselexier, ich begann sie in ihrer ganzen philosophischen Tiefendimension zu sehen. In meinen Augen widersprachen sich »Gesamtkunstwerk« und »absolute Musik« nicht und so hatte ich eine große Affinität zu den Bauhaus-Ideen, zu der Kandinsky-Schönberg-Korrespondenz, zu Stockhausen. Meine integrale und philosophische Herangehensweise sah ich u.a. durch Arnold Schönbergs Oper „Moses und Aron“ bestätigt, die - 1975 an der Dresdner Staatsoper von Harry Kupfer inszeniert - mich enorm beeindruckte. Zumal Schönberg auch die große Frage der Freiheit anspricht, war diese musikphilosophische Auseinandersetzung für mich schon damals sehr sehr aufregend. Ebenso aufregend, dass ich trotz DDR immer wieder Möglichkeiten und Wege fand, mir als Komponist Gehör zu verschaffen.

FSp.: Sie hatten dann einen Brotjob als Orchestermusiker – ein relativ abgeschotteter Raum könnte man meinen oder ist das eine Fehleinschätzung?

JW: Ja, nachdem ich von der Weimarer Hochschulleitung als „spätbürgerlich-dekadent“ eingestuft worden war, musste ich mein Kompositionsstudium bereits mit 21 Jahren beenden und wurde zunächst Orchestermusiker in Meiningen, ab 1975 in Weimar. Ich nahm das positiv und baute mit einigen meiner Weimarer Orchester-Kollegen die „gruppe neue musik weimar“ auf, die eines der namhaften Neue-Musik-Ensembles der DDR wurde – auch wenn wir nie ins westliche Ausland reisen durften, wie z.B. die „Gruppe Neue Musik Hanns Eisler“ oder die „Berliner Bläservereinigung“. Mit der „gruppe neue musik weimar“ konnte ich meine eigenen Kompositionen zur Aufführung bringen und erhielt musikalisch dadurch immer durchschlagendere Anerkennung. Aber das Orchestermusikerdasein wurde mir auch zunehmend zur Belastung, nicht nur wegen des hohen Anpassungsdrucks, sondern weil man sich als Komponist für seinen Beruf irgendwann ganz entscheiden muss. Sonst wird es nichts – so war jedenfalls damals mein Empfinden und so sehe ich es auch heute noch. Daher gab ich Anfang 1980 diesen Brotjob auf, sprang ins kalte Wasser und widmete mich ganz der Komposition und der musikphilosophischen Arbeit. 

FSp.: Sie haben einen Gleichgesinnten und Verbündeten mit dem Maler Kurt Streubel gefunden. Wo trafen Sie sich künstlerisch?

JW: Ja, das war ganz großartig, auf ihn zu treffen. Es waren einfach seine wunderbaren Bilder. Ich wurde philosophisch sein Schüler, erhielt von ihm ein kunstphilosophisches Training, was eine enorme Herausforderung war, aber letztlich den Grundstein für die die Ideen-Logik von Integrale Moderne legte. Er sprach mich gleich beim ersten Zusammentreffen auf Kandinskys „Punkt und Linie zu Fläche“ an und öffnete mir damit die Gedankentore zu den Bauhaus-Ideen der kulturellen Erneuerung sowie des integralen Zusammenwirkens der Künste. Genau daran knüpfte ich 1991/92 mit der Bauhütte Klangzeit Wuppertal an, mit der ich das erste internationale Festival für Klangkunst in Deutschland aus der Taufe hob. (Soweit ich informiert bin, gab es den Begriff Klangkunst vorher nur in der Hörspielabteilung des DDR-Rundfunks. Aber das war mir damals nicht bewusst. Ich hatte nach einem Begriff gesucht, der besser ist als der m.E. damals bereits verschlissene Begriff der Neuen Musik.) Wo ich mich mit Streubel künstlerisch konkret traf? Das war 1978/79 mit meiner Komposition „Synopsis – Musik im Raum für Kammerensemble“ nach Streubels „Variationen esoterisch“, der als gedanklicher Hintergrund Streubels Grafik und Gedanke „Entfaltung und Bewahrung“ zugrunde liegt. 

FSp.: Und wo politisch, weltanschaulich?

JW: Streubel war in der DDR ein oppositioneller Außenseiter von enormen künstlerischem und denkerischem Format, was bis heute nicht annähernd gewürdigt ist. Ein großer Aufrechter mit gleichermaßen frechem Witz wie philosophischem Tiefgang. Ebenso wie er litt ich an den Verhältnissen, die von ihm aber in großen Zusammenhängen (z.B. Achse „Moskau-Rom“) reflektiert wurden. Es gab bei ihm keine Unterscheidung in hie künstlerisch und da politisch; er sah die Dinge zusammen, aber dennoch sehr differenziert. 

FSp.: Welche Rolle hat die Biermann-Ausbürgerung für Sie gespielt? Wie haben Sie sich damals verhalten?

JW: Das war ein Schock. Wir waren am Wochenende um den 7. Oktober 1976 durch Sybille Havemann bei Lilo und Jürgen Fuchs sowie Robert und Katja Havemann in Grünheide eingeladen. Biermann war auch da. Er war ja zuvor immer mal mit Sybille Havemann und ihrem Sohn Felix bei uns in Kirchheim gewesen. Als Biermann am 19.November ausgebürgert wurde, war meine Frau hochschwanger. Wir sahen uns hochgefährdet und verließen Kirchheim unmittelbar, da wir dort relativ unbemerkt hätten verhaftet werden können. Meine Frau ging zu ihren Eltern nach Gotha und dort meldeten wir sofort unsere Heirat an (die nach den 4 Wochen Aufgebotsfrist am 17.12.1976 erfolgte), damit wir bei Verhaftung wenigstens noch mindeste Rechte hätten. Eingedenk meines eigenen Kindheitstraumas akzeptierte ich die Verantwortung für meine Frau und unser ungeborenes Kind. Zwar nahm ich im Weimarer Theater und meinem sonstigen Umfeld kein Blatt vor den Mund, dass ich gegen die Ausbürgerung Biermanns sei (was Stasi-Dokumente belegen), unternahm aber ansonsten nichts, sondern versuchte lediglich, den Angehörigen der Inhaftierten mittels Geldspenden zu helfen, was aber kläglich misslang. Friedrich Schenker und Friedrich Goldmann schickten mir teilnahmsvolle Briefe.  

FSp.: Wie kam es zum Meisterstudium bei Friedrich Goldmann?

JW: Nach meinem Studium in Weimar (das ich per Fernstudium dann doch noch zu beenden vermochte) hatte ich nach einem Mentor für meine weitere kompositorische Entwicklung gesucht. Durch Vermittlung von Friedrich Schenker, der dem Wallmann den Goldmann und dem Goldmann den Wallmann empfahl, kam das dann tatsächlich zustande. Schenker hatte ich 1973 bei einem Konzert des Leipziger Aulos-Trios in Weimar kennengelernt und ihn danach in Leipzig mehrfach besucht und meine Kompositionen vorgelegt. Wie später auch Goldmann besuchte Schenker uns mit seiner Frau auch in Kirchheim.

FSp.: Wo fand der Unterricht bei Goldmann statt?

JW: In seiner Wohnung in der Berliner Kollwitzstraße. Zuvor hatte ich ihn beim Geraer Ferienkurs für Neue Musik getroffen. Später dann (etwa ab 1980) besuchte ich ihn in seiner großen Berliner Neubauwohnung in der Allee der Kosmonauten. Er wohnte auf einer Etage mit Offizieren, die er als nett und kollegial bezeichnete und denen er mich unbedingt einmal vorstellen wollte. Er ließ sich nicht davon abbringen; mir hat sich das als höchst unangenehm eingeprägt.

FSp.: Wie und was wurde gelehrt, was wurde geprüft?

JW: Wir sprachen und sahen Partituren an, von Stockhausen, über Boulez bis Ferneyhough. Von großem Wert war für mich, in ihm endlich jemanden gefunden zu haben, der wirklich kritisch vorging. Das hat mein strukturelles kompositorisches Denken enorm geschärft. Philosophische Dimensionen, Farben und Klänge erfuhr ich dagegen von Streubel. Über philosophische Fragen konnte ich mit Goldmann nicht sprechen; dafür hatte er nur beißenden Spott, was aber sein Problem war. Immerhin machte er mich z.B. auf Michel Foucault aufmerksam - für mich sehr wertvoll. Aber auch über Foucaults Philosophie haben wir nicht wirklich gesprochen. Ist ja aber auch nicht so ganz einfach.

FSp.: Konnte man mit ihm über künstlerische Haltungen diskutieren? Über Politik?

JW: Das war für mich nicht so interessant; es ging mir bei ihm vor allem um gutes Handwerk und dafür konnte ich mir bei ihm – nach dem sehr guten Unterricht bei Günter Lampe in Weimar, der mich über Schönbergs Dodekaphonie an die großen Fragen der Musik der Moderne herangeführt hatte - tatsächlich einen neuen Schub holen. Schon relativ früh hat Goldmann geäußert, dass er den Eindruck hätte, ich wolle Musik als Transportmittel meiner politischen Ideen benutzen. Das hatte gesessen und war für mich die Herausforderung, mein Hör- und Augenmerk auf philosophisch intendiertes strukturelles Komponieren zu legen, was auch bestens mit Streubel zusammenging. Deswegen war für mich die Vertonung der dokumentarischen Klartexte des Jürgen-Fuchs-Zyklus ein kompositorischer Qualitätssprung, der nahe lag, aber einer langen Entwicklung bedurfte. Da es mit den Künsten, mit Musik keineswegs um irgendwelche Prinzipienreiterei, sondern um die Frage des ganzen – und damit auch politischen – Menschen, seiner Freiheit und Teilhabe an höchster universeller Intelligenz geht, muss dabei die physische oder psychische, soziale oder kulturelle Eliminierung von Künstlern und anderen Menschen aufgrund ideologischer Abweichung im Sinne der Zukunft unbedingt im Blick gehalten werden. Was ideologische Abweichung angeht, so riss Goldmann übrigens politische Witze, die andere für Jahre in den Knast gebracht hätten. Ich sagte ihm daher ab und zu ein paar Wahrheiten, die er jedoch nicht so gern hörte.

FSp.: Gab es Auflagen fürs Komponieren?

JW: Eher nicht. Einmal verlangte er von mir, ein Klavierstück mit wenigen Tönen zu schreiben. So entstand „MIT ACHT TÖNEN“ für Klavier. Zwar hatte ich mit relativ wenigen Tönen auch schon vor Goldmann komponiert, etwa in meinem ersten Streichquartett (3.Satz) oder in den Yukihara-Gesängen, aber mit so wenigen Tönen noch nicht. Ab 1974 beschäftigten mich zunehmend musikalische Selbstorganisationssysteme. Mein Gedanke war: Wenn das Leben als ein großes Selbstorganisationssystem zu betrachten ist (und ich sah es als solches), dann müsste das auch kompositorisch zu machen sein. 1975/76 schrieb ich daher „kreisspiel für 3 gruppen“ - eine Replik gleichermaßen auf Stockhausens „Kreuzspiel“ wie auf Ideen von John Cage. Es wurde 1976 im überfüllten Saal des Studiotheaters im Dresdner Kulturpalast uraufgeführt. Doch sowas wie „kreisspiel“, mit dem es um Freiheit und Eigenverantwortung der Interpreten selbst geht, mochte Goldmann gar nicht. Da gab es dann 1980 von ihm (als ich meinen Orchesterjob aufgegeben hatte und an der Ostberliner Akademie der Künste offiziell sein erster Meisterschüler geworden war) tatsächlich die Auflage, eine konkret ausnotierte Fassung zu „kreisspiel“ anzufertigen. Ich fand das widersinnig, unterwarf mich aber. 

FSp.: Wie kam man in der DDR zu Aufführungen, wie stark wirkten Lehrer ein, wie intensiv musste man sich selbst einsetzen, und wo waren die Barrieren.

JW: Während z.B. mein Weimarer Kompositions-Kommilitone Reinhard Wolschina (dort noch heute Professor) von der Hochschulleitung und dem Komponistenverfband ständig Aufführungen seiner Werke zugeschanzt bekam, hatte ich während des Studiums nur ein einziges Mal das Glück einer größeren Studio-Aufführung. Aber diese Aufführung mit der Jenaer Philharmonie schlug trotz geringster Probenzeit fachlich wohl ziemlich ein. Ansonsten organisierte ich mir meine Aufführungen selbst, bis die Qualität meiner Musik unüberhörbar war. Dadurch kam allmählich einiges zustande, u.a. durch den Musikverlag Edition Peters, der meine Partituren in Verlag genommen hatte, aber auch durch die „Gruppe Neue Musik Hanns Eisler“ oder die „Berliner Bläservereinigung“. Die weitaus meisten Aufführungen blieben aber die mit meinem eigenen Weimarer Ensemble.

FSp.: Sie kannten ja nun alle die Geförderten in der DDR und die Westreisenden. Wie gestaltete sich die Begegnung in Berlin mit ihnen? 

JW: Das war zunächst unkompliziert; Bredemeyer, Dietrich, Goldmann, Katzer, Schenker boten mir samt und sonders das Du an (das ich bei Goldmann aber zunächst ablehnte und erst nach Beendigung der Meisterschülerzeit akzeptierte). Ich fasste das damals als fachliche Anerkennung auf; in der Sache war es vielleicht aber doch eher „Kameraderie“. Bis Anfang der 80er war ich in meiner christlich intendierten Hierbleib-Ideologie gefangen, die hieß: „Du hast Deinen Platz dort, wo Gott Dich hingestellt hat“. Erst als ich begriff, dass mein „Platz“ nicht die DDR, sondern die Musik ist, begann ich diese Leute ziemlich kritisch zu sehen. Mit ihren Anpassereien, Vorteilsnahmen und kleinkarierten bzw. schizophrenen Verhaltensweisen bis hin zum Selbstbetrug hatten sie zwar materielle Sicherheit und zahlreiche Vorteile gewonnen, aber ihre gedankliche Freiheit weitestgehend verloren. Diesbezüglich waren die dümmlich-gläubigen Genossen weitaus besser dran, denn die mussten nicht ständig lügen, sondern nur den Parteidirektiven folgen. Goldmann sagte ich entsprechend Kritisches manchmal direkt … So entstand immer 

FSp.: Wie äußerte sich das?

JW: Irgendwann soll er mal zu jemandem über mich geäußert haben „bei dem hab ich alles falsch gemacht“. Stimmt so nun auch wieder nicht, für ihn selbst vielleicht schon eher. Ich empfand zunehmend, dass die ganzen Lügereien - auch die Material- und Materialismus-Lüge - kompositorisch hörbar durchschlugen. Bei Goldmann war es m.E. mit „Ensemble-Konzert 2“ kompositorisch vorbei. Er wusste irgendwann nicht mehr, wozu es Neuer Musik überhaupt noch bedarf. Als er sich mir gegenüber einmal entsprechend geäußert hatte, antwortete ich ihm: wehe, wenn Du trotzdem schreibst. Er ging an dem Problem künstlerisch mehr oder minder zugrunde, da halfen auch alle seine Witzeleien nichts. Zumal ich ihm sehr (wenn auch nicht hündisch) dankbar bin für das, was ich handwerklich durch ihn gelernt habe, tat er mir da direkt leid. Das Problem liegt beim Komponieren eben nicht darin, ein paar Einfälle zu haben und damit eine kleinere oder größere Materialschlacht zu beginnen, sondern darin, gleichermaßen einen Ideen- und Materialkampf zu führen, was ohne Wahrhaftigkeit und philosophische Durchdringung nicht geht. Wenn man sich ein gutes Handwerk erkämpft hat und älter und gelassener geworden ist, dann kann man die ganze expressionistische Kämpferei ohnehin gehen lassen und zu den eigentlichen Fragen vordringen. Das war Goldmann leider versagt. 

FSp.: Und die eigentlichen Fragen bestehen worin?

JW: Sich über das Grundlegende von Musik klar zu werden. Schwingung ist eine der universellsten Eigenschaften des Universums und Musik besteht aus Schwingung pur, sofern ihr nicht expressionistische oder anderweitige Interessenlagen dazwischen kommen. Komponisten wie Morton Feldman oder John Cage gelang es, diese weitgehend außen vor zu halten. Ebenso einem Maler Kurt W. Streubel. Er nahm sich dafür die Freiheit, wenn er dafür auch schwer bezahlen musste. Diese Freiheit und Gedankenkraft interessierte mich wirklich, da man sich auf ihrer Grundlage den integralen Fragen von Transzendenz und Intelligenz zu nähern vermag.

FSp.: Die wären?

JW: Zunächst einmal musste auch ich das - bzgl. der Neuen Musik virulente - Materialproblem knacken. Das gelang mir mit dem integralen Ansatz, den ich im Sommer 1977 formulierte: Idee und Materie sind die unterschiedlichen Aspekte ein- und derselben Sache und sich gegenseitig Wertmaßstab und Bedingung. Keinem von beiden oder beiden zugleich gehört das Primat. Damit war ein Markpunkt gesetzt, von dem aus ich konkretere Antworten für die (und meine) Musik und Kunst sowie eine entsprechende Musik-Konzeption der Zukunft zu suchen begann. Als ich 1980 auf James Joyce´ Überlegungen zu Schönheit und Wahrheit - als den befriedigendsten Relationen des Sensiblen und Intelligiblen – traf, waren weitere Stufen genommen, die bis hin zum Integral-Art-Konzept zu Integrale Moderne sowie zum Gedanken von Kunst als Freiheits- und Intelligenzenergie führten. Von da findet man zu den Freiheits- Intelligenz- und Transzendenzfragen, von denen bereits Platon einige im Höhlengleichnis ansprach, wie von selbst. Es führte mich hin bis zu den 25 Thesen „Kultur und modernes Christentum“ oder den 26 Reflexionspunkten „EUROPA? KULTUR-REFORMATION!“.  

FSp.: Für den Erfolg der DDR-Komponisten hatte Frank Schneider eine schlüssige Erklärung.Während man sich im Westen von der seriellen Musik abgewandt habe, um einer neuen Einfachheit zu frönen, habe man im Osten an den alten ‚fortschrittlichen‘ Positionen und den avantgardistischen Kompositionstechniken festgehalten, und dadurch das Interesse im Westen gewonnen. Was meinen Sie dazu? 

JW: Diese „Fortschrittlichkeit“ bestand nach der Wende in einer unverfrorenen Fortsetzung der alten materialistischen Ideologie-Positionen, durch deren Ausgrenzungs-Strategien und Intellektualismen (die mit Adorno bzw. der Frankfurter Schule gerechtfertigt wurden) die Neue Musik in den vergangenen 25 Jahren zunehmend ins gesellschaftliche Aus geriet. Ich habe mit meinen Projekten – wie zuvor schon z.B. Karlheinz Stockhausen – bewiesen, dass ganz andere Möglichkeiten bestehen und ggf. sogar Tausende kommen, um neue Klänge hören zu können. Aber eine der bezeichnenden Eigenschaften von Ideologen und ihren Ideologien ist es, dass sie andere Ansätze unmittelbar ignorieren, ausgrenzen, bekämpfen. Übrigens war „fortschrittlich“ auch ein SED- und Stasibegriff, mit dem alle ideologischen Freunde und willfährigen Mitläufer bezeichnet wurden.

FSp.: Was war ausschlaggebend, die Ausreise in die Bundesrepublik zu beantragen?.

JW: Nachdem ich den DDR-Umarmungsstrategien getrotzt und mir freien Geist bewahrt hatte (bereits 1980 hatte ich in Gera mehr oder minder öffentlich „ideologiefreie Kunst“ vertreten), ging dann ab 1984 so gut wie nichts mehr. Auch meinem Weimarer Ensemble, das ich von Berlin aus weiter betrieb, wurde ein Stein nach dem anderen in den Weg gelegt. Westreisen waren ohnehin nicht möglich. Einladungen zu den Wittener Tagen für neue Kammermusik, ins Künstlerhaus Boswil, zu 14 Aufführungen meiner Musik durfte ich nicht folgen. Ebensowenig der Einladung zum internationalen Ferienkurs für Neue Musik 1984 nach Darmstadt, wo Brian Ferneyhough meine Partituren lektoriert und zur Aufführung empfohlen hatte. Frank Schneider und Georg Katzer fuhren an meiner Statt nach Darmstadt; bis zum Ende der DDR erhielt ich von dort (auch während der Zeit unseres Ausreiseantrages) nie wieder eine Einladung.Was postalische Kontakte betraf, so wurden Briefe - an mich gerichtet oder von mir abgesendet - massenhaft nicht zugestellt. Die Stasi-Zersetzungsmethoden waren deutlich zu spüren, auch wenn sie nicht zu beweisen waren. Ich stand damals vor der Frage, ob ich mich in der DDR lebend beerdigen lassen wollte oder die Umsetzung meiner Ideen für eine zukunftstragfähige Entwicklung der Musik zumindest versuchen sollte. Das Integral-Art-Konzept hatte ich bereits ebenso entwickelt wie die wesentlichen gedanklichen Konstituenten von INTEGRALE MODERNE. Sollte ich die in den Papierkorb werfen? Da ich erkannt hatte, dass nicht die DDR, sondern die Musik mein „Platz“ ist, blieb also gar kein anderer Weg mehr, als diesen Antrag zu stellen; die Entscheidung traf ich gemeinsam mit meiner Frau. Um der Wahrhaftigkeit willen, begründeten wir ihn kulturpolitisch, anstatt humanitäre Gründe anzuführen, was allgemein üblich war.

FSp.: Was passierte dann?

JW: Eine sehr schlimme Zeit, auch für meine Familie. In „Die Wende ging schief“ habe ich darüber ausführlich genug berichtet, deshalb nur so viel zur fachlichen Seite: Alle möglichen Musikwissenschaftler, die meine Musik und musikphilosophischen Überlegungen zuvor in höchsten Tönen gelobt hatten, folgten nun der Musik-Stasi-Sprachregelung, die hieß: Komponisten wie mich gäbe es im Westen Tausende. Das war das Motto, das von den DDR-Westreisekadern auch in den Westen kolportiert wurde. Wie systematisch die Stasi das machte, davon hatte man im Westen nicht annähernd eine Vorstellung. In der entsprechenden Stasi-Richtlinie 1/76 heißt es: „systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener, wahrer, überprüfbarer und diskreditierender Angaben sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben“. Diese Richtlinien wurden besonders scharf auf DDR-Ausreisewillige – ich nenne sie Ausreisebürgerrechtler, denn sie nahmen ein grundlegendes Bürgerrecht in Anspruch und bereiteten quasi damit persönlich den Mauerfall vor – angewandt. Besonders bitter, dass diejenigen, die solche systematische Diskreditierung meiner Person in Westdeutschland/ Westberlin vorgenommen hatten, das auch nach der Wende fortsetzten – wohl um sich nicht selbst zu überführen. 

FSp.: Welche Reaktionen gab es von Seiten der Komponistenkollegen?

JW: Auch darüber habe ich in „Die Wende ging schief“ genug geschrieben. Es war sehr ernüchternd; die Stasi arbeitete immer mit.

FSp.: Und nach der Wende. Wie ist es Ihnen ergangen; von wem haben Sie Hilfe erhalten?

JW: Lutz Rathenow hatte Jürgen Fuchs informiert und Jürgen Fuchs hatte einen Presseverteiler, der sehr gut akzeptiert war. So erschienen unmittelbar nach unserer DDR-Ausreise eine Reihe von Zeitungsmeldungen und kleinere Artikel. Damit war eine gewisse Öffentlichkeit hergestellt. Ich hatte zudem das Glück, dass Peter Gülke, damals Generalmusikdirektor des Wuppertaler Sinfonieorchesters, im September 1988 mein Orchesterstück „axial“ zur Uraufführung brachte. In der NZfM-Rezension 11/88 hieß es dazu: »ein groß besetztes, streng organisiertes Orchesterwerk mit dezent formulierten Huldigungen an Edgar Varèse und Anton Webern ... ein Leichtes, nach dieser eindrucksvollen Premiere die Prognose zu stellen, daß man von diesem engagierten und aufrichtigen Komponisten in der aktuellen Auseinandersetzung im Bereich der Neuen Musik noch so manches gewichtige Wort hören wird.« Von da spann sich ein Faden zum Wuppertaler Kulturamt, das ein Konzept für ein neues Musik-Festival suchte; ich hatte durch mein Integral-Art -Konzept ein solches quasi in der Tasche und konnte es sehr schnell vorlegen. So kam es 1991/92 mit der BAUHÜTTE KLANGZEIT WUPPERTAL zum ersten internationalen Klangkunst-Festival Deutschlands. Mir war es unerwarteter Weise gelungen, in NRW alle möglichen Politiker zu überzeugen und Finanzmittel erheblichen Umfangs einzuwerben, sogar einen Zuschlag vom Kulturprogramm der EU erhielt dieses Projekt. Das Festival war ein voller Erfolg, aber es ging danach nicht weiter. Neben den allgemeinen Sparmaßnahmen der Stadt Wuppertal griffen wohl die ab 1990 in Berlin getroffenen Absprachen über den Fortgang der Neuen Musik im geeinten Deutschland, die – wie gesagt – auf der alten materialistischen/sozialistischen Ideologie beruhten und für die Entwicklung der Neuen Musik mit fatalen Konsequenzen verbunden sind. Aufgrund des unglaublichen Tempos und der Dichte der Besetzung von wichtigen (Neue-)Musik-Entscheiderpositionen mit ehemals gut situierten SED-Kollaborateuren, muss die Frage erlaubt sein, ob da evtl. sogar alte SED-Finanzmittel im Spiel gewesen sein könnten. Die ideologisch geradezu stromlinienförmige Ausrichtung der Neuen Musik, bis hin zur ideologisch stark eingefärbten „musikwissenschaftlichen“ Aufbereitung der DDR-Musik in Weimar und Leipzig sowie die – trotz besseren Wissens - zielgerichtete Ausgrenzung meiner Musik und Person aus allen entsprechenden Zusammenhängen – auch denen der Klangkunst-Festivals - legt eine solche Frage nahe. Diese Barriere zu überwinden, half weder meine Kammer- und Orchestermusik, noch all die anderen umfangreichen Alternativ- und Klangkunst-Projekte, deren Realisierung mir seither gelang und die von Tausenden besucht, bestens rezensiert und von Rundfunksendern teils live übertragen wurden. Aber es bedarf großer Geduld, denn letztlich geht es um eine neue Ära in der (Neuen) Musik und unserer Kultur, wofür die Fakten ungeschminkt auf den Tisch müssen. Vielleicht gelingt das ja eines Tages doch noch.

FSp.: Sie haben das Jürgen-Fuchs-Symposion organisiert auch mit dem Hintergrund, dass es noch Repressionssysteme überall in der Welt gibt. Was wäre Ihr Motto, zum Überleben?

JW: Olivier Messiaen sagte einmal, dass der Mensch Teilhaber an der großen kosmischen Aktivität ist, die Leben heißt. Entsprechend sehe ich den Menschen auch als Teilhaber an höchster universeller Intelligenz. Mein Motto wäre, sich unserer integralen Intelligenzpotentiale bewusst zu werden, diese kulturell, künstlerisch und lebenspraktisch zu entfalten, um sowohl als Individuum als auch als Menschheit nicht „zu dumm zum Übeleben“ zu sein. Und das heißt, ein neues Empfinden für´s Ganze zu entwickeln, damit es nicht zu einem Kaputten wird. Eine Voraussetzung dafür ist, sich keinesfalls erneut totalitären Ideologien auszuliefern.