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VARIATIONEN 1 - Fassung für Streichquartett (1996)

Dauer: 20 - 41 Min. | UA: "Blue Noise", Podewil Berlin ("compositionen") 1997 | Aufführungsmat.vorhanden | Fassung für Streichquartett

Variationen 1 ist ein hörgeleitetes musikalisches Kombinatiosspiel, das auf der Variierung und Verknüpfung von vier unterschiedlichen musikalischen Modi beruht. Die nichtlineare Logik der Komposition bedarf zur Umsetzung einer linearen musikalisch-logischen Interpretation, woraus das Spiel um den Refrain entsteht. Die Anordnung und die Variierung der vier Modi wird durch die Musiker mittels der Modus- und Variationszeichen (spontan) gesteuert. Um zu garantieren, dass im Verlauf des Spiels die vier unterschiedlichen Modi auch tatsächlich ins Spiel eingebracht werden, wird jedem Spieler die Verantwortlichkeit für einen der vier Modi übertragen.  Der Primus des Quartetts soll für Modus 2, der 2.Geiger für Modus 4, der Bratscher für Modus 1 und der Cellist für Modus 3 verantwortlich sein. Die Verantwortlichkeit besteht darin, daß der jeweilige Spieler im Verlauf des Spiels seinen Modus einbringt und variiert und ihn - im Rahmen der musikalischen Logik - ggf. zum Refrain macht.  In der Regel wird jeder Modus immer gemeinsam von allen 4 Spielern realisiert.

Für die Streichquartett-Einstudierung von "Variationen 1" ist zu empfehlen, dass jeder der vier Musiker sich im Vorfeld der Proben mit seinem Modus intensiv beschäftigt und diesen Modus während der Probenarbeit den anderen drei Spielern beibringt.

Damit das räumliche Spiel der Töne und Klänge verfolgt werden kann, nehmen die vier Musiker Positionen um das Publikum herum ein. Indem sie einen möglichst großen Teil der Zuhörer umringen, ermöglichen sie die Wahrnehmung des Wanderns der Töne von Spieler zu Spieler. Die eingenommenen Positionen werden während der gesamten Aufführung nicht gewechselt.

Die Positionen sind so zu wählen, daß Violine 1 und Violine 2 sowie Viola und Violoncello jeweils eine Diagonalachse bilden.

Die Tonhöhenskalen:
Jedem Modus ist eine Tonhöhenskala zugeordnet, auf deren Tonhöhen der jeweilige Modus zu realisieren ist. Die Tonhöhen werden je nach Variantenzeichen auf den original notierten Tonhöhen (enge Lage) oder oktaviert (weite Lage) - auch ggf. als flageolett - ausgeführt. Bei der Verwendung der Tonhöhen ist stets darauf zu achten, daß möglichst wenig verminderte Akkorde entstehen. Die Verwendung von kleinen und großen Sekunden sowie großen Terzen (und deren Umkehrungen) wirkt der Entstehung verminderter Akkorde entgegen.

Die vier Modi und ihre Variationen:
Modus 1: Ausgelöst und variiert durch den Bratschisten, entsteht Modus 1 durch den kreisförmig-linksherum Verlauf von Tönen. Indem Spieler nach Spieler einsetzt, verläuft dieser Kreis sozusagen im Viervierteltakt, wobei die Viertel im Tempo um ca. 96 MM schwanken können. Um diesem Kreisverlauf der Töne zu erreichen, darf ein Spieler seinen Ton oder seinen Klang erst dann beenden, wenn der nächste (von ihm aus gesehen linke) Spieler bereits eingesetzt hat; der sich überlappende Tonanschlußvon Spieler zu Spieler ist unabdingbar.

In der engen Lage von Modus 1 sollen die Tonhöhen ein Klangband bilden, bei dem der nachfolgende Ton in der Regel von einer kleinen Sekunde bis zu einer großen Terz von der Tonhöhe des vorhergehenden Spielers entfernt sein darf (unter Beachtung der Tonhöhenskala). Die "weite Lage" von Modus 1 ist gekoppelt mit einer freischwingenden Dauern- und Dynamikgestaltung auszuführen, bei der das zügige Tempo zu wahren ist.  Als Grunddynamik von Modus 1 gilt forte.  Das Spiel der Töne von Spieler zu Spieler erfolgt entweder "eintönig" (z.B. alle Spieler auf cis) oder mehrtönig (jeder Spieler auf einer anderen Tonhöhe). Modus 1 kann auch pizz. ausgeführt werden, wobei allerdings ein sehr viel schnelleres Tempo einzuschlagen ist.

Modus 2 wird geleitet vom Primus des Streichquartetts und entsteht durch das Dauern-unisono aller vier Spieler nach der angegebenen Dauern-Reihe. Auf Zeichen beginnen alle Spieler gleichzeitig die Dauern-Reihe (oben links) im gemeinsamen (Viertel ca. 72 MM) zu spielen. Die Tonhöhen können entsprechend der Lage und entsprechend der ein- oder mehrtönigen Variante frei aus der Skala gewählt werden. Der Primus gibt sowohl das Tempo (ca.72 MM) als auch den Wechsel von Dauer zu Dauer an. Der gemeinsame Wechsel von Dauer zu Dauer muß trotz der räumlich entfernten Aufstellung der Spieler höchst genau - quasi choraliter - erfolgen. Für alle Spieler verbindlich kann der Primus auf den Dauern seiner Wahl Fermaten einlegen und das Spiel durch Zäsuren und Pausen strukturieren.
Die Grunddynamik von Modus 2 ist piano. Bei "mehrtönig" soll in Modus 2 jeder Spieler der Stimmführung seines Part's besondere Aufmerksamkeit und innere musikalische Logik und Schönheit geben. Bei "eintönig" wiederholt jeder Spieler den Klang, mit dem er die Variante "eintönig" begonnen hat, und gibt diesem ein bestimmtes Kolorit.
In Modus 2 sollten überwiegend Doppelgriffe zur Anwendung kommen.


Mit Modus 3 - initiiert durch den Cellisten - entsteht ein Wechselspiel zwischen den diagonal benachbarten Spielern auf Grundlage der angegebenen Dauern-Reihe. Violoncello und Viola beginnen die Dauernreihe oben links und gehen Zeile für Zeile nach unten, bis sie unten rechts angelangt sind und dann wieder von oben beginnen. Violine 1 und 2 beginnen die Dauernreihe unten links, gehen Zeile für Zeile nach oben, bis sie oben rechts angekommen sind und wieder von unten links beginnen. Der jeweilige Diagonalspieler setzt jeweils genau auf das ab schließende Sechzehntel seines Diagonalpartners mit einem Doppelgriff oder einem einfachen Ton oder einem tremolo ein. Die jeweils gewählten Tonhöhen müssen während einer Sequenz (also bis zu einer Zäsur oder einem Variantenzeichen) beibehalten werden.  Zur Strukturierung von Modus 3 können die Spieler Zäsuren bilden, indem sie - anstatt eines Tones - nur ein abschließendes Sechzehntel spielen. Der jenige Spieler, der die Zäsur gebildet hat, führt nach einem Innehalten oder einer Pause dann das Spiel (mit anderen oder gleichen Tonhöhen der Skala) fort.   Anstelle des Sechzehntels kann auch ein Variantenzeichen gesetzt werden.  Wichtig ist, dass jeder Ton mit einem fp beginnt und daßdas crescendo wie ein Pfeil bis an das abschließende Sechzehntel herangeführt wird, auf dem der diagonal benachbarte Spieler seinerseits mit einem fp einsetzt. Die beiden Diagonalachsen (Violine 1 und 2 sowie Viola und Violoncello) agieren bei Modus 3 simultan und unabhängig voneinander. Auch in der Anwendung der Variantenzeichen. Sobald allerdings ein Moduszeichen gegeben wird, betrifft das alle vier Spieler. Das Tempo von Modus 3 beträgt (Viertel) ca. 96 MM. Der Wechsel der Dynamik wird durch einen hohen tremolo-Ton mit Fermate initiiert. Die Dynamik wird danach umkehrt ausgeführt, wobei das abschließende Sechzehntel trotzdem sfz auszuführen ist:  In Modus 3 bedeutet "mehrtönig", dass die beiden Diagonalspieler unterschiedliche Tonhöhen verwenden, jedoch ohne diese innerhalb einer Sequenz zu verändern. "Eintönig" bedeutet in Modus 3, daßdie Diagonalspieler gleiche Tonhöhen verwenden, wobei von den Tonhöhen des Spielers, der das Spiel nach einem Variantenzeichen, einem Innenhalten oder einer Pause fortführt, ausgegangen wird. Der andere Spieler mußsich in der Variante "eintönig" (ggf. in Versuch und Irrtum) den Tonhöhen des Zeichengebers anpassen. Bei der weiten Lage/eintönig darf der Cellist nur Tonhöhen bis zum kleinen c wählen.  Modus 3 kann auch pizz. ausgführt werden. In diesem Fall spielen die beiden Diagonalspieler entsprechend der Dauernreihe jeweils
gleichzeitig.


Modus 4 - initiiert durch Violine 2 - entsteht aus dem kreisförmig-rechtsherum Verlauf langgezogener Töne, die sich von Spieler zu Spieler überlappen, sodaßimmer 3 Spieler zugleich spielen. Dabei sollen die Höhepunkte der crescendi deutlich hörbar hervortreten und sukzessive von Spieler zu Spieler wandern. Das Tempo sollte sehr ruhig gehalten sein, die Viertel um ca. 48 MM schwanken. In der weiten Lage/eintönig sind von allen Spielern Oktaven zu spielen. In der engen Lage/eintönig spielen alle Spieler die gleiche Tonhöhe. Die Dynamik kann durch das entsprechende Variationszeichen
verstärkt oder vermindert werden. Der Spieler, der Modus 4 "eintönig" initiiert, darf (aber mußes nicht!) die Tonhöhe verändern. Alle anderen Spieler passen sich ihm entsprechend an. Während bei Modus 4/eintönig alle Spieler gleichnamige Tonhöhen realisieren, bedeutet "mehrtönig" in Modus 4, daßalle Spieler unterschiedliche Doppelgriffe spielen. In der engen Lage/mehrtönig sollen die Tonhöhen ein Klangband bilden, bei dem die nachfolgende Töne in der Regel von einer kleinen Sekunde bis zu einer großen Terz von den Tonhöhen des vorhergehenden Spielers entfernt sein dürfen (auf den Tonhöhen der Tonhöhenskala).


Der Wechsel von Modus zu Modus:
Ein Moduswechsel wird hervorgerufen, indem der Spieler, der den Moduswechsel hervorrufen möchte, das Moduszeichen, das einen anderen Modus aufruft, spielt. Das Moduszeichen kann nur anstelle eines Modusteilchens gesetzt werden und ist, sofern es nicht von allen Spielern wahrgenommen wurde, zu wiederholen. Die Moduszeichen müssen deutlich gegeben werden, damit jeder Spieler sie wahrnehmen kann. Nachdem ein Moduszeichen (evtl.mehrfach) gegeben wurde, beenden die anderen Spieler die bisherige Textur. Wenn alle Spieler die bisherige Textur beendet haben, führt der Zeichengeber das Spiel weiter, bis ein anderer Spieler mittels Modus- oder Variantenzeichengebung die Weiterführung des Spiels übernimmt. Es ist wichtig, den Moduswechsel bewuût zu gestalten, Voraussetzung dazu ist, dass das Reaktionsvermögen in Bezug auf Einordnung und Befolgung der Moduszeichen entsprechen trainiert ist.
 
Ausführungshinweise zu den Moduszeichen des Moduswechsels:
Modus 1:  Sechzehntel auf Tonhöhen der Skala mit kurzer Vorschlagnote von unten
Modus 2:  hoher Triller auf beliebigen Tonhöhen der Skala
Modus 3:  tiefer Triller auf beliebigen Tonhöhen der Skala  
Modus 4:  Sechzehntel auf Tonhöhen der Skala mit kurzer Vorschlagnote von oben
      z.B. ______________    
           ______________    
           ______________    

Sofern dem Moduszeichen nicht ein Variantenzeichen hinzugefügt ist, beginnt jeder Modus in der engen Lage/mehrtönig und mit der speziell angegebenen Dynamik. Das gilt auch, wenn ein Moduszeichen im Verlauf der eigenen Modustextur eingesetzt wird. Wird dem Moduszeichen ein Variantenzeichen hinzugefügt, so soll die damit initierte Variante erklingen.

Modusinterne Variantenbildungen mittels Variationszeichen:
Modusintern können die Modi können durch die nachfolgenden Variationszeichen variiert werden. Derjenige Spieler, der das Variationszeichen spielt, übernimmt zugleich die Weiterführung des Spiels. Die Variationzeichen können auf beliebiger Tonhöhe ausgeführt werden.

a) Lage: flageolett auf beliebiger Tohöhe
Nach der Anwendung des Zeichens a) erfolgt ein Wechsel von enger zu weiter oder von weiter zu enger Lage.
Enge Lage bedeutet, die Tonhöhen der Skala nur in dem eingestrichenen bzw. kleinen Oktavraum zu spielen. Weite Lage bedeutet, die Tonhöhen der Skala beliebig hoch oder tief oktavieren zu können.

b) Dynamik: tremolo
Wird Zeichen b) angewendet, so bedeutet dies, die Dynamik zu wechseln. Der jeweilige Modus wird nach diesem Zeichen in entgegengesetzter Dynamik ausgeführt.

c) Dichte:     
Nach der Anwendung des Zeichens c) wechselt die eintönige zur mehrtönigen bzw. die mehrtönige zur eintönigen Variante des jeweils aktiven Modus'. Mehrtönig bedeutet, von Spieler zu Spieler unterschiedliche Tonhöhen der Skala verwenden; eintönig bedeutet, die gleiche(n) Tonhöhe(n) der Skala verwenden. Die konkreten Ausführungshinweise für diese Varianten finden sich bei der Beschreibung der einzelnen Modi.

d) Spieltechnik: col legno batt.

Sofern sich das durch den Spielverlauf anbietet, können die Modi auch mit pizz., col legno, sul.pont, sul tasto usw. ausgeführt werden. 


Übung als Voraussetzung des Spiels: Die Anwendung, Wahrnehmung und Befolgung der Moduszeichen bedarf einiger Übung. Daher ist es angebracht, zunächst nur dem Spieler,  der für den jeweiligen Modus verantwortlich ist, die Variantengestaltung dieses Modus' zu überlassen. Erst wenn alle Spieler den Umgang mit den Modus- und Variantenzeichen innerhalb ihres Modus so zügig und einwandfrei beherrschen, daßsich eine lineare musikalische Logik des Spiels entwickeln kann, sollte diese Beschränkung aufgehoben werden, sodaß alle Spieler alle Modi mittels der Variantenzeichen mitgestalten können.

Wichtig ist, dass trotz aller spontanen Wendungen, die das Spiel nimmt, jeder Mitspieler den Regeln des Spiels intentioniert und diszipliniert entspricht.

Konzert um den Refrain: Der Wechsel von Modus zu Modus unterliegt keiner festgelegten Abfolge und wird von den Spielern selbst bestimmt. Es ist dabei Bedingung, die nichtlineare Logik der Komposition durch eine lineare musikalische Logik der Interpretation zu ergänzen. Es geht also keinesfalls darum, schnell von Modus zu Modus oder von Variante zu Variante zu wechseln, sondern auf Grundlage des vorgegebenen Materials eine lineare musikalische Logik zu entwickeln, die die musikalischen Möglichkeiten des Materials auf kommunikativem Weg und unter Einbeziehung von Spontanität auslotet.

Zur Strukturierung des Spielverlaufs dient das Rondoprinzip, also das Wechselspiel von Refrain und Couplet. Dabei sollte erst am Ende des Spieles wahrnehmbar werden, ob und welch ein Modus als Refrain gedeutet werden kann. D.h., dass bei Beginn des Spieles nicht klar ist, ob der zuerst erklingende Modus als Refrain oder als Couplet zu deuten ist. Der "Wettstreit" der Spieler um die Erhebung Ihres Modus zum Refrain sollte mit der Entwicklung der linearen musikalischen Logik einhergehen und nicht in Aktionismus ausarten.

Erweiterung: Es ist möglich, VARIATIONEN 1 durch "antiphon solo 1" und "antiphon solo 2" oder "circulum" zu erweitern.

Dauer: Die Dauer des Spiels ist nicht festgelegt. Zeit bildet hier den Raum zur Entfaltung des Spiels und seiner musikalischen Logik. Wenn das Spiel erlahmt oder sich nicht zu einer linearen musikalischen Logik findet, so ist es alsbald zu beenden.

Der Beginn des Spieles: Welcher Spieler mit welchem Modus das Spiel beginnt, kann durch Würfelwurf entschieden werden.

Das Ende des Spieles: Das Spiels wird mittels einer von allen Spielern simultan zu realisierenden Schlußformel beendet. Diese Schlußformel kann sich bis zu einer Minute ausdehnen, kann aber auch relativ kurzgehalten werden.

Schlußformel:   non unisono, ca. 60 MM  poco a poco cresc  -   poco a poco decresc.

(Johannes Wallmann 1986/96)        

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