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INTEGRAL ART FESTSPIELE - Zyklus J6

 
 

musik als raum 

CD mit Kammermusik-Kompositionen von H. Johannes Wallmann - Aufnahmen von Deutschlandfunk (Deutschlandradio), WDR, HR, RBB (SFB), SR, MDR
Link zu dieser CD (bitte hier anklicken)

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Einführung von Volker Straebel zur CD-Präsentation : musik als raum : von H. Johannes Wallmann / 24. Februar 2001 im Postfuhramt Berlin

"Über den Raum als musikästhetisches Phänomen nachzudenken ist ein weniger abwegiges Unternehmen, als es zunächst scheinen mag. Vor allem nicht, wenn dies im Zusammenhang mit der Arbeit von Johannes Wallmann geschieht, dessen Kompositionen und Klangkunst-Projekte den Raum mit seinen musikalischen Implikationen in besonderer Weise thematisieren. Dass dieser Raum nicht immer ein akustischer sein muss, möchte ich aufzuzeigen versuchen.

In seiner Phänomenologie der Wahrnehmung beschreibt Maurice Merleau-Ponty den Raum als Verstandesleistung des wahrnehmenden Subjektes: "Der Raum ist kein (wirkliches oder logisches) Milieu, in welches Dinge sich einordnen, sondern das Mittel, durch welches eine Stellung der Dinge erst möglich wird. [...] Mithin, entweder ich reflektiere nicht, gehe auf in den Dingen und betrachte den Raum in unbestimmter Weise bald als das Milieu der Dinge, bald als ihr gemeinsames Attribut, oder aber ich reflektiere, erfasse den Raum in seinem Ursprung, denke aktuell die diesem Wort zugrunde liegenden Verhältnisse und bemerke alsdann, dass diese nur leben aus einem sie beschreibenden und tragenden Subjekt und gehe so vom verräumlichten auf den verräumlichenden Raum zurück."* Der Betrachter konstituiert also erst den Raum, der nicht an sich selbst ist, um die eigene Wahrnehmung zu strukturieren. Diese Konstruktion des Raumes vollzieht sich auf verschiedenen Ebenen. Sie geht aus von den Sinneseindrücken von Auge und Ohr, die auf Grund gelernter und kulturell vermittelter Erfahrung interpretiert werden.

Wenn nun der Raum gar nicht ist, sondern erst im Rezipienten wird, dann muss er auch nicht als bloße Voraussetzung und Hülle musikalischer Aufführung, sondern kann als Gegenstand kompositorischer Arbeit verstanden werden. Eben darauf zielt Johannes Wallmann, wenn er seine jüngste CD "musik als raum" betitelt.  Dass der Aspekt des Raumes auch in solchen Stücken Wallmanns zentrale Bedeutung hat, die eben keine expliziten Raum-Musiken sind, mag überraschen, wer den Komponisten einzig von seinen spektakulären Groß-Projekten her kennt. Im Glocken Requiem Dresden verwandelte Wallmann 1995 den gesamten Stadtraum Dresdens in den Klangraum einer minutiös kalkulierten Partitur und Innenklang – Musik im Raum für vier Orchestergruppen und Soprane erwies sich 1997 als mimetische Reaktion auf die akustischen Gegebenheiten des Berliner Doms. Ähnlich manchen Installationen der Bildenden Kunst dürfen diese Kompositionen als site-specific gelten, da sie die akustischen Charakteristika ihrer Aufführungsorte in die musikalische Faktur hinübernehmen und die Raumerfahrung des Hörers en detail komponieren. Obgleich sie von ihrer individuellen akustischen Architektur nicht abzulösen sind, verdoppeln solche Musiken im Raum diese nicht, sondern sie verstehen den Wahrnehmungsraum des Hörers als Gegenstand künstlerischer Gestaltung.

Darin treffen sie sich mit den Musiken als Raum. Wenn diese auch nicht durch die entfernte Aufstellung der Musiker von sich selbst aus im Sinne Merleau-Pontys einen "verräumlichten Raum" etablieren, so entfalten sie in ihrer Anlage einen Wahrnehmungsgegenstand, der den Rezipienten zur eigenen Leistung der "Verräumlichung" führt. Der 1978 bis 1988 entstandene, vierteilige Moderabel-Zyklus ist hierfür ein Beispiel. Die Quartette, deren konkrete Besetzung Wallmann variabel ließ, folgen satztechnischen Modellen, die sich nur in räumlichen Metaphern beschreiben lassen. Umkehrungen und Spiegelungen von einzelnen Motiven oder ganzen Phrasen sind solche Zusammenhang stiftende Verfahren, die in der kognitiven Repräsentation des Hörers zur Verräumlichung des Akustischen führen. Beschleunigung und Verlangsamung sind ebenso wie Rückwärtsspielen nur auf den ersten Blick explizit zeitliche Formen der Variation. Sie können auch als Veränderungen einzelner Dimensionen eines abstrakt mehrdimensionalen musikalischen Raumes gelten. Als solche versteht sie Wallmann, wenn er sie dem seriellen Denken entwachsenen Permutationen unterwirft. Wir finden uns wieder mit einem musikalischen Raum konfrontiert, der nicht an sich selbst ist, sondern seine Existenz der "verräumlichenden" Verstandesleistung des wahrnehmenden Subjekts verdankt.

Wir werden heute die Alea-Musik Gleich den Vögeln für vier Sopran-Saxophone hören, ein Stück, das Johannes Wallmann 1986 entworfen und bis 2000 immer wieder überarbeitet hat. Hier verbinden sich Musik im Raum auf der Ebene des akustischen Realraums und Musik als Raum auf der Ebene des musikalischen Materials in schlüssiger Weise.
Die Partitur stellt den Instrumentalisten vier Texturen bereit, jede für sich ein Vorrat aus knappen Motivsplittern, die jeder Musiker für sich in beliebiger Reihenfolge spielt. Die Einzelmotive einer Textur sind einander in rhythmischer und intervallischer Struktur ähnlich. Darüber hinaus sind sie durch Spiegelungen und Umkehrungen einander eng verwandt. Dass Wallmann in freier Anknüpfung an serielles Denken in Gleich den Vögeln den Intervallen charakteristische rhythmische Modi zuordnete, sei nur am Rande erwähnt. Durch diese Konstruktion des Materials entfaltet sich auch beim vierstimmigen, zeitlich unkoordinierten Spiel der Eindruck eines homogenen musikalischen Feldes.

Die Instrumentalisten spielen stets Material aus der gleichen Textur, doch wechseln sie die Texturen von Zeit zu Zeit in frei empfundener, improvisatorischer Manier. Dazwischen steht – einem Ronda ähnlich – ein wiederkehrendes Ritornell. Alle Wechsel werden von wiederholten Signal-Tönen angekündigt.
Die vier Texturen, die den vier, durch je einen Instrumentalisten repräsentierten Himmelrichtungen zugeordnet sind, werden zwar in kombinatorischer Improvisation von allen Musikern gespielt, doch ist es stets einer, der die Textur einer Himmelsrichtung einleitet und im Folgenden dominiert. Dass diese Zuordnung durch die Raumverteilung betont wird, erleichtert dem Hörer, die in den kleinen Motiv-Splittern angelegte tonsatzliche Verbindungen aktiv zu verräumlichen. So entfaltet Johannes Wallmann nicht nur die Muli-Dimensionalität eines musikalischen Raumes, sondern die Multi-Spatialität einer Mehrzahl von Hörräumen. Verlockende Herausforderung an Hörer wie Theoretiker."

(Volker Straebel, Professor an der UdK Berlin)

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